Archiv der Kategorie: Biographisches

Wahlverwandtschaften (Lebende Bilder)

Eine vergessene Kunst? Oder bloß ein Spiel?

Wie mein Interesse begann

Schubert und das lebende Bild

Eine andere Beschreibung, die ich durch Zufall in Goethes „Wahlverwandtschaften“ fand und für meine Entdeckung hielt:

Damals gab es doch schon Wikipedia…

https://de.wikipedia.org/wiki/Tableau_vivant hier

Aber wohl noch nicht diese unvergleichliche Website (mit den Erläuterungen zu den lebenden Bildern ab dem Fünften Kapitel):

http://wwwhomes.uni-bielefeld.de/bseiler/Wahlverwandt/kultur.htm HIER

ZITAT aus dieser Arbeit:

Das Titelblatt der Erstausgabe

Die Aufmerksamkeit, die der Roman fand, war groß, das Urteil jedoch keineswegs nur positiv. Von den moralischen Bedenken abgesehen, wurde auch die nicht immer konsequente Erzählweise beanstandet. Wilhelm Grimm schrieb am 22. November 1809 an seinen Bruder: „Ich begreife auch, daß das ganze Verhältnis sehr langsam und sorgfältig mußte entwickelt werden, nur nicht langweilig, wie es mir durchaus ist. Ich erkläre mir es aus der Art der Entstehung des Buchs, weil es durchaus diktiert ist, wo der Faden wohl nicht streng angehalten worden, sondern ganz gemächlich abgehaspelt worden und zuweilen auf die Lehne des Schlafsessels herabgefallen ist.“

Goethe in seinem Arbeitszimmer

Auch wenn Goethe stehend und nicht sitzend diktierte, muss man wohl wirklich die oft umständliche Allgemeinheit der Aussagen auf diese Arbeitsweise zurückführen. Zur Besinnung auf plastische Einzelheiten wird man bei einem vorwärtsdrängenden Diktieren kaum veranlasst.

Zitat-Ende / der Autor:

SEILER Bernd W. Seiler, Januar 2015 hier

Zu Humboldts Kritik: Mir waren bei der Goethelektüre durchaus auch stilistische Schwächen aufgefallen, die sich aus der Praxis des Diktierens ergeben, z.B. die stereotype Verwendung des Wortes „entgegnen“ statt entsprechender Varianten. Andererseits: las er denn das Diktierte nachher nicht mehr durch? –  Mir fiel jedoch das Wort vielleicht nur deshalb auf, weil es heute so viel auffälliger klingt als  „antworten“, das ich nicht moniert hätte.

Ein anderes Thema dieses interessanten Autors:

http://wwwhomes.uni-bielefeld.de/bseiler/Lesmona/ hier

Frühe Bewusstseinsspaltung

Rückblick auf Adornos Nachhilfe

As ich 1955 anfing, ernsthaft philosophische Literatur zu lesen (ich glaube, „Sokrates im Gespräch“ von Romano Guardini), stieß ich bald auf Nietzsche, nicht ahnend, dass er es mir zu leicht machte. Kant, von dem ich ein/zwei Jahre später (für Langeoog) zwei Bände der Dünndruck-Gesamtausgabe aus der Bielefelder Stadtbücherei entlieh, daneben eine voluminöse „Einführung in das Werk“ unbekannter Provenienz. Im Original – einigen naturwissenschaftlichen Schriften – blieb ich stecken. Jedenfalls begegnete mir nicht dort, sondern in Nietzsches „Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“ zum ersten Mal das Wort „Subjekt-Objekt-Spaltung“; es erschien mir wie die Andeutung höherer Weihen. Ich weiß nicht, ob  mir klar war, dass Nietzsche diesen Begriff von Schopenhauer übernommen hatte, und dass er über diesen Philosophen bereits eine frühe Schrift veröffentlicht hatte. Schumann, Brahms, Wagner (Lohengrin). Laufend Neues in der Musik? 1956 kaufte ich Hindemiths „Unterweisung im Tonsatz“, nachdem ich ihn in der Oetkerhalle persönlich erlebt hatte („Sinfonia serena“), siehe live hier. Mein Vater, der mir immerhin die Harmonielehre von Louis/Thuille erschloss, sah die Sache skeptisch. Er sagte auch: Von Schönberg spricht in 100 Jahren kein Mensch mehr. Ein günstiger Anlass zu weiterer Opposition meinerseits, die zunächst bei Hindemith verweilte.

Beilage aus Hindemiths „Unterweisung“

Drei Jahre später – im Bielefelder Freibad – hatte ich Adornos „Philosophie der Neuen Musik“ (ebenfalls aus der städtischen Bibliothek) zu knacken gesucht, 1960 in Berlin dann ernsthaft (mühevoll – im Café Kranzler) mit einem Stift, der das Unterstreichen in Blau und Rot erlaubte, damals auch noch mit Lineal. Großer Respekt. Irgendwann habe ich gelesen, dass Ludwig Klages ein Buch „Der Geist als Widersacher der Seele“ geschrieben hatte, von dem ich annahm, dass es mir zutiefst entspräche. Weit gefehlt. In solchen Widersprüchen glaubte ich mich einrichten zu können. Die 60er Jahre waren von Adorno gezeichnet, was mich letztlich vor einem Versinken in Mystizimus (Indien) bewahrte. Nach fast allen anderen Werken von ihm erwarb ich 1970 – kurz nach seinem Tode – auch noch das letzte mit dem Titel „Stichworte“, das ich jetzt – im August 2023 – wieder hervorholte, um das zu wiederholen, was ich damals nicht verstanden hatte. Vor allem die Stichworte, die spezifisch philosophischen Themen gewidmet waren. Seite 20 ff hätte schon früh zur Einsicht führen können. Statt meine Zeit mit Merkzetteln zu vergeuden und sie in Bücher über Parapsychologie oder Halbwahrheiten wie „Zen in der Kunst des Bogenschießens“ zu verteilen, die mich von Berlin nach Köln begleiteten.

„dauernd im Transzendentalen“, nur „bestritten von  seichten Empirikern“?

das Gegengift ab Seite 11, 151, 169

Aber jetzt erst, nach 50 Jahren, könnte ich wohl ernsthaft damit anfangen…

Zum Beispiel dort, wo Adorno mit seinen Worten über Subjekt-Objekt-Spaltung spricht. Und diese mit der Schimäre eines zeitlich oder außerzeitlich ursprünglichen Zustands glücklicher Identität von Subjekt und Objekt verbindet (Seite 152), passend zu den Gedanken in „Vernunft und Offenbarung“ (Seite 20). Ich zitiere den Passus (Seite 152 f) ausdrücklich, Verständnishilfen interpolierend, weil ich immer mal wieder in die Falle getappt bin, ein vages All-Einheitsgefühl – wie im Zustand einsetzender Trunkenheit – für eine Verheißung mystischen Glücks zu halten.

Das Bild eines zeitlich oder außerzeitlich ursprünglichen Zustands glücklicher Identität von Subjekt und Objekt aber ist romantisch [„romantisch“ als Epoche]; zuzeiten [eben: zu Eichendorffs Zeiten] Projektion der Sehnsucht, heute nur noch Lüge. Ungeschiedenheit, ehe das Subjekt sich bildete, war der Schrecken des blinden Naturzusammenhangs, der Mythos; die großen Religionen hatten ihren Wahrheitsgehalt im Einspruch dagegen.

Übrigens ist Ungeschiedenheit nicht Einheit; diese erfordert, schon der Platonischen Dialektik zufolge [die Kunst der logischen Unterteilung siehe hier],Verschiedenes, dessen Einheit sie ist. Das neue Grauen, das der Trennung, verklärt [!] denen, die es erleben, das alte, das Chaos, und beides ist das Immergleiche. Vergessen wir über der Angst vor der gähnenden Sinnlosigkeit die einst nicht geringere vor den rachsüchtigen Göttern, welche der epikureische Materialismus und das christliche Fürchtet euch nichtvon den Menschen nehmen wollte. Anders nicht als durch das Subjekt ist das vollziebar. [An dieser Stelle wird Adornos Text durch Abbreviatur unnötig schwierig, enthält vielleicht sogar einen Druckfehler:] Würde es liquidiert, anstatt in einer höheren Gestalt aufgehoben, so bewirkte das [eine] Regression des Bewußtseins nicht bloß [allgemein als „Regression“] sondern eine [Reduktion] auf reale Barbarei. Schicksal, [das] die Naturverfallenheit der Mythen [kennzeichnet], stammt aus totaler gesellschaftlicher Unmündigkeit, einem Zeitalter, darin Selbstbesinnung noch nicht die Augen aufschlug, Subjekt noch nicht war [einem Zeitalter, in dem von „Subjekt“ noch niemand hätte reden können]. Anstatt jenes Zeitalter durch kollektive Praxis zur Wiederkehr zu beschwören, wäre der Bann des alten Ungeschiedenen zu tilgen. Seine Verlängerung ist das Identitätsbewußtsein des Geistes, der repressiv sein Anderes sich gleichmacht.

Es ist eine Adorno-Stelle, in deren Verlauf er unnötig feierlich, geradezu biblisch wird. An Gottfried Benn gemahnend. ( „Verlorenes Ich“ oder „Astern“ ). Ansonsten bedeuten die roten Eintragungen keine Beckmesserei, sondern eigene Verständnisbrücken.

Man kann den Gedankengang der 12 Abschnitte des Artikels „Zu Subjekt und Objekt“ rekapitulieren, indem man nach der Lektüre nur die jeweils ersten Zeilen als Markzeichen memoriert:

1 Mit Erwägungen über Subjekt und Objekt einzusetzen, bereitet die Schwierigkeit anzugeben, worüber eigentlich geredet werden soll.

2 Die Trennung von Subjekt und Objekt ist real und Schein.

3 In der Erkenntnistheorie wird unter Subjekt meist soviel wie Transzendentalsubjekt verstanden.

4 Durch die Einsicht in den Vorrang des Objekts wird nicht die alte intentio recta restauriert, das hörige Vertrauen auf die so seiende Außenwelt (…)

5 Vom Vorrang des Objektes ist legitim zu reden nur, wenn jener Vorrang, gegenüber dem Subjekt im weitesten Verstande, irgend bestimmbar ist, mehr also denn das Kantische Ding an sich als unbekannte Ursache der Erscheinung.

6 Was unter dem Namen Phänomenalismus geht: daß von nichts gewußt werde, es sei den durchs erkennenden Subjekt hindurch, das verband sich seit der Kopernikanischen Wendung mit dem Kultus des Geistes. Beides wird von der Einsicht in den Vorrang des Objekts aus den Angeln gehoben.

7 Identitätsdenken, Deckbild der herrschenden Dichotomie, gebärdet sich im Zeitalter subjektiver Ohnmacht nicht länger als Verabsolutierung des Subjekts. (…) Es ist die gegenwärtig charakteristische Form verdinglichten Bewußtseins, falsch wegen seines latenten und desto verhängnisvolleren  Subjektivismus.

8 Auch nach der zweiten Reflexion der Kopernikanischen Wendung behält Kants anfechtbarstes Theorem, die Distinktion von tranzendentem Ding an sich und konstituiertem Gegenstand, einige Wahrheit.

9 Ebensowenig allerdings ›gibt‹ es eigentlich Subjekt. Dessen Hypostasis im Idealismus führt auf Ungereimtheiten.

10 Die Differenz von Subjekt und Objekt schneidet sowohl durch Subjekt wie durch Objekt hindurch. (…) An Subjekt läßt eigentlich alles dem Objekt sich zurechnen: was daran nicht Objekt ist, sprengt semantisch das »Ist«.

11 Objekt ist, wenngleich abgeschwächt, auch nicht ohne Subjekt. Fehlte Subjekt als Momentan an Objekt selber, so würde dessen Objektivität zum Nonsens.

12 Die Reflexion des Subjekts auf seinen eigenen Formalismus ist die auf Gesellschaft, mit der Paradoxie, daß, gemäß der Intention des späten Durkheim, die konstitutiven Formanten gesellschaftlich entsprungen sind.

*    *    *

Nochmal von vorn: was ist denn daran falsch, wenn ich – wie Descartes bzw. nach seinem Vorbild – anfange mit dem „Cogito ergo sum“ – „Ich denke, also bin ich“ ? Da habe ich doch – besonders in der deutschen Übersetzung – den Angelpunkt des Denkens oder sagen wir: der Weltbetrachtung: „ich“.

Leider hat sich aber inzwischen die Philosophie vollkommen auf dieses denkende Ich (das eigene Erkenntnisvermögen) konzentriert, und dabei ist es sehr fragwürdig geworden. Anders als in meiner Jugend hilft einem heute Wikipedia auf den rechten Denkweg. Zitat:

Mit der Reflexion auf das eigene Erkenntnisvermögen erfolgte in der Neuzeit ein Bedeutungswandel. Der Begriff des Subjekts wurde nun eingeschränkt auf das erkennende Ich. Es entstand die Vorstellung eines Dualismus von einer (geistigen) Innenwelt und einer (materiellen) Außenwelt. Seitdem versteht man in der Philosophie unter Subjekt den menschlichen Geist, die Seele, das seiner selbst gewisse und sich selbst bestimmende Ich-Bewusstsein. Daraus ergibt sich allerdings ein philosophisches Problem, denn die Welt erscheint einem Subjekt nicht mehr zwangsläufig so, „wie sie wirklich ist“, vielmehr wird nunmehr alles Wahrgenommene subjektiv, indem es vom Erkenntnisapparat des Subjekts zurechtgeschnitten wird (Subjekt-Objekt-Spaltung). Indem es sich auf die Dinge in der Welt richtet, ist das Subjekt Träger sogenannter intentionaler Akte. Die intentionalen Gegenstände der Erkenntnis werden dann im Denken repräsentiert und als Objekte bezeichnet.

Nachzulesen im Wikipedia-Artikel „Subjekt“: im Zitat habe ich die Links eliminiert, in der Hoffnung, dass wir zunächst einmal den Denkfluss nicht durch Einschübe und weiteres Nachlesen unterbrechen müssen. Man kann es natürlich in einem zweiten Durchgang nachholen oder erweitern: also hier.

*    *    *

Was macht Adorno etwas schwierig zu lesen? Ein Beispiel aus „Vernunft und Offenbarung“ (Stichworte Abschnitt 3 , Seite 12 f), wo er beginnt mit: „Das Opfer der Intellekts, das einmal, bei Pascal und Kiekegaard, vom fortgeschrittensten Bewußtsein (….ich kürze) gebracht war, ist mittlerweise sozialisiert, und wer es bringt (das Opfer, – heute zu bringen vorgibt), ist dabei unbeschwert von Furcht und Zittern : keiner hätte mehr mit Empörung darauf reagieren können als Kiekegaard selbst.

JR „Furcht und Zittern“ ist natürlich eine Anspielung auf ein Werk dieses Titels von Kierkegaard, die Worte sind also eine nur für Kenner wahrnehmbare Anspielung. Nachzuvollziehen heute z.B. hier. Oder hier: „Kierkegaard bekräftigt in dieser Schrift, dass der Mensch, indem er aus der ethischen Sphäre heraus- und in die religiöse Sphäre eintritt, als der Einzelne höher steht als das Allgemeine, also das Ethische, und nur noch Gott Gehorsam schuldet. Ausdrücklich wird daher Abrahams Absicht gutgeheißen, Isaak auf Gottes Befehl hin zu opfern, auch wenn sich Abraham damit über die Ethik hinwegsetzt. Gleichzeitig wird ausgeführt, dass kraft des Glaubens alles möglich ist.“

Bei Adorno geht es weiter, an die Formulierung „ist mittlerweile sozialisiert“ anknüpfend, mit den Worten „Anpassung in der verwalteten Welt“:

Zitat (Adorno a.a.O.)

Weil zuviel Denken, unbeirrbare Autonomie (Akk.:) die Anpassung in der verwalteten Welt erschwert und Leiden bereitet, projizieren Ungezählte dies ihr gesellschaftlich diktiertes Leiden auf die Vernunft als solche.

Sie soll es sein, die Leiden und Unheil über die Welt gebracht hat. Die Dialektik der Aufklärung, die in der Tat den Preis des Fortschritts, all das Verderben mitbenennen muß, das Rationalität als fortschreitende Naturbeherrschung bereitet, wird gewissermaßen zu früh abgebrochen (…).

JR: Vorausgesetzt natürlich, man kennt das Buch „Dialektik der Aufklärung“, siehe zumindest hier. [Lesepause]

1971

[und Fortsetzung des zuletzt zitierten Satzes:]

… zu früh abgebrochen, nach dem Modell eines Zustands, dessen blinde Geschlossenheit den Ausweg zu versperren scheint.

Krampfhaft, willentlich wird verkannt, daß das Zuviel an Rationalität,

über das zumal die Bildungsschicht klagt und das sie in Begriffen wie Mechanisierung, Atomisierung, gern auch Vermassung registriert,

ein Zuwenig an Rationalität ist,

die Steigerung nämlich aller kalkulierbaren Herrschaftsapparaturen und-mittel auf Kosten des Zwecks,

der vernünftigen Einrichtung der Menschheit, die der Unvernunft bloßer Machtkonstellationen überlassen bleibt,

und zu der das Bewußtsein,

getrübt von unablässiger Rücksicht auf bestehende positive Verhältnisse und Gegebenheiten,

sich überhaupt nicht mehr zu erheben getraut.

Wohl ist einer ratio, als stures Herrschaftsmittel, frevelhaft verabsolutiert, Selbstbesinnung geboten,

und davon drückte das religiöse Bedürfnis heute einiges aus.

Aber diese Selbstbesinnung kann nicht bei der bloßen Negation des Gedankens durch sich selbst, bei einer Art von mystischem Opfer stehenbleiben [Anspielung auf Abraham/Isaak], nicht durch einen »Sprung« sich vollziehen:

der ähnelte nur allzusehr der Katastrophenpolitik.

Sondern Vernunft muß versuchen, die Rationalität selber,

anstatt als Absolutes sie

sei es zu setzen, sei es zu verneinen,

als ein Moment innerhalb des Ganzen zu bestimmen, das freilich diesem gegenüber auch sich verselbständigt hat.

 Sie muß ihres eigenen naturhaften Wesens innewerden.

Dies Motiv ist den großen Religionen nicht fremd: gerade es [dies Motiv] bedarf heute der ›Säkularisierung‹,

soll es nicht, isoliert und überhöht, zur Verfinsterung der Welt helfen, die es bannen möchte.

(Fortsetzung folgt)

Als ich am 12.08.23 die neueste Adorno-Lektüre begann (8:13) und als sie endete (12:08)

 

Klinikum Solingen Ausblick 8. Stock

Adorno noch einmal

Von der Terz und der Zersetzung der musikalischen Sprache

Adorno 1960 in Berlin

Quelle Theodor W. Adorno: Philosophie der Neuen Musik / Europäische Verlagsanstalt Frankfurt am Main 1958 (Seite 76 f)

1993 Beethoven-Buch + umgeblättert:

… „der gleiche Tatbestand nach seinen verschiedenen Aspekten. Wie aber, wenn schließlich der Ausdrucksdrang gegen die Möglichkeit des Ausdrucks selber sich kehrte?   [141]“

Quelle Theodor W. Adorno: Beethoven / Philosophie der Musik / Fragmente und Texte herausgegeben von Rolf Tiedemann / Suhrkamp Frankfurt am Main 1993

P.S. Natürlich war mir damals klar, dass man diese (hier isolierten) Äußerungen Adornos nicht grundsätzlich als gegen die Idee der „Zwölftonmusik“ gerichtet verstehen darf.

Vom Salon mit Chopin

JR 6.12.1966 Solingen

Quelle Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie / Zwölf theoretische Vorlesungen / Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1962

Chromatische Tonsprache und kujawische Motivik (s.a. hier)

Tadeusz A. Zielinski Chopin Lübbe 1999

Universalität?

Museum und integrales Konzert

Ich hätte damals noch etwas ergänzen können oder müssen: aus Adornos Kritik am Persönlichkeitsideal (jetzt 24.07.23 wiedergelesen, damals in „Stichworte“ von 1969, zuvor auch im Radio gehört):

So gehört es zur eisernen Ration pädagogischer Theorien, die auf der Höhe der Zeit sein möchten, das Humboldtsche Bildungsziel des allseitig entwickelten und ausgebildeten Menschen, eben der Persönlichkeit, abzufertigen. Unvermerkt wird aus der Unmöglichkeit, es zu verwirklichen – wenn anders es je verwirklicht gewesen sein sollte -, eine Norm. Was nicht sein kann, soll auch nicht sein. Die Aversion gegen das hohle Pathos der Persönlichkeit tritt, im Zeichen eines angeblich ideologiefreien Realitätsbewußtseins, in den Dienst der Rechtfertigung universaler Anpassung, als ob diese nicht ohne Rechtfertigung bereits allerorten triumphierte. Dabei war Humboldts Persönlichkeitsbegriff keineswegs einfach der Kultus des Individuums, das wie eine Pflanze begossen werden soll, um zu blühen. So wie er noch die Kantische Idee »der Menschheit in unserer Person« festhält, hat er zumindest nicht verleugnet, was bei seinen Zeitgenossen Goethe und Hegel im Zentrum der Lehre vom Individuum steht. Ihnen allen kommt das Subjekt zu sich selbst nicht durch die narzißtisch auf es zurückgezogene Pflege seines Fürsichseins, sondern durch Entäußerung, durch Hingabe an das, was es nicht selbst ist. In Humboldts Bruchstück ›Theorie der Bildung des Menschen‹ heißt es: »Bloß weil beides, sein Denken und sein Handeln nicht anders als nur vermöge eines Dritten, nur vermöge des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas möglich ist, dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist, Nichtmensch, d.h. Welt zu seyn, sucht er, soviel Welt als möglich zu ergreifen und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.« Den großen und humanen Schriftsteller konnte man einzig dadurch in die Rolle des pädagogischen Prügelknaben hineinzwängen, daß man seine differenzierte Lehre vergaß.

Quelle Theodor W. Adorno: Stichworte / Kritische Modelle 2 / darin: Glosse über Persönlichkeit / Suhrkamp Frankfurt am Main 1969 / Zitat Seite 54

Damals schon früher aus der Radiosendung mit Adorno notiert:

Zumindest Negatives läßt über den Begriff eines richtigen Menschen sich sagen. Er wäre weder bloße Funktion eines Ganzen, das ihm so gründlich angetan wird, daß er dovon nicht mehr sich zu unterscheiden vermag, noch befestigte er sich in seinern puren Selbstheit; eben das ist die Gestalt schlechter Naturwüchsigkeit, die stets noch überdauert. Wäre er ein richtiger Mensch, so wäre er nicht länger Persönlicheit, aber auch nicht unter ihr, kein bloßes Reflexbündel sondern ein Drittes. Es blitzt auf in der Hölderlinschen Vision des Dichters: »Drum, so wandle nur wehrlos / Fort durchs Leben, und fürchte nichts!«

*    *     *

P.S. Und heute nach 54 Jahren ein Wermuthstropfen in Adornos Hölderlin-Zitat? der – doch so ermutigende – letzte Halbsatz lautet im Original womöglich anders: nämlich so. (nein! Aufklärung folgt)

Fazit: auch angesichts höherer Autoritäten lohnt sich die Überprüfung von Zitaten ebenfalls hoher oder höherer Autorität. Oder? Am Ende behält gar die Philologie das allerletzte Wort…

Kritischer Bericht Seite 305 – 322, hier wiedergegeben Seite 316 – 319 / und die letzte Fortsetzung von „Dichtermuth“:

Neue Links zu Hölderlins Ode „Dichtermut“  1. Fassung 2. Fassung und Wikipedia hier (darin Link zu Versmaßen). Neue Ermutigung, Hölderlin selbst im Original zu suchen und verstehen zu lernen, gefunden bei Roland Reuß in dem sehr lesenswerten Buch „Ende der Hypnose“, Zitat:

Quelle Roland Reuß: Ende der Hypnose Vom Netz zum Buch / Verlag Strœmfeld Frankfurt am Main 2012 ( hier )

Patmos bei Wikipedia hier

Zum Beispiel Goethe bei Blumenberg

Einige Notizen

Siehe Blog „Blumenberg lesen“ hier (gegen Ende)

„Eckermann liest in der Bibel“ (Seite 46)

Wie Goethe seinen Eckermann hingehalten hat, um ihn nicht als getreuen Dokumentar zu verlieren (z.B. durch Heirat). Auch deshalb lockt er ihn mit Faust II. Siehe Erwähnung tags zuvor und danach.

Quelle Eckermann: Gespräche mit Goethe / Aufbau-Verlag Berlin 1956 (JR Sept.58)

Zu „Das Hohelied der Rezeption“ (Seite 16) Albrecht Schöne

„Alexis und Dora“ siehe hier (Weiland über Goethes Rätselgedicht)

Wikipedia zu „Alexis und Dora“ hier

Blumenberg „Goethe zum Beispiel“ Seite 70

In der Altersfreundschaft Goethes mit Zelter ist der Berliner Tonmeister mit seinem Part unterbelichtet geblieben. Dabei sind seine Briefe unvergleichlich, an Frische und Wahrheit der Empfindung denen Goethes im letzten Jahrzehnt überlegen. Und wäre dies alles nur zu lesen, um das einzige Rätsel lösbarer zu finden, wie er Goethes innigstes Gedicht „Um Mitternacht“ adäquat vertonen konnte, dürfte keine Mühe verdrießen, Zelters Part auszuleuchten.

Goethe/Zelter im letzten Lebensjahr S.61 Briefwechsel ?hier (geht nur bis 1827)

Um Mitternacht ging ich, nicht eben gerne,
Klein kleiner Knabe, jenen Kirchhof hin
Zu Vaters Haus, des Pfarrers; Stern an Sterne
Sie leuchteten doch alle gar zu schön;
    Um Mitternacht.

Wenn ich dann ferner in des Lebens Weite
Zur Liebsten mußte, mußte, weil sie zog,
Gestirn und Nordschein über mir im Streite,
Ich gehend, kommend Seligkeiten sog;
    Um Mitternacht.

Bis dann zu letzt des vollen Mondes Helle
So klar und deutlich mir ins [Finstere]1 drang,
Auch der Gedanke willig, sinnig, schnelle
Sich ums Vergangne wie ums Künftige schlang;
    Um Mitternacht.

Noch einmal zitiert bei Blumenberg Seite 211 („Auch ihn einmal weinen gesehen“) Zelter las ihm die Marienbader Elegie vor:

…jetzt hört er es vom Freund, der ihm so vieles hörbar gemacht, ihm »Um Mitternacht« vertont hatte: Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren, / Der ich noch erst der Götter Liebling war …

Blumenberg Seite 70 „Das unerlebbare Letzte“

Wiki Quelle hier / Friedrich Preller der Ältere

Zitat Seite 71f

Noch auf der ausgeführten Zeichnung schönster Überhöhung stand n. d. Natur gezeichnet 1832. Die dazu bekannte Skizze, die diesen Vermerk nicht trug, zeigte olympische Retusche. Erst 1949 ist Prellers ›Original‹ ans Licht gekommen, das er, vielleicht mit Rücksicht auf Ottilie, die zunächst gänzlich widersprochen hatte, für sich verbarg und gegen die sanftere Skizze vertauschte.

s.a. hier Auktionskatalog 1926 „Eine Goethe-Sammlung“ Nr.33

Blumenberg Seite 82 „Goethe, zum Beispiel“, die Nietzsche-Quellenangabe ist irreführend (Bd, XIII, 244), muss heißen: § 279. in „Menschliches, Allzumenschliches“.

279.

Von der Erleichterung des Lebens. – Ein Hauptmittel, um sich das Leben zu erleichtern, ist das Idealisiren aller Vorgänge desselben; man soll sich aber aus der Malerei recht deutlich machen, was idealisiren heisst. Der Maler verlangt, dass der Zuschauer nicht zu genau, zu scharf zusehe, er zwingt ihn in eine gewisse Ferne zurück, damit er von dort aus betrachte; er ist genöthigt, eine ganz bestimmte Entfernung des Betrachters vom Bilde vorauszusetzen; ja er muss sogar ein ebenso bestimmtes Maass von Schärfe des Auges bei seinem Betrachter annehmen; in solchen Dingen darf er durchaus nicht schwanken. Jeder also, der sein Leben idealisiren will, muss es nicht zu genau sehen wollen und seinen Blick immer in eine gewisse Entfernung zurückbannen. Dieses Kunststück verstand zum Beispiel Goethe.

Seite 76 Santa Maria della Minerva in Assisi

… denn sie ist und bleibt das Stück Heidentum im Christentum, das Goethe bleibend adaptieren wird, bis hin zum Schluß des zweiten »Faust«.

Selbst der gerühmte Palladio, auf den ich alles vertraute (Goethe)

Aus Goethes Text hier

Wenn man die erste poetische Idee, daß die Menschen meist unter freiem Himmel lebten und sich gelegentlich manchmal aus Not in Höhlen zurückzogen, noch realisiert sehen will, so muß man die Gebäude hier herum, besonders auf dem Lande, betreten, ganz im Sinn und Geschmack der Höhlen. Eine so unglaubliche Sorglosigkeit haben sie, um über dem Nachdenken nicht zu veralten. Mit unerhörtem Leichtsinn versäumen sie, sich auf den Winter, auf längere Nächte vorzubereiten, und leiden deshalb einen guten Teil des Jahres wie die Hunde. Hier in Foligno, in einer völlig homerischen Haushaltung, wo alles um ein auf der Erde brennendes Feuer in einer großen Halle versammelt ist, schreit und lärmt, am langen Tische speist, wie die Hochzeit von Kana gemalt wird, ergreife ich die Gelegenheit, dieses zu schreiben, da einer ein Tintenfaß holen läßt, woran ich unter solchen Umständen nicht gedacht hätte. Aber man sieht auch diesem Blatt die Kälte und die Unbequemlichkeit meines Schreibtisches an.

Blumenberg Seite 88

Man fragt sich, warum sich diese Seite im Goethebuch befindet und nicht in Blumenbergs „Matthäuspassion“ (1988), wo er sich von Seite 208 bis 222 mit diesem Thema befasst (›DER RUFET DEM ELIAS‹). Er verrät es hier aber doch in den letzten 5 Zeilen, wo er sich dem ›ungeheuren Spruch‹ Goethes zuwendet: Nihil contra deum nisi deus ipse – Nur ein Gott gegen einen Gott. Und da bleibt die Leserschaft von Gott verlassen, sofern sie nicht an Blumenbergs unendlicher Belesenheit teilhat oder – wie ich – unverdrossen das Internet befragt. Dort würde man fündig unter folgendem Link des Goethe Jahrbuches 13 Weimar 1952: Momme Mommsen: Zur Frage der Herkunft des Spruches „Nemo contra deum nisi deus ipse“.

Das bedeutendste Kapitel dieses ganzen posthum erstellten Goethe-Buches von Blumenberg scheint mir das dem Prometheus-Syndrom gewidmete zu sein: „Ein Geschlecht das mir gleich sey“, Seite 112 – 138. Es betrifft die Wechselwirkung mit Schopenhauer bzw. dessen Auseinandersetzung mit der Farbenlehre. Und damit einen philosophischen Diskurs angesichts der Wirk- und Fliehkräfte zwischen den Monumenten Kant und Newton.

Wunderbar auch die Richtigstellung zu dem berühmten Ausspruch Goethes über die Kanonade bei Valmy, – sein Hang, dem Sinnlosen, das ihn tangiert, durch Umwidmung eine höhere Bedeutung abzugewinnen. Seite 113ff: „Gelübde auf dem Rückzug„.

Was mich warum ergriff

Draußen, das Blühen?

SZ 17./18.06.2ß23

Also: warum? Niemand würde es erraten. Als erstes das zitierte Lied, dessen Zeile mich ansprang, dann der gut geschriebene Artikel, die vermutete politische Rehabilitation der Deutschen Romantik um 1848. Vorsatz, das Museum zu verlinken. Hier ist es. Ah, ich verstehe, weshalb Johan Schloemann so inspiriert geschrieben hat… Aber da ist noch etwas:

Die Noten von damals, mit den sparsamen Einzeichnungen zum Vortrag (Schrift: Franz Müller-Heuser), wie haben wir an dem Takt auf Seite 195 2. Zeile geübt: „alles, alles wenden“. Die Examenskandidatin, deren Kehle sich mit diesem Ornament schwer tat, und ich am Klavier. Übrigens: sie war schwanger, nach ihrem Examen im Oktober 1965 heirateten wir. Ein Konglomerat ungeordneter Gefühle, ich plante nicht, mein Studium abzubrechen. „… das Blühen will nicht enden, es will nicht enden“. Allenthalben schwelten schon die linken Ideen der zukünftigen 68er. In der Musikhochschule rebellierte nur Klaus der Geiger. 1967 Violinexamen und Orient-Tournee, 1970 Abschluss der Dissertation über Arabische Musik. Weiter im WDR.

Wie ich zu „meiner“ Zeit politische Geschichte nachholte

Das letzte Kapitel in demselben Buch: Epimetheus statt Prometheus / Hoffnung?

Quelle Imanuel Geiss: Geschichte im Überblick / Daten und Zusammenhänge / Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1986

Wie die politische Utopie bei den beiden Romantikern endete:

Süddeutsche Zeitung 17./18. Juni 2023 Seite 49 „Das Blühen will nicht enden“ Waren deutsche „Dichter und Denker“ 1848 zu verkopft und haben die Revolution verspielt? Ludwig Uhland und Jacob Grimm bewisesen das Gegenteil / Von Johan Schloemann

Nochmals: das Museum! Hier finden Sie es.

Freud zur Frauenverachtung

Die neue ZEIT hat wieder einiges aufgerührt. Ich wurde früh konfrontiert mit der Frage, weshalb der „traditionelle“ Mann oft schwankt zwischen Anbetung und Herabsetzung einer Frau; ich glaube, an Baudelaire fiel es mir zuerst auf (oder ich las es irgendwo), entweder Heilige oder Hure, fühlte mich ertappt, im täglichen Leben ähnliche Denkvorgänge: die Mutter, die eine Reinheit des Geistes propagierte, die nicht zu den niedrigen Begierden passte, die im eigenen Innern wühlten, Befremden darüber, wie schnell der Übergang von der Anbetung zur Herabsetzung geht, zur Verächtlichmachung. Der Fuchs und die Trauben! Männliche Tendenz zur Demütigung der Frau, besonders der nicht mehr schönen, gealterten Frau. Erinnerungsfetzen: wie ein Mann einer schönen Frau, die an ihm vorübergeht, zuruft: „Sie haben krumme Beine!“ Wie ich mich als Mann schämte. Denn ich verstand irgendwie die Tendenz zur Rache für die Beunruhigung, die jede schöne Frau den Männern zuzumuten scheint. Durch ihre bloße Existenz. Und: ihre absolute Unverfügbarkeit! Brutale Abreaktion durch herabsetzende, reduzierende Worte als Strafe für eine (mutmaßliche) Zurückweisung. Oft auch verhaltener, wenn sie alt sind, und sich für wohlfeile Verherrlichung nicht mehr eignen. Warum denke ich wieder an meine Mutter?

Übrigens stieß ich ebenso früh wie auf Romano Guardinis „Sokrates im Gespräch“ auf Sigmund Freuds „Abriss der Psychoanalyse“ (Fischer-Bücher). Aber 1966 war es tatsächlich schon meine Mutter, die als Mitglied der „Deutschen Buchgemeinschaft“ mir (ahnungslos) den Sammelband „Das Unbewußte“ zu Weihnachten (!) schenkte. Ich las sehr aufmerksam die „Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens“, ohne aber wirklich reif zu sein für eine Selbstanalyse nach diesem Muster; ich war noch auf dem Wege, die Mutter auszuklammern. Nachträglich gab es nichts einzuklagen. „Damals war doch Krieg!“ Ja, und davor war es ihr streng autoritärer Vater, von dem sie sich lebenslang lösen musste, der letztlich auch erst durch die Enkel weicher wurde… Daher hat er auch hier den rechten Platz als Denkmal der väterlichen Güte.

Quelle Sigmund Freud: Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens (1918), in: Das Unbewußte / Schriften zur Psychoanalyse / Deutsche Buchgemeinschaft Berlin, Darmstadt, Wien 1965 / vorher S.Fischer 1940 etc.

Seltsam, wie sich alles zusammenfügen will, sobald man diese Zeitung liest, – es ist eine neue Zeit, die dafür sorgt. Oder die es erzwingt. Nicht diese zwanghafte Gegenwart, sondern die Abwesenheit des Vaters, der Vaterfigur, könnte ebenso ein Thema für viele Menschen sein (siehe „Eisenherz„). Und wieder lautet die Antwort: „Es war ja Krieg!“ – Meine nächste Lektüre:

DIE ZEIT 16.02.23 Seite 48

Zwei Zitate aus der ZEIT-Rezension (Golo Maurer):

Vielleicht ist es erst unseren, für jede Form des Machtmissbrauchs sensibilisierten Zeiten möglich zu erkennen, dass auch die verweigerte körperliche wie seelische Nähe eine Form des elterlichen Missbrauchs, ja der Gewaltanwendung sein kann, eine besonders grausame, wo sie mit der rücksichtslosen Inanspruchnahme subalterner Dienste einhergeht. Es kommen einem die Tränen, wenn man lesen muss, wie verzweifelt August jahrzehntelang um die bloße Aufmerksamkeit des Vaters mehr bettelte als warb, um sich ihm gleichzeitig in immer neuen Steigerungen der Unterwerfung anzubieten.

(…) Hochinteressant dann die aus heutiger Sicht haarsträubenden Umstände des beruflichen Werdegangs des Helden: Das klassische Weimar erscheint dabei als Bananenrepublik, Vetternwirtschaft pur, wo man schaltet und waltet, wie es gerade passt.

Altvater Reichow

Mühlenbesitzer

 

Was nützt es mir, den „Altvater“ zu kennen? Auch „Stammvater“. Er erinnert mich allerdings an meinen alten Freund Uli. Der hier im Bergischen viel Land besaß, – aber eine Mühle wohl nicht.

Das Wort Mühlenbesitzer ist mir nur insofern wichtig, als dieser Vorfahr im Sterbejahr von Franz Schubert geboren wurde, in dessen Leben die Mühle eine besondere Rolle spielte.

Auf der Rückseite des Fotos wird das beglaubigt von Ruth, der Schwester meines Vaters Artur, alles weitere ergab meine Recherche in Familien-Dokumenten.

Friedrich Hermann August Reichow geb. 19.02.1828 in Altbelz, gest. daselbst 17.07.1902, verheiratet am 16.06.1856 mit Wilhelmine Auguste Johanne Lassahn, geb. 02.12.1833, gest. 24.11.1896 (Altbelz).

Sohn: Karl Bernhard Robert Reichow geb. 16.05.1871 in AltBelz gest. 20.12.1922 in Belgard

Enkel: Artur Viktor Gerhard Reichow geb. 07.12.1901 in Roggow Kreis Belgard gest. 31.08.1959 in Bielefeld

Urenkel: Jan Friedrich Artur Reichow geb. 05.12.1940 in Greifswald

Jan Reichow mit Tante Ruth, Dez.1989, an der Wand ein Ölbild ihrer Mutter, unserer Oma: Margarete Reichow geb.Paske (1871-1961) verh. mit Bernhard Reichow (1871-1922).

   die Eltern von Hans Bernhard, Artur und Ruth u.a.

P.S. Von dem Ölbild (oben, an der Wand) wurde allerdings gesagt, es habe zu wenig Ähnlichkeit! Ich habe hier in unserm „Klavierkeller“ – mit Blick auf den Flügel – noch ein zweites. Meine Oma war immerhin der erste Mensch unserer Familie mit nachgewiesener musikalischer Begabung. Lieblingsstück: „Die diebische Elster“ von Rossini; bei jedem Besuch musste mein Vater es für sie spielen. Mein Bruder und ich hingegen (Klavier und Geige) den „Faust-Walzer“ von Gounod.

Und Freund Uli? Ich vergesse nie, wie er mir half, im Garten zwei mittelgroße Bäume umzulegen.

(Fotos: E.Reichow)

Grabstein als Last

Als mein Vater am 31. August 1959 gestorben war, ging es zunächst gar nicht um den Grabstein. Niemand hatte es damit eilig. Fest stand aber schon, dass darauf Platz sein sollte für den Namen und die Daten unserer Mutter. Niemand ahnte – am wenigstens sie selbst – dass sie noch fast ein halbes Jahrhundert vor sich hatte.

Schon zu Weihnachten präsentierte ihr ein seit alters befreundeter Künstler als Geschenk einen Grabsteinentwurf, der in der engeren Familie auf einhellige Ablehnung stieß. Erstens: dieses harfenähnliche Instrument, vielleicht in Erinnerung an ein weihnachtliches Schulkonzert meines Vaters, das er selbst zu unser aller Befremden betitelt hatte: „Zwingt die Saiten in Kythera“, – oder Cythara? niemand kannte den Choral oder die Bach-Kantate BWV 36, in der er vorkommt. Was soll das Wort „zwingt“? Und das andere: hieß es vielleicht korrekt Kythara? Natürlich, siehe hier. Eine altgriechische Zither oder Leier? Aber mein Vater sah sich doch lebenslang am Flügel, nicht einmal eine Gitarre rührte er an, die unter Schülern plötzlich hoch im Kurs stand. Für sie hatte er sogar Gershwin geübt. Aber – was ist das: feixte dieser Grabstein nicht ungehörig?

Der Entwurf hatte keine Chance. So peinlich er uns war, wie sollte man es begründen? Der eigentliche Grund lag tiefer, aber niemand kam drauf. Nicht das Altgriechisch-Zopfig-Musische störte, sondern das Soldatische, das meinem Vater immer unsympathisch gewesen war. Ein Heldengrab? Es ist dem alten vaterländischen Orden nachempfunden. Eine Art Eisernes Kreuz für musikalische Verdienste posthum? Am Ende der fünfziger Jahre?

Und heute, nach weiteren 60 Jahren fällt es mir auf, was genau uns damals widerstrebte:

Quelle Wiki hier

In meiner Sammlung familiärer Erinnerungsstücke befindet sich auch das folgende Verdienstkreuz (für Onkel Ernst, den Bruder unsrer Mutter, der seit 1943 dann im Osten „vermisst“ war).

Was für ein Formenspiel, was hat das alles zu bedeuten? Ich lese hier. Im folgenden Zitat geht es um die Ordensstiftung im Jahr 1813 (alles weitere siehe im Link):

Auch die Form des neuen Ehrenzeichens war symbolisch aufgeladen. Bewusst wurde die Anlehnung an das Balkenkreuz des Deutschen Ordens gesucht: ein schwarzes Tatzenkreuz mit sich verbreiternden Balkenenden auf einem weißen Mantel, wie ihn die Deutschritter schon seit dem 14. Jahrhundert tragen. Damit sollte der nun beginnende Krieg in die Tradition der Kreuzzüge gerückt und so sakralisiert werden. Im Mittelpunkt der Symbolwelt um das Eiserne Kreuz stand die Ehefrau Friedrich Wilhelms III., Königin Luise. Seit ihrem Tod 1810 hatte sich um sie ein Mythos als vorbildliche Gattin, liebende Mutter, preußische Madonna und Märtyrerin gesponnen, an den der König mit dem Eisernen Kreuz anknüpfte.

All dies hat mit meinem Vater nichts zu tun. Die 50er Jahre waren auch für uns mit seinem Lebensende vorbei… Sein Grabstein sollte abgerundet sein. Ich fuhr im April 1960 nach Berlin, um dort zu studieren, wo auch er studiert hatte. Wichtiger war allerdings: Ich wollte so weit wie nur möglich fort von zu Hause.

Mehr von Busoni, bitte!

(also sprach:) Meine innere Stimme (5.2.23)

Voraussetzungslos (nur hören!), Bild nach Beginn wegschalten. Nur Musik: Sarabande etc :

und … ein weiteres Mal (ernsthaft) hören, nichts unbeachtet lassen…

Der Pianist:

Content:

Ferruccio Busoni, piano LP, International Piano Archives, IPA 104, 1976 Rec. February 27, 1922, London studios of British Columbia Records

00:00 Bach: Prelude & Fugue in C major, WTC, Book 1 04:00 Bach-Busoni: Organ Prelude „Rejoice, Beloved Christians“ 05:51 Beethoven-Busoni: Ecossaises 07:53 Chopin: Prelude in A major, Op. 28 No. 7 — Etude in G-flat major, Op. 10 No. 5 10:44 Chopin: Etude in E minor, Op. 25 No. 5 14:08 Chopin: Etude in G-flat major, Op. 10 No. 5 (alternate version) 16:01 Chopin: Nocturne in F-sharp major, Op. 15 No. 2 19:41 Liszt: Hungarian Rhapsody No. 13 (abbreviated)

Lesen:

Frank Hentschel über Busoni und seine „Faust-Oper“: HIER.

Abstract:

Before its completion, Busoni once referred to one of his operas he was then composing, either Arlecchino or Doktor Faust, as an „opera (that won’t be an opera).“ The article takes this phrase as a point of departure to gain insight into some of the aesthetic and poetic features of Doktor Faust. Rather than focusing on the history or theory of genre, attention is given to Busoni ’s idea of opera, his dramaturgical intentions, his relationship to expressionism, and his use of independent forms.

Insbesondere zu beachten: 3. Keine Erotik S.314

,,Ein Liebesduett auf offener Bühne“ nannte Busoni „völlig falsch und verlogen und überdies lächerlich“. Er veranschaulichte dies durch die Absurdität von Bühnenkonstellationen, wie man sie durchaus kennt: ,,Nichts Schlimmeres zu sehen und zu hören als ein kleiner Mann und eine große Dame, die einander in Melodien anschwärmen und sich die Hände halten“. Aber hinter Busonis erregtem Wortschwall verbarg sich mehr: Er nannte das Liebesduett auch „schamlos“ (MO, 22), und darin dürfte der eigentliche Schlüssel zu Busonis Problem mit dem Liebesduett liegen. Jemand, der in der Oper überall das Wunderbare, Unwahrscheinliche suchte und der den Verismus ablehnte, konnte das Liebesduett nicht ernsthaft deswegen zurückweisen, weil es unwahr sei. Doch Busoni ging es eben um diesen anderen Aspekt – den der Schamlosigkeit. ,,Erotik“ sei „kein Vorwurf für die Kunst, sondern eine Angelegenheit des Lebens“, erklärte er daher auch und nannte die Situation eines Publikums, das einem Liebesduett zuhört, ,,peinlich“. Die Alten hätten
demgegenüber noch Geschmack besessen (MO, 23).

Wohlgemerkt: „eine Angelegenheit des Lebens“.

Kurz-Exkurs zur Schamlosigkeit: (folgt)  (JK Otello im Beifall Baden-Baden)

Zum Studium der Partitur