Wer erinnert sich noch an ihn im WDR? Wo finde ich eine Gedenksendung für den ideenreichsten Musikchef, der je fürs Kölner Radio gearbeitet hat? Der u.a. dafür gesorgt hat, dass der WDR zum größten und vielseitigsten Musikveranstalter in NRW geworden ist?
Für Hans Martin Müller, der seinerzeit als Solo-Flötist viele Jahre im WDR Sinfonieorchester gewirkt hat, bleibt er unvergessen, und er hat jetzt dafür gesorgt, dass der 22. Oktober 1924 als besonderer Tag ins Bewusstsein vieler Menschen rückt, die kaum bemerkt haben, dass im Radio-Programm und Im Konzertleben fast alle seine Spuren verwischt sind. Eine der bemerkenswertesten – pars pro toto – hinterließ die Reihe „Nachtmusik im WDR“, die Krings 1972 gründete: jahrzehntelang sorgte sie live für Sternstunden mit einer global ausgerichteten Auswahl.
Krings (ganz links) nach einer der Veranstaltungen „Alte Liturgien in Romanischen Kirchen Kölns“ (Foto WDR)
Die letzte, ganz kurze Info ist die einzige Spur seines Lebens, die sich im angeblich allumfassenden Internet leicht finden ließ. Dazu eine Auflistung aller Schallplatten, für die er verantwortlich zeichnete: hier. Ab 1960 bis 1987 bzw. indirekt weiter bis 1999, nach seinem Tode.
Von der schwierigen WDR-Wende der 60er Jahre in der Praxis Alter Musik berichtet die Chronik „50 Jahre Alte Musik“:
Quelle Thomas Synofzik: Collegium musicum und Collegium aureum /oder: Vom Rundfunk zur Schallplatte / Aus: 50 Jahre Alte Musik im WDR 1954-2004 / im Concerto Verlag mit dem Westdeutschen Rundfunk
Völlig neue Horizonte in der Weltmusik öffnete Krings 1969 mit seinem programmatischen Blick auf die Zukunft der Volksmusik, wenngleich es noch etwas vorsichtig anklang: „Durch die Zusammenarbeit mit dem Kölner Institut für vergleichende Musikwissenschaft ergaben sich verschiedene Anregungen mit Musik aus aller Welt.“ WDR-Aufnahmereisen u.a. nach Korea, Bali, Indien und Afghanistan (1974) setzten bald Maßstäbe. Krings gab der Musikethnologie eine Stimme, Marius Schneider und Josef Kuckertz traten durch Radiosendungen an die breite Öffentlichkeit.
Quelle Zwanzig Jahre Musik im Westdeutschen Rundfunk / Eine Dokumentation der Hauptabteilung Musik 1958-1968 / WDR Köln
Man kann es kaum glauben: die innersten Seiten des Feuilletons, das Kernstück der ganzen ZEIT, ist der klassischen Musik gewidmet, und man beginnt zu hoffen, dass es nicht nur dem Nationalfeiertag geschuldet ist. Gewiss, manches zielt auch auf das Gedenken des 7. Oktobers, eine Warnung vor dem Anwachsen des Antisemitismus. Zu recht, aber das ist ein anderes Thema.
Und was Navid Kermani zur Musik notiert, lohnt sich immer zu reflektieren. Obwohl es vorsichtiger geschieht, als es früher in aller Munde war, etwa: dass Musik eine Sprache sei, die alle Menschen verstehen. Er weiß, dass Musik wie jede Sprache gelernt werden muss. Und hebt vor allem die Orte hervor, an denen sie Menschen zum Zuhören versammelt.
DIE ZEIT S.54 vormerken: der Autor wird Daniil Trifonov mit Mozart KV 503 (am 2.9.24) hören, wir heute auch, allerdings in einer Aufnahme aus dem Jahre 2021.
Quelle DIE ZEIT Feuilleton „Die Kraft der klassischen Musik“ mit Navid Kermani und Simon Rattle, 2. Oktober 2024, Seite 54 und 55.
Dem abschließenden Satz von Mendelssohn Bartholdy darf vielleicht an dieser Stelle ein ähnlich berühmter von Victor Hugo folgen, den man leicht verwechselt:
Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.
in Feiertagspracht!
Die Mittelseiten des ZEIT-Feuilletons also, wohl im Blick auf den Feiertag, einerseits: Achtung Klassik! andererseits: keine Angst! links Navid Kermani, die andere Hälfte Simon Rattle im Interview. Und auch er begründet die Notwendigkeit der klassischen Musik FÜR ALLE in der heutigen Welt und zwar verblüffend einfach, – wenn er gefragt wird, wie es gelingen könnte, sie aus dem Elfenbeinturm herauszuholen, in dem sie für viele Menschen zu stecken scheint: „Türen auf! Fenster auf! Die Leute sollen sich willkommen fühlen und ihren eigenen Umgang mit der Musik finden dürfen.“
Sagen Sie es allen, die es gebrauchen können: das große, gute Gefühl genügt! Einstweilen. Es bleibt immer noch viel Raum nach oben und unten und auch seitlich, ohne dass man sich darauf etwas einbilden kann. Irgendwann will man einfach noch mehr wissen, sogar alles, was es da zu wissen gibt, und zugleich wächst das Gefühl für diese Dinge und für die angemessene Sprache. Und mit Recht stellt Rattle ein Wort in den Raum, vor dem sich mancheiner scheut: POESIE. Gemeint ist eine andere Realität, nicht die fleißige Buchhalterei. Ich weise immer mit Vorbehalt auf Wissensquellen hin, wie im folgenden Mozart-Link: machen Sie was Eigenes draus, wenn sie wollen, es muss nur das Hören bereichern, nicht den Smalltalk vor oder nach dem Konzert.
Eine ketzerische Frage: Was kann man tun, um solche C-dur-Werke Mozarts nicht zu unterschätzen?
Ich erinnere mich, dass ich in meiner frühen Zeit als Klavierspieler bei Mozart Beethovensche Maßstäbe anlegte und nur eine Subjektivität dieser Art positiv einschätzte, nie den „harmlosen“, kindlichen Mozart (sozusagen meinen Mentalitätsgenossen) anerkannte. Dennoch die „Facile“-Sonate trotz des C-dur-Charakters gelten ließ, das Andante als absolut expressiv empfand, natürlich – rückwirkend – nur dank der Wendung nach g-moll im Mittelteil, den Schlusssatz aber nicht mehr übenswert fand. Diese Rangfolge der Mozart-Charaktere blieb für mich fast meine ganze Schülerzeit lang verbindlich, – mit allmählichem Vorstoß zu Rachmaninow (und Wagner) als Höhepunkt der Ausdrucksgeschichte. Eine kindliche Geschichte, man muss sie nicht vertiefen. Aber letztlich ist sie schwer zu überwinden, weil das ganze (wichtige) 19. Jahrhundert sie zementieren hilft. Es motiviert aber auch, sie in ihrer schon von Mozart vorgegebenen Haltung zu erfassen, wie ich später durch Dibelius‘ „Mozart-Aspekte“ lernte, – anhand der Klavierkonzerte.
Quelle Ulrich Dibelius: Mozart-Aspekte / Bärenreiter dtv München 1973 ISBN 3-423-00802-4
Mit Hilfe dieser Rückblende kann man das vorliegende Konzert künstlich problematisieren; ich tue es, um meine scheinbar naive Beurteilung von einst quasi ernstzunehmen, indem ich sage: aha, der C-dur-Mozart, er will mich mit Lebensfreude einfangen (während ich lieber den von Leid gezeichneten Pathetiker erwartete). Welchen Erwartungen aber versuchte er selbst damals zu begegnen, – wenn überhaupt er sich herabließ, diese zu kalkulieren?
Was ich Mitte der 70er Jahre von Dibelius gelernt habe, konnte ich 30 Jahre später ihm selber berichten, im Urlaub auf La Palma. Eine angenehme Begegnung…
Ulrich Dibelius & JR 2005 (Foto E.Reichow)
Folgen wir doch einmal der Beschreibung des Mozart-Werkes in Wikipedia, aber mit der Tendenz, vor allem die thematische und motivische Abwandlung zu identifizieren (dazu jeden Orgelpunkt, der einem leicht entgeht, aber durchaus als bedeutsames Zeichen gilt) :
Das eröffnende Allegro ist der längste Konzertsatz in Mozarts Schaffen. Die ausführliche Exposition beginnt (11:11) mit einigen feierlichen Akkorden des ganzen Orchesters. Das Hauptthema entwickelt sich in der Folge auch über eine Wendung nach Moll. Eine Überleitung, in der sich Trompeten und Pauke feierlich äußern, führt zum zweiten Thema (12:50), das zunächst in Moll erscheint, sich dann jedoch nach Dur wendet – die Dur-Variante hat eine sehr entfernte Verwandtschaft mit dem Kopfmotiv der später entstandenen Marseillaise.[1] Die Soloexposition beginnt relativ unscheinbar, mit einem unthematischen Entrée des Pianisten. (14:08) Zudem ist der Zeitpunkt, zu dem sie beginnt, verglichen mit anderen Mozartschen Klavierkonzerten recht ungewöhnlich. Das Orchester schließt in einem kraftvollen forte-Akkord ab und das Klavier wird erwartet. Jedoch überraschen die Streichinstrumente mit einer Art kurzen Überleitung in piano. Es folgt die Einstimmung des Klaviers in das feierliche Hauptthema des Satzes (14:50), das anschließend erweitert wird. Modulationen über Es-Dur, g-Moll und G-Dur führen zum gesanglichen und friedlichen dritten Thema des Satzes (15:56), welches durch das Soloklavier eingeführt wird. Erst nach 228 Takten endet die ausgedehnte Exposition. (18:29) Es schließt sich eine verhältnismäßig kurze Durchführung an, die das Marseillaise-Thema bevorzugt. Es kommt hier zu einer ausgefeilten polyphonen Verdichtung des Gedankens. Ein achttaktiger Orgelpunkt führt zur Reprise, (20:25) die größtenteils regelgerecht verläuft. Jedoch nimmt die Modulation zum dritten Thema weitschweifendere Wege über entlegene Tonarten wie es-Moll und Ces-Dur. Die großangelegte Solokadenz(24:13 von Trifonov) erarbeitet Motive aller Themen und wendet sie ebenfalls häufig nach Moll. Ein kurzes Schlussritornell (25:40) beendet den Satz mit majestätischen Akkorden. (26:17)
Mit den Noten in der Hand kann man noch mehr ins Detail gehen:
Quelle Marius Flothuis: Mozarts Klavierkonzerte / Ein musikalischer Werkführer / Beck’sche Reihe C.H.Beck München 1998 / Seite 134
Mit einiger Übung kann man – aufmerksam die Musik hörend – nebenher dem analytischen Text folgen, – ohne wie in dem obigen Überblick bei einer bestimmten Stelle über Gebühr innezuhalten (T.208-210 „Mittelgedanken“!), der Grund: es gibt dazu eine Mozart-Skizze. Sonst geht es Ihnen wie mir und es ist allzu schnell vorbei!!! Mit der Formulierung „siebentöniges Motiv zweimal wiederholt“ meint Flothuis offenbar die chromatischen Achtelketten im Klavier „fis-g-gis-a-b-h-c“ vor dem langen Triller auf a, der Ende des 1.Systems beginnt :
17:46
17:58
Wie angedeutet: man muss dieses Detail nicht identifizieren, insofern provoziert es in der Flothuis-Analyse zuviel Worte. Es war für mich nur eine Sache des Ehrgeizes… (nochmal in 23:38 vor Kadenz!)
Nebenbei: die Bezeichnung Marseillaise-Thema, die kaum wieder zu löschen ist, hat keinen Wert, zumal der Auftakt nicht punktiert ist und der Sprung in die hohe Oktave (zum Glück) fehlt. Man wird jedes Thema leicht als unverwechselbares Individuum wahrnehmen, auch wenn ein Auftakt-Motiv sich in wundersamsten Modulationen verselbständigt, gerade dann! Dieses Gespinst aus Themen wird sich als wahres Wunderwerk einprägen. Niemals wieder wird meine flüchtige Erinnerung diesen Satz auf seine C-dur-Fanfare reduzieren.
* * *
2. Satz Andante ab 26:26 bis 34:36 3. Satz Allegretto ab 34:38 bis 43:22
Ein ähnlicher Störfaktor Im dritten Satz: wiederum Gelesenes, Gelerntes, das ich hier nicht mehr ausbreiten kann, verschiedene Mozart-Lektüren, aufgerührt durch das Kopfthema, das die alten Vorurteile unvermindert lebhaft reproduziert: irgendwie „läppisch“ wie im Finale der „Facile“-Sonate, – und es muss doch mehr dahinterstecken, – dies als Ziel eines großen, eines wirklich großen Konzertes? Aber ich erinnere mich an die Begeisterung über ein anders Buch, das mich – wie ich glaubte – derart überzeugend ein neues Hören lehrte, dass ich es gleich noch zweimal verschenkte. Ohne großes Echo. Jedoch Anlass genug, dem Erlebnis noch einmal nachzugehen, aber in einem separaten Blogartikel, den ich an dieser Stelle verlinken will. Vorweg nur das Zitat von Haydns Traum (ja, er träumte von Mozarts Musik!).
Autor: Lorenz Lütteken. Aufs neue bringt es mich zum Nachdenken – der Traumzustand -, wird uns nicht bewusst durch eine Zäsur, seltsamerweise beim Einsatz des Solo-Klaviers im ersten Satz (zwischen 14:08 und 14:49)? Als ein „Weckruf“, der nicht uns weckt, sondern den Stellenwert der Wirklichkeit im Konzert verändert. Ohnehin dank der Tatsache, dass sie auf einer Bühne dargeboten wird, jetzt aber auch als Medienwirklichkeit: die Bühne als Bühne auf dem Bildschirm. Nur die Erinnerung an andere, wechselnde, öffentliche Konzerte bewirkt, dass man sich die jeweilige Musik auch als separat existierende (wartende) Botschaft vorstellen kann. Und zwar in einer Form wechselnder seelischer Bewegungen, die schneller wechseln dürfen, als es dem möglichen Ablauf von Gefühlen in der Wirklichkeit entspricht. Wir reagieren nicht ablehnend, weil wir sie als Erinnerungsbilder erkennen, sie können in beliebig schneller Folge aufgerufen bzw. angeboten werden, auch wiederholt, retardiert und beschleunigt werden. Wir haben eine Distanz, die dies zu genießen erlaubt, und zwar gemeinsam mit anderen Menschen, einem Publikum, welches im modernen Medium die offensichtliche Illusion in einer versteckten Dimension ergänzt. Das Publikum: WIR. (Vielleicht auch projiziert auf das damalige WIR?)
Es wäre müßig zu fragen, ob ein Subjekt zu uns spricht, monologisch, oder ob es (=der Komponist) eine Anzahl von Personen sprechen lässt, wie man von Mozart sagt, der sich auch in einem Klavierkonzert die „Realität“ einer Bühne vorstellte, Menschen oder Gruppen von Menschen, – 1 Klavier, Streicher, Blechbläser, Holzbläser, die miteinander interagieren. Wohlgemerkt mit Momenten der Besinnung, der Innerlichkeit, die wir fälschlich allein dem kreativen Urheber zuordnen.
So, wie wir bei Bach problematisieren wollen, ob er selbst leidet wie Petrus (?) in der „Erbarme Dich“-Arie, oder wie im Mittelteil des „Es ist vollbracht“-Lamentos jederzeit selbst in die Rolle des siegreichen „Held von Juda“ schlüpfen kann. Dessen Kampf-Gestus ihm aber ebenso für den Grund-Charakter des Fünften Brandenburgischen zu Gebote steht. Horcht er etwa in das eigene Innere oder greift er in die Palette der allenthalben herausgebildeten Affektenlehre? Oder kann er etwa – beides, und noch viel mehr?
Gehen Sie doch probeweise in den Schluss des Mozartschen Mittelsatzes (um 34:30), um dessen Ruhe noch zu spüren, und weiter in den 3. Satz , hüten Sie sich, dabei die Kurzatmigkeit des Finalethemas zu monieren. Achten Sie auf den Wechsel der Instrumentengruppen, wie sie aufeinander reagieren, wann sich das Klavier zum erstenmal auf das kurzatmige Haupt(?)thema einlässt, und fragen Sie sich schließlich, was zwischen 38:00 und 40:00 geschieht: in welcher Sphäre befinden Sie sich, wann beginnen Sie zum Augenblick zu sagen „Verweile doch, du bist so schön!“, und es dehnt sich so wunderbar, der Holzbläserklang trägt das Klavier – und uns ebenso – bis….? Ja, bis wir aufatmen bei der Wiedererscheinung des Themas und weiter bis zum Schluss eingebunden bleiben.
Bedauern Sie, dass Ihnen jede detaillierte Formübersicht für diesen Satz versagt bleibt? Wissen Sie WARUM? Weil Sie wirklich zuhören. Oh, wenn Sie das Simon Rattle erzählen könnten! Und Navid Kermani! Aber vielleicht brauchte er nur Mendelssohn-Ausspruch zu variieren, etwa derart, dass Sie diese Musik lieben, weil sie ihren musikalischen Gedankengängen genauer denn je folgen konnten, – als hätten Sie eine szenische Bühnendarstellung erlebt, die sich von selbst versteht.
Ach Mozart. Ich bereue. Nicht erlahmen, und zurück ans Klavier! Allein, ohne Zeugen.
Es ist eine alte Geschichte, aber ich werde nicht müde, sie immer mal wiederzubeleben. Die Furcht Gottes treibt mich, würde ich – mit einiger Übertreibung – behaupten, und das hat eine gewisse Komik, für Sie jedenfalls, wenn Sie einen früheren Artikel lesen, für mich nicht; kindliche Ängste haben nichts Lächerliches aus der Sicht des Kindes.
Blick auf das rekonstruierte Ur-Haus meines Großvaters, hinter den Feldern des alten „Schorm“ (wie einst), sein Hof an der „Steinkuhle“ (von weitem wie ehedem, als er 90 war) und die verschleierte Fernsicht auf die Porta Westfalica. Immer geht es um den Umschlag der Perspektive. Die Gastgeberin heute, war damals 2 Jahre jünger als ich, ein Riesenabstand, jetzt nicht mehr der Rede wert. Sie ist die Enkelin, meine Generation. Wir blätterten in ihrer Bibel (darin vorn die Chronik, bzw. die Urkunden der Vorväter), die aus dem Jahre 1894 stammt, MDCCCCXCIV. Eigentlich nur, um festzustellen, welche alte Druckschrift wir gelernt haben, ich erinnerte mich an Omas Bibel und Grimms Märchen. In diesem Haus bei „Tante Erna“ durfte ich zeitweise allein in der guten Stube sitzen, um Radio zu hören, und zwar die Fortsetzungen von Andersens „Der Kaiser und die Nachtigall“. Was hat mich da bloß zu Tränen gerührt? Der Vogel am Ohr des Kaisers, der Tod? (Nebenbei: die Grabstelle meiner Großeltern auf dem Loher Friedhof hat meine Mutter in den 1990er Jahren aufgegeben.)
Mein Vater zeigte keine Gefühle, vor allem nicht gegenüber seinen Söhnen. Ich könnte nicht sagen, ob er mich geliebt hat. Es war wohl vier Jahre vor seinem frühen Tod, dass meine Mutter mir etwas erschüttert erzählte, er habe geweint. Richtig geweint, und zwar bei Musik aus dem Radio. Was war’s denn? fragte ich. Er hat gesagt, antwortete sie, dass es ausgerechnet Wagner war (von dem meine Mutter nicht viel hielt: „menschlich war er ein Schwein“, aber nicht etwa weil er ein schrecklicher Antisemit war, sondern „wegen der Frauengeschichten“). Wie hieß das Stück? wollte ich wissen. So etwas wie . . . „Wotans Abschied“. Ich glaube, wir alle wussten, dass Papa (vielleicht unheilbar) krank war, er selbst hätte nie darüber gesprochen (erst später, als er gemeinsam mit meiner Mutter Tolstoijs „Tod des Iwan Iljitsch“ las und bemerkt haben soll „das bin doch ich“.) Warum sollte er über eine Abschiedsszene weinen? Abschied von Brünnhilde?
Ein paar Jahre später begriff ich es, als ich in meiner Kölner Studentenbude unentwegt den Tonband-Mitschnitt der Walküre aus Bayreuth 1961 hörte, dieser unglaubliche Abschied, der in den finalen Feuerzauber führt. Und ich dachte an meinen Vater, der vor zwei Jahren gestorben war. Ich hatte Blut gespendet für ihn und glaubte, das könne ihn gesund machen. Die letzten zwei Nächte hatte ich in seinem Krankenzimmer auf Gilead (Bethel) im Sessel geschlafen, damit er nicht allein blieb. Dies ist sein Klavierauszug, wahrscheinlich hat er das Werk in seiner Kapellmeisterzeit auch dirigiert.
Und nun kamen die Erinnerungen zurück, bei einem sonst nicht sehr ergiebigen Gespräch (Irrtum!) mit Christian Thielemann und Igor Levit in der ZEIT.
DIE ZEIT 13. Juni 2024 Seite 46f Gespräch Thielemann / Levit / Christine Lemke-Matwey
Ich kam partout nicht drauf, welche Akkordfolgen Thielemann im Wotan-Monolog meinte, und ich gäbe viel darum, sie dingfest zu machen. Bitte um Nachhilfe!
Götterdämmerung Anfang gute Theateratmosphäre (Musik ab 4:38) https://www.youtube.com/watch?v=kLly5R4gDiM hier
Mahler VI, 3 https://www.youtube.com/watch?v=Xxd-h3eW8xA hier
Ob jemand, der Jeremy Eichlers Buch „Echo der Zeit“ gelesen hat, auch eine solche Antwort gelten lassen könnte? Ich habe an meinen Vater gedacht, der im Krieg auch manches geglaubt hat, was die Nazis ihm erzählt hatten. Nach dem Krieg: kein apologetisches Wort von seiner Seite! – Freispruch?
Zwei Sternstunden: Schubert, Müller, die Geschichte, der Film, der Liederzyklus, der Gesang
Sendung 9. Juni 2024 (W bis 2029)
https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzIwNjE5NzA HIER
Der Film begleitet Julian Prégardien auf seiner Reise zu den Ursprüngen des Liederzyklus und beim Austausch mit verschiedenen Persönlichkeiten. Ein Psychiater erklärt das Phänomen der unerfüllten Liebe, eine Gender-Expertin gibt Einblicke in die Perspektive der angebeteten Frau und ein Schubert-Kenner vermittelt die Künstlerwelt des Komponisten zwischen Genie und Wahnsinn. Neben den Pianisten Kristian Bezuidenhout und Daniel Heide verzaubert die Puppenspielerin Manuela Linshalm das Publikum mit ihrer zeitbasierten Interpretation der romantischen Erzählung. Es ist eine Suche nach einer immer neuer Inspiration für ein Werk, das Julian Prégardien als Sänger besonders viel bedeutet und für das er seine Freude mit vielen Menschen teilen möchte. Ein Film von Nanna Schmidt.
https://www.ardmediathek.de/video/kulturmatinee/julian-pregardien-singt-schuberts-schoene-muellerin/swr/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzIwNTQ1Mzc HIER
„Die schöne Müllerin“ Gesamtaufnahme SWR
Der Film zeigt auch, dass man den Dichter genauso ernst nehmen muss, wie Schubert es tat.
Siehe auch Christian Gerhaher zum gleichen Thema hier im Blog
Das Ölbild, frühe 50er Jahre (steht auf der Truhe von 1815)
Immer wurde gesagt, dies Bild sei nicht „lebensecht“. Wie aber war sie wirklich? Auf etwa gleichzeitig entstandenen Fotos kommt – anders als auf dem strengen Ölbild – klarer zum Vorschein, dass sie wohlwollend und gütig war. Vermutlich ein Gesichtsausdruck, den sie für die Sitzungen des Malers nicht „annehmen“ konnte. Da war sie statuarisch ernst, hoheitsvoll, wie in der Widmung, die ich im Gesangbuch fand, als sie es mir zur Konfirmation schenkte. („Dein Lebelang habe Gott vor Augen und im Herzen“). Und der Maler war kein Leonardo, der vielleicht tiefer sehen konnte als andere. Im Kreis der Familie zeigte sie sich eher vergnügt, – jedenfalls im Alter:
Fotos 1950
Aus den Erinnerungen ihrer Schwiegertochter (meiner Mutter):
Sie sorgte dafür, dass ihre Kinder Klavier oder/und Geige lernten. Ihr eigenes Lieblingsstück: „Die diebische Elster“ von Rossini. Mein Bruder und ich spielten für sie oft den „Faust-Walzer“ von Gounod (mit Geige und Klavier). Dieses Video hätte ihr gefallen!
Das beste Buch, das ich seit langem gelesen habe. Jedes Wort, das man oben im Cover-Text darüber liest, ist wahr.
Hier finden Sie eine Anzeige des Buches mit einer überzeugenden, langen Leseprobe (!!!). Mich interessierte besonders die Frage, ob es Vorbilder gibt, in der Art dieses Autors mit biographischem „Stoff“ umzugehen. Hier sein eigener Hinweis:
Ein späterer deutscher Autor, dessen Werke mich besonders inspiriert haben, ist W. G. Sebald (1944 –2001). Mit seinen Romanen Austerlitz, Die Ausgewanderten und Die Ringe des Saturn profilierte sich Sebald als der deutsche Nachkriegsdichter der Erinnerung, der meisterlich vormachte, wie Landschaft, Kunst und Architektur als Zugang zur Vergangenheit dienen können. Holocaust, Exil, Kolonialismus und die Geschichte der menschengemachten Zerstörung sind allgegenwärtige Themen in seinem Werk, aber die Erinnerung an sie ist durch Sebalds elliptische Prosa gefiltert wie durch mehrere Lagen Baumwollstoff, weshalb das einstmals blendende Licht dieser Katastrophen nur noch als schwaches Leuchten wahrgenommen wird. Und auch wenn Sebald nur selten über Musik schrieb, hat sein Umgang mit den ständig weiter verschwindenden Überbleibseln der Vergangenheit, den Spuren früherer Verluste, eine große Ähnlichkeit mit dem geisterhaften Spiel der Musik, mal an- und dann wieder abwesend zu sein, sowie ihren flüchtigen Momenten des Kontakts mit den wortlosen Wahrheiten einer anderen Zeit.
Die Musikbeispiele, soweit ich sie mir in Lesepausen zusammenstellen konnte:
(Fortsetzung folgt, – anfangen mit den „Metamorphosen“ von Richard Strauss!)
Beginn bei 1:06 / hören bei 2:02 Beethoven-Zitat (s.u. Marcia funebre Takt 3)
⇑ ⇑ ⇑ Was im Buch steht zum Thema „Metamorphosen“, ⇓ ⇓ ⇓ Beethoven „Eroica“ Trauermarsch
Schostakowitsch 13. Sinfonie „Babyn Jar“ hier (Buch S.342 ff) Wikipedia hier
hier (Beginn erst bei 1:14) VALERY GERGIEV – MUSICAL DIRECTOR AND CONDUCTOR THE MARIINSKY ORCHESTRA AND CHORUS 8° de Enero del 2013 – January 8th, 2013
mit Jewtuschenko-Text Baby Yar (engl. Übersetzung)
Schostakowitsch 14. Sinfoniehier (Buch S.360 ff) Wikipedia hier
Dmitrij Schostakowitsch: 14. Sinfonie op. 135 für Sopran, Bass und Kammerorchester auf Gedichte von Federico García Lorca, Guillaume Apollinaire, Wilhelm Küchelbecker und Rainer Maria Rilke ∙
(Auftritt) 00:00 ∙ 1. De profundis (Bass) 00:44 ∙ 2. Malagueña (Sopran) 05:50 ∙ 3. Loreley (Sopran und Bass) 08:52 ∙ 4. Der Selbstmörder (Sopran) 17:50 ∙ 5. Auf Wacht (Sopran) 24:54 ∙ 6. Sehen Sie, Madame! (Sopran und Bass) 27:46 ∙ 7. Im Kerker der Santé (Bass) 29:39 ∙ 8. Antwort der Zaporoger Kosaken an den Sultan von Konstantinopel (Bass) 40:07 ∙ 9. O Delvig, Delvig! (Bass) 42:06 ∙ 10. Der Tod des Dichters (Sopran) 46:48 ∙ 11. Schlußstück (Sopran und Bass) 52:23 ∙
hr-Sinfonieorchester – Frankfurt Radio Symphony ∙ Miina-Liisa Värelä, Sopran ∙ Mika Kares, Bass ∙ Klaus Mäkelä, Dirigent ∙ hr-Sinfoniekonzert ∙ hr-Sendesaal Frankfurt, 1. Oktober 2020
Was Schostakowitsch zu dieser Sinfonie sagte (nach Wikipedia):
„Zum Teil versuche ich, den großen Klassikern etwas entgegenzustellen, welche das Thema ‚Tod‘ in ihren Werken behandeln. Denken Sie an den Tod Boris Godunows: Wenn Boris Godunow gestorben ist, wird es gleichsam hell. Denken Sie an Verdis Otello: Wenn die ganze Tragödie endet und Desdemona und Othello sterben, erleben wir auch eine wunderbare Verklärung. […] Ich finde dies sogar unter unseren Zeitgenossen, nehmen Sie zum Beispiel den außerordentlichen englischen Komponisten Benjamin Britten: Ich habe in dieser Hinsicht auch an seinem War Requiem etwas auszusetzen. Ich finde, all dies kommt von verschiedenartigen religiösen Lehren her, […] daß uns im Jenseits der absolute Friede erwarte. So scheint es mir, daß ich zumindest teilweise in die Fußstapfen des bedeutenden russischen Komponisten Mussorgski trete. Sein Zyklus Lieder und Tänze des Todes – vielleicht nicht alles davon, aber auf jeden Fall ‚Der Feldmarschall‘ – ist ein großer Protest gegen den Tod […]. Der Tod erwartet jeden von uns. Ich kann nichts Gutes darin sehen, daß unser Leben so endet, und das ist es, was ich in diesem Werk vermitteln will.“
Nachtrag 27.06.24
Ich stehe nicht allein mit meiner Meinung über dieses Buch:
DIE ZEIT 27. Juni 2024 Seite 47 Alexander Cammann: Hier Cowboys, da Chruschtschow
Als blutige Laien in der Kunstbetrachtung haben wir immer ein schlechtes Gewissen, wenn wir ein Gemälde oberflächlich nach seiner Lebensähnlichkeit beurteilen; andererseits beginnt man sofort zu spotten, wenn einer dagegenhält mit Bemerkungen zum strukturellen Aufbau des Werkes. Ich erinnere mich, dass zeitweise ein impressionistisches Kalenderbild an der Wand über dem Schreibtisch meines Vaters hing, in das ich mich „verliebte“, während er, der sich gerade Hamanns große dickleibige Kunstgeschichte zugelegt hatte, offenbar einen rein sachlich-ästhetischen Zugang suchte. Die farbenfroh schöne Frau von Renoir oder Monet hatte sogar einen Namen, sie war einmal „real“ (gewesen). Als mein Freund zu Besuch kam, führte ich ihn wie zufällig zum Porträt, beiläufig murmelnd „findichschön“, worauf er knallhart entgegnete: „hat viel Holz vor der Hütten“, und damit war sie schlagartig entweiht. Ja, entweiht. Alerdings hatte ich schon ein ungutes Gefühl, wenn ich auf dem Cover meiner ersten Concert Hall Schallplatten las: „Hohe Lebensstunden weihet mit Musik“. Auch Musik sollte etwas mit dem wirklichen Leben zu tun haben. Einmal legte ich ein Bild auf das Notenpult und versuchte, auf der Violine die irgendwie geforderten oder unterstellten „überströmenden Gefühle“ zum Ausdruck zu bringen. Da trat überraschend mein Vater ins Zimmer trat und rief „das ist viel zu schnell“, während ich eiligst mit dem Geigencorpus das kompromittierende Bild verdeckte. –
Eines Tages kam meine 5 Jahre ältere Cousine auf der Durchreise mit ihrer Freundin zu uns, beide Kunststudentinnen in Basel, wir schauten gemeinsam den Prachtband „Europäische Meisterbilder“ an, – einige kannte ich allzugut -, mir schwante Unheil, plötzlich hielten sie inne, allerdings nicht dort, wo ich mich auskannte: sondern beim Jesus am Kreuz. Sie bewunderten die „Formauffassung“, die (attraktive?) Freundin legte den Finger auf die Reihe fein ausgearbeiteter Bauchfalten, oberhalb des Lendentuches. Mir stockte der Atem, und sie sagte: „wie fein ausgearbeitet!“ Gott sei Dank, beide waren vom Fach und bemerkten nicht die Röte in meinem Gesicht.
So etwa begann meine Pubertät, von der ich wenig wusste. Meine Mutter bemerkte nur verdächtig oft: „Die Flegeljahre bleiben bei ihm aus!“ Hat mich die Klassik gezügelt? Eine unendlich lange Zeit verging, ehe ich die Mentaltät der 50er Jahre in all ihrer Verklemmtheit durchschaute, die 6oer Jahre, die ich als Befreiung erfuhr, auch kunstästhetisch umsetzte. Erste Erleuchtungen (nach André Malraux‘ „Das Imaginäre Museum“ 1963): das Bändchen vom „Sehen der Welt in der Bilderwelt“ von John Berger (1974).
Derlei Dinge gingen mir durch den Kopf, als ich heute einer Anregung von Wilfried Schaus-Sahm folgte und mich mit der folgenden Betrachtung von Kia Vahland beschäftigte.
https://www.stadtmuseum-duisburg.de/leonardo-da-vinci-und-die-frauen/ hier
https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2019/09/die-malerei-leonardo-da-vincis-ist-weiblich hier
https://de.wikipedia.org/wiki/Anbetung_der_K%C3%B6nige_aus_dem_Morgenland_(Leonardo_da_Vinci) hier
https://de.wikipedia.org/wiki/Bildnis_der_Ginevra_de%E2%80%99_Benci hier
https://de.wikipedia.org/wiki/Cecilia_Gallerani hier
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Verk%C3%BCndigung_(Leonardo_da_Vinci) hier
Zitat Vahland: vom Kuss
3:44 „Leonardo da Vinci hat ganz außergewöhnliche Frauen gefunden, die einen heute noch überraschen. Er malt erstmal natürlich viele Marien, da wissen wir nicht, wer die Modelle sind. Dann aber malt er noch als junger Mann Ginevra de‘ Benci (…). Er möchte, dass sich die Leute in seine Bilder verlieben. Er erzählt eine Geschichte, wie die Leute Bilder mit weiblichen Heiligen zurückbringen in die Werkstatt und ihn bitten, die Heilgenscheine zu übermalen, damit sie die Bilder besser küssen können. Und das ist ganz genau in Leonardos Sinn. Das heißt, er nutzt die Stärke der Frauen, er nutzt die Verführungskraft der Frauen, um seine Kunst, um die Malerei zu stärken. Die Malerei ist so verführerisch wie die Frauen, die er malt. Und stark, so unabhängig und so klug wie diese. Dafür müssen es natürlich selbständige Objekte sein und keine Objekte, über die man einfach verfügt. Und die Frauen auf den Bildern liefern sich den Betrachtern nie aus. Das sind immer ganz, ganz eigenständige Wesen. Denn sie stehen für Leonardo auch für die Malerei an sich. Schon seit der Antike ist das Bild einer schönen Frau auch das große Meisterwerk eines Malers, an dem er seine Kunst zeigt, und so ist es eben auch bei Leonardo da Vinci. Denen gehört seine Sympathie, auf die lässt er sich ein, mit denen tritt er in einen Dialog.“ 5:11
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(Abstrakte) Kunst in der Realität, was nicht unbedingt bedeutet: die neue Irrealität dank Caspar David Friedrich. Jedoch auch Düsseldorf (20 Minuten entfernt, nächste Woche):
https://www.kunstpalast.de/de/event/tony-cragg/#Ausstellung hier
Video mit Cragg – siehe bei 6:40 von Menschen, – „die streicheln meine Arbeit„.
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13.04.24 Noch etwas ganz Neues aus dem Kunstpalast in Düsseldorf: ! Blumen ! HIER .
16.04.24 Ich war dort, im Kunstpalast Düsseldorf Ausstellung Tony Cragg, hier „Die Welle“: