Ein Versuch
Beispiele der Deutung
1) Anthroposophisch (Zitat:)
Man lege ein kleines Samenkorn einer Pflanze vor sich hin. Es kommt darauf an, sich vor diesem unscheinbaren Ding die rechten Gedanken intensiv zu machen und durch diese Gedanken gewisse Gefühle zu entwickeln. Zuerst mache man sich klar, was man wirklich mit Augen sieht. Man beschreibe für sich Form, Farbe und alle sonstigen Eigenschaften des Samens. Dann überlege man folgendes. Aus diesem Samenkorn wird eine vielgestaltige Pflanze entstehen, wenn es in die Erde gepflanzt wird. Man vergegenwärtige sich diese Pflanze. Man baue sie sich in der Phantasie auf. Und dann denke man: Was ich mir jetzt in meiner Phantasie vorstelle, das werden die Kräfte der Erde und des Lichtes später wirklich aus dem Samenkorn hervorlocken. Wenn ich ein künstlich geformtes Ding vor mir hätte, das ganz täuschend dem Samenkorn nachgeahmt wäre, so daß es meine Augen nicht von einem wahren unterscheiden könnten, so würde keine Kraft der Erde und des Lichtes aus diesem eine Pflanze hervorlocken. Wer sich diesen Gedanken ganz klar macht, wer ihn innerlich erlebt, der wird sich auch den folgenden mit dem richtigen Gefühle bilden können. Er wird sich sagen: in dem Samenkorn ruht schon auf verborgene Art – als Kraft der ganzen Pflanze – das, was später aus ihm herauswächst. In der künstlichen Nachahmung ruht diese Kraft nicht. Und doch sind für meine Augen beide gleich. In dem wirklichen Samenkorn ist also etwas unsichtbar enthalten, was in der Nachahmung nicht ist. Auf dieses Unsichtbare lenke man nun Gefühl und Gedanken. [Wer da einwenden wollte, daß bei einer genaueren mikroskopischen Untersuchung sich ja doch die Nachahmung von dem wirklichen Samenkorn unterscheide, der zeigte nur, daß er nicht erfaßt hat, worauf es ankommt. Es handelt sich nicht darum, was man genau wirklich in sinnenfälliger Weise vor sich hat, sondern darum, daß man daran seelisch-geistige Kräfte entwickle.] Man stelle sich vor: dieses Unsichtbare wird sich später in die sichtbare Pflanze verwandeln, die ich in Gestalt und Farbe vor mir haben werde. Man hänge dem Gedanken nach: das Unsichtbare wird sichtbar werden. Könnte ich nicht denken, so könnte sich mir auch nicht schon jetzt ankündigen, was erst später sichtbar werden wird.
Besonders deutlich sei es betont: Was man da denkt, muß man auch intensiv fühlen. Man muß in Ruhe, ohne alle störenden Beimischungen anderer Gedanken, den einen oben angedeuteten in sich erleben. Und man muß sich Zeit lassen, so daß sich der Gedanke und das Gefühl, die sich an ihn knüpfen, gleichsam in die Seele einbohren. – Bringt man das in der rechten Weise zustande, dann wird man nach einiger Zeit – vielleicht erst nach vielen Versuchen – eine Kraft in sich verspüren. Und diese Kraft wird eine neue Anschauung erschaffen. Das Samenkorn wird wie in einer kleinen Lichtwolke eingeschlossen erscheinen. Es wird auf sinnlich–geistige Weise als eine Art Flamme empfunden werden. Gegenüber der Mitte dieser Flamme empfindet man so, wie man beim Eindruck der Farbe Lila empfindet; gegenüber dem Rande, wie man der Farbe Bläulich gegenüber empfindet. – Da erscheint das, was man vorher nicht gesehen hat und was die Kraft des Gedankens und der Gefühle geschaffen hat, die man in sich erregt hat. Was sinnlich unsichtbar war, die Pflanze, die erst später sichtbar werden wird, das offenbart sich da auf geistig sichtbare Art.
Quelle hier Rudolf Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, Gesamtausgabe Bd. 10 (1904/05), Kapitel Kontrolle der Gedanken und Gefühle / Rudolf-Steiner-Verlag Dornach/Schweiz
2) Marxistisch (Zitat:)
Nehmen wir ein Gerstenkorn. Billionen solcher Gerstenkörner werden vermählen, verkocht und verbraut, und dann verzehrt. Aber findet solch ein Gerstenkorn die für es normalen Bedingungen vor, fällt es auf günstigen Boden, so geht unter dem Einfluß der Wärme und der Feuchtigkeit eine eigne Veränderung mit ihm vor, es keimt; das Korn vergeht als solches, wird negiert, an seine Stelle tritt die aus ihm entstandne Pflanze, die Negation des Korns. Aber was ist der normale Lebenslauf dieser Pflanze? Sie wächst, blüht, wird befruchtet und produziert schließlich wieder Gerstenkörner, und sobald diese gereift, stirbt der Halm ab, wird seinerseits negiert. Als Resultat dieser Negation der Negation haben wir wieder das anfängliche Gerstenkorn, aber nicht einfach, sondern in zehn-, zwanzig-, dreißigfacher Anzahl. Getreidearten verändern sich äußerst langsam, und so bleibt sich die Gerste von heute ziemlich gleich mit der von vor hundert Jahren. Nehmen wir aber eine bildsame Zierpflanze, z. B. eine Dahlia oder Orchidee; behandeln wir den Samen und die aus ihm entstehende Pflanze nach der Kunst des Gärtners, so erhalten wir als Ergebnis dieser Negation der Negation nicht nur mehr Samen, sondern auch qualitativ verbesserten Samen, der schönere Blumen erzeugt, und jede Wiederholung dieses Prozesses, jede neue Negation der Negation steigert diese Vervollkommnung. – Ähnlich wie beim Gerstenkorn vollzieht sich dieser Prozeß bei den meisten Insekten, z. B. Schmetterlingen. Sie ent-stehn aus dem Ei durch Negation des Ei’s, machen ihre Verwandlungen durch bis zur Geschlechtsreife, begatten sich und werden wieder negiert, indem sie sterben, sobald der Gattungsprozeß vollendet und das Weibchen seine zahlreichen Eier gelegt hat. Daß bei andern Pflanzen und Tieren der Vorgang nicht in dieser Einfachheit sich erledigt, daß sie nicht nur einmal, sondern mehrmal Samen, Eier oder Junge produzieren, ehe sie absterben, geht uns hier noch nichts an; wir haben hier nur nachzuweisen, daß die Negation der Negation in den beiden Reichen der organischen Welt wirklich vorkommt.
Quelle hier (Marx/Engels 20, 126f) Der Text wurde entnommen aus: Manfred Buhr, Georg Klaus Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S.775ff
3) Biologisch
siehe Wikipedia unter Same und unter Keim(ung)
Den folgenden Film (ohne Ton) – mit Geduld anschauen!
Wie kam ich zu diesem Thema? Ich erinnerte mich bei der Lektüre des Hegel-Buchs von Vieweg und nach verschiedenen youtube-Videos über Dialektik an eine Steiner-Lektüre Anfang der 60er Jahre und daran, dass mich diese Samenkorn-Passage beeindruckt hat („hat er das von Goethe?“). Später eine Diskussion mit Freund Henning Bützow über eine Stelle bei Adolf Portmann: Regenwurm, der nach Abtrennung des Kopfes, alle Körperteile incl. des Gehirns (?) neu bildet – wie ist das möglich? Für ihn (als Mediziner!) war das aber ein eindeutig aus Genetik erklärbarer Vorgang, in jeder Zelle steckt die gesamte Information. Für mich ein ähnlicher Schock wie bei dem Hobom-Buch betr. organisches Denken (gegen molekulares) hier.
Es war kein Regenwurm. Das Buch, Geschenk meiner Mutter (?) vom 24. XII.1963, ist immer noch greifbar, Adolf Portmann: Neue Wege der Biologie / Deutsche Buch-Gemeinschaft Berlin Darmstadt Wien 1962 / Es ging um das Kapitel „Innerlichkeit“, für mich damals sensationell, – und dann, nach 20 oder 30 Jahren: nichts mehr wert?
Missverständnis, – durchaus noch was wert: Siehe bei Wikipedia hier, insbesondere auch zur Innerlichkeit, Zitat:
Portmanns Überlegungen auf diesem Gebiet haben unter anderem Hannah Arendt beeinflusst. Sie empfand die Kritik Portmanns an der Vorstellung, man müsse die Oberfläche eines Lebewesens nicht unbedingt auf etwas anderes, tiefer Liegendes zurückführen, sondern könne von einem Wert der Oberfläche ausgehen, als außerordentlich fruchtbar. Sie war der Auffassung, dass diese Kritik sich auch auf den Funktionalismus beziehen lasse.
Ergänzung am 21. Juni 2020
Das folgende Zitat aus dem Buch „Sinnenleben“ von Emanuele Coccia (siehe u.a. hier) erschließt sich nicht von selbst, führt aber an dieser Stelle zu sinnvollen Assoziationen, zumal Coccia in diesem Zusammenhang ebenfalls auf Portmann eingeht.
ZITAT (Emanuele Coccia)
Der Traum ist in der Kultur, was der Same in der Natur ist. Das Bild ist, wie gesagt, eine Form, die übertragbar und absolut anverwandelbar ist, und sich etwas vorstellen, bedeutet immer, etwas weiterzugeben. Deshalb muss Reproduktion sub specie imaginis stattfinden. Nur an dem Ort, an dem ein Leben zum Bild wird, kann es sich überlieferbar machen. Die Reproduktion ist eine körperliche Vorstellung. Ein Same ist die Schwelle, auf der die Bilder das Leben selbst des Lebendigen und nicht nur einen seiner Modi oder einen Ausschnitt seiner Welt weitergeben. Der Same ist ein Bild, das leben kann und Leben schenkt, und er ist ein Leben, dem nichts anderes als das Wesen eines Bildes zu eigen ist. Denn im Samen ist ein Körper nichts anderes als ein reines Bild, und das Wesen des Bildes besteht einzig darin, die Form des Körpers zu sein. Die gesamte Reflexion des Abendlandes zum Samen, angefangen mit der Theorie der Vernunft (logoi spermatikoi) der Antike bis hin zur modernen Genetik, ist eine Reflexion über die Modi und Formen dieser sonderbaren Koinzidenz. Denn was bedeutet es, sich zu reproduzieren? Reproduktion ist die Konstituierung eines Individuums durch ein Bild desjenigen, der es erzeugt hat. Das ist keine einfache Vervielfältigung, sondern erfolgt vielmehr spontan durch ein Bild, oder genauer: durch einen Körper, der nur aus Bild-sein, aus der Spezies des Individuums besteht. Die Reproduktion ist die dem Bild eigentümliche Fruchtbarkeit.
Was wir heute Vorstellungskraft oder Imagination nennen, ist vielleicht nur eine schwächere, abgeleitete Form jenes transzendentalen Vermögens der Bilder, das wir bei jeder Zeugung am Werk sehen. Jeder Same ist ein Same der Seele, der Modus, in dem die Seele sich außerhalb ihrer selbst reproduziert.
Quelle Emanuele Coccia: Sinnenleben Eine Philosophie / Edition Akzente Hanser München 2020 (Seite 108f) ISBN 978-3-446-26572-1
In diesem Moment schossen mir Erinnerungen der 90er Jahre durch den Kopf, die bewirkten, dass ich weiter der Fährte des Philosophen Coccia folgen werde, auch wenn mir vieles noch dunkel scheint. Die wichtigsten Fragen werden bereits bei Thomas Metzinger behandelt (Bewußtsein 1995), und in diesem Buch findet sich der SZ-Zeitungsausschnitt, der das von Coccia ausgearbeitete Spiegel-Prinzip bebildert.
Süddeutsche Zeitung 5. August 2003 Artikel von Markus Schulte von Drach
Auf derselben Seite ein Interview mit Thomas Metzinger (Hubertus Breuer) zum Thema „Das Ich ist eine Illusion“ mit dem hervorgehobenen Zitat:
„Wir halten unser Ich für real. Doch es ist nur ein Bild von uns selbst, das wir nicht als Bild erkennen.“