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Mozart C-dur bedenken

Im Konzertsaal mit vielen anderen

Man kann es kaum glauben: die innersten Seiten des Feuilletons, das Kernstück der ganzen ZEIT, ist der klassischen Musik gewidmet, und man beginnt zu hoffen, dass es nicht nur dem Nationalfeiertag geschuldet ist. Gewiss, manches zielt auch auf das Gedenken des 7. Oktobers, eine Warnung vor dem Anwachsen des Antisemitismus. Zu recht, aber das ist ein anderes Thema.

Und was Navid Kermani zur Musik notiert, lohnt sich immer zu reflektieren. Obwohl es vorsichtiger geschieht, als es früher in aller Munde war, etwa: dass Musik eine Sprache sei, die alle Menschen verstehen. Er weiß, dass Musik wie jede Sprache gelernt werden muss. Und hebt vor allem die Orte hervor, an denen sie Menschen zum Zuhören versammelt.

DIE ZEIT S.54 vormerken: der Autor wird Daniil Trifonov mit Mozart KV 503 (am 2.9.24) hören, wir heute auch, allerdings in einer Aufnahme aus dem Jahre 2021.

Quelle DIE ZEIT Feuilleton „Die Kraft der klassischen Musik“ mit Navid Kermani und Simon Rattle, 2. Oktober 2024, Seite 54 und 55.

Dem abschließenden Satz von Mendelssohn Bartholdy darf vielleicht an dieser Stelle ein ähnlich berühmter von Victor Hugo folgen, den man leicht verwechselt:

Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.

in Feiertagspracht!

Die Mittelseiten des ZEIT-Feuilletons also, wohl im Blick auf den Feiertag, einerseits: Achtung Klassik! andererseits: keine Angst! links Navid Kermani, die andere Hälfte Simon Rattle im Interview. Und auch er begründet die Notwendigkeit der klassischen Musik FÜR ALLE in der heutigen Welt und zwar verblüffend einfach, – wenn er gefragt wird, wie es gelingen könnte, sie aus dem Elfenbeinturm herauszuholen, in dem sie für viele Menschen zu stecken scheint: „Türen auf! Fenster auf! Die Leute sollen sich willkommen fühlen und ihren eigenen Umgang mit der Musik finden dürfen.“

Sagen Sie es allen, die es gebrauchen können: das große, gute Gefühl genügt! Einstweilen. Es bleibt immer noch viel Raum nach oben und unten und auch seitlich, ohne dass man sich darauf etwas einbilden kann. Irgendwann will man einfach noch mehr wissen, sogar alles, was es da zu wissen gibt, und zugleich wächst das Gefühl für diese Dinge und für die angemessene Sprache. Und mit Recht stellt Rattle ein Wort in den Raum, vor dem sich mancheiner scheut: POESIE. Gemeint ist eine andere Realität, nicht die fleißige Buchhalterei. Ich weise immer mit Vorbehalt auf Wissensquellen hin, wie im folgenden Mozart-Link: machen Sie was Eigenes draus, wenn sie wollen, es muss nur das Hören bereichern, nicht den Smalltalk vor oder nach dem Konzert.

Im folgenden Youtube ab 11:05 / vorher event. Wiki Mozart C-dur KV 503

Eine ketzerische Frage: Was kann man tun, um solche C-dur-Werke Mozarts nicht zu unterschätzen?

Ich erinnere mich, dass ich in meiner frühen Zeit als Klavierspieler bei Mozart Beethovensche Maßstäbe anlegte und nur eine Subjektivität dieser Art positiv einschätzte, nie den „harmlosen“, kindlichen Mozart (sozusagen meinen Mentalitätsgenossen) anerkannte. Dennoch die „Facile“-Sonate trotz des C-dur-Charakters gelten ließ, das Andante als absolut expressiv empfand, natürlich – rückwirkend – nur dank der Wendung nach g-moll im Mittelteil, den Schlusssatz aber nicht mehr übenswert fand. Diese Rangfolge der Mozart-Charaktere blieb für mich fast meine ganze Schülerzeit lang verbindlich, – mit allmählichem Vorstoß zu Rachmaninow (und Wagner) als Höhepunkt der Ausdrucksgeschichte. Eine kindliche Geschichte, man muss sie nicht vertiefen. Aber letztlich ist sie schwer zu überwinden, weil das ganze (wichtige) 19. Jahrhundert sie zementieren hilft. Es motiviert aber auch, sie in ihrer schon von Mozart vorgegebenen Haltung zu erfassen, wie ich später durch Dibelius‘ „Mozart-Aspekte“ lernte, – anhand der Klavierkonzerte.

Quelle Ulrich Dibelius: Mozart-Aspekte / Bärenreiter dtv München 1973 ISBN 3-423-00802-4

Mit Hilfe dieser Rückblende kann man das vorliegende Konzert künstlich problematisieren; ich tue es, um meine scheinbar naive Beurteilung von einst quasi ernstzunehmen, indem ich sage: aha, der C-dur-Mozart, er will mich mit Lebensfreude einfangen (während ich lieber den von Leid gezeichneten Pathetiker erwartete). Welchen Erwartungen aber versuchte er selbst damals zu begegnen, – wenn überhaupt er sich herabließ, diese zu kalkulieren?

Was ich Mitte der 70er Jahre von Dibelius gelernt habe, konnte ich 30 Jahre später ihm selber berichten, im Urlaub auf La Palma. Eine angenehme Begegnung…

Ulrich Dibelius & JR  2005 (Foto E.Reichow)

Folgen wir doch einmal der Beschreibung des Mozart-Werkes in Wikipedia, aber mit der Tendenz, vor allem die thematische und motivische Abwandlung zu identifizieren (dazu jeden Orgelpunkt, der einem leicht entgeht, aber durchaus als bedeutsames Zeichen gilt) :

Das eröffnende Allegro ist der längste Konzertsatz in Mozarts Schaffen. Die ausführliche Exposition beginnt (11:11) mit einigen feierlichen Akkorden des ganzen Orchesters. Das Hauptthema entwickelt sich in der Folge auch über eine Wendung nach Moll. Eine Überleitung, in der sich Trompeten und Pauke feierlich äußern, führt zum zweiten Thema (12:50), das zunächst in Moll erscheint, sich dann jedoch nach Dur wendet – die Dur-Variante hat eine sehr entfernte Verwandtschaft mit dem Kopfmotiv der später entstandenen Marseillaise.[1] Die Soloexposition beginnt relativ unscheinbar, mit einem unthematischen Entrée des Pianisten. (14:08) Zudem ist der Zeitpunkt, zu dem sie beginnt, verglichen mit anderen Mozartschen Klavierkonzerten recht ungewöhnlich. Das Orchester schließt in einem kraftvollen forte-Akkord ab und das Klavier wird erwartet. Jedoch überraschen die Streichinstrumente mit einer Art kurzen Überleitung in piano. Es folgt die Einstimmung des Klaviers in das feierliche Hauptthema des Satzes (14:50), das anschließend erweitert wird. Modulationen über Es-Dur, g-Moll und G-Dur führen zum gesanglichen und friedlichen dritten Thema des Satzes (15:56), welches durch das Soloklavier eingeführt wird. Erst nach 228 Takten endet die ausgedehnte Exposition. (18:29) Es schließt sich eine verhältnismäßig kurze Durchführung an, die das Marseillaise-Thema bevorzugt. Es kommt hier zu einer ausgefeilten polyphonen Verdichtung des Gedankens. Ein achttaktiger Orgelpunkt führt zur Reprise, (20:25) die größtenteils regelgerecht verläuft. Jedoch nimmt die Modulation zum dritten Thema weitschweifendere Wege über entlegene Tonarten wie es-Moll und Ces-Dur. Die großangelegte Solokadenz (24:13 von Trifonov) erarbeitet Motive aller Themen und wendet sie ebenfalls häufig nach Moll. Ein kurzes Schlussritornell (25:40) beendet den Satz mit majestätischen Akkorden. (26:17)

Mit den Noten in der Hand kann man noch mehr ins Detail gehen:

Quelle Marius Flothuis: Mozarts Klavierkonzerte / Ein musikalischer Werkführer /  Beck’sche Reihe C.H.Beck München 1998 / Seite 134

Mit einiger Übung kann man – aufmerksam die Musik hörend – nebenher dem analytischen Text folgen, – ohne wie in dem obigen Überblick bei einer bestimmten Stelle über Gebühr innezuhalten (T.208-210 „Mittelgedanken“!), der Grund: es gibt dazu eine Mozart-Skizze. Sonst geht es Ihnen wie mir und es ist allzu schnell vorbei!!!  Mit der Formulierung „siebentöniges Motiv zweimal wiederholt“ meint Flothuis offenbar die chromatischen Achtelketten im Klavier „fis-g-gis-a-b-h-c“ vor dem langen Triller auf a, der Ende des 1.Systems beginnt :

17:46

17:58

Wie angedeutet: man muss dieses Detail nicht identifizieren, insofern provoziert es in der Flothuis-Analyse zuviel Worte. Es war für mich nur eine Sache des Ehrgeizes… (nochmal in 23:38 vor Kadenz!)

Nebenbei: die Bezeichnung Marseillaise-Thema, die kaum wieder zu löschen ist, hat keinen Wert, zumal der Auftakt nicht punktiert ist und der Sprung in die hohe Oktave (zum Glück) fehlt. Man wird jedes Thema leicht als unverwechselbares Individuum wahrnehmen, auch wenn ein Auftakt-Motiv sich in wundersamsten Modulationen verselbständigt, gerade dann! Dieses Gespinst aus Themen wird sich als wahres Wunderwerk einprägen. Niemals wieder wird meine flüchtige Erinnerung diesen Satz auf seine C-dur-Fanfare reduzieren.

*     *     *

2. Satz Andante ab 26:26 bis 34:36  3. Satz Allegretto ab 34:38 bis 43:22

Ein ähnlicher Störfaktor Im dritten Satz: wiederum Gelesenes, Gelerntes, das ich hier nicht mehr ausbreiten kann, verschiedene Mozart-Lektüren, aufgerührt durch das Kopfthema, das die alten Vorurteile unvermindert lebhaft reproduziert: irgendwie „läppisch“ wie im Finale der „Facile“-Sonate, – und es muss doch mehr dahinterstecken, – dies als Ziel eines großen, eines wirklich großen Konzertes? Aber ich erinnere mich an die Begeisterung über ein anders Buch, das mich – wie ich glaubte – derart überzeugend ein neues Hören lehrte, dass ich es gleich noch zweimal verschenkte. Ohne großes Echo. Jedoch Anlass genug, dem Erlebnis noch einmal nachzugehen, aber in einem separaten Blogartikel, den ich an dieser Stelle verlinken will. Vorweg nur das Zitat von Haydns Traum (ja, er träumte von Mozarts Musik!).

Autor: Lorenz Lütteken. Aufs neue bringt es mich zum Nachdenken – der Traumzustand -, wird uns nicht bewusst durch eine Zäsur, seltsamerweise beim Einsatz des Solo-Klaviers im ersten Satz (zwischen 14:08 und 14:49)? Als ein „Weckruf“, der nicht uns weckt, sondern den Stellenwert der Wirklichkeit im Konzert verändert. Ohnehin dank der Tatsache, dass sie auf einer Bühne dargeboten wird, jetzt aber auch als Medienwirklichkeit: die Bühne als Bühne auf dem Bildschirm. Nur die Erinnerung an andere, wechselnde, öffentliche Konzerte bewirkt, dass man sich die jeweilige Musik auch als separat existierende (wartende) Botschaft vorstellen kann. Und zwar in einer Form wechselnder seelischer Bewegungen, die schneller wechseln dürfen, als es dem möglichen Ablauf von Gefühlen in der Wirklichkeit entspricht. Wir reagieren nicht ablehnend, weil wir sie als Erinnerungsbilder erkennen, sie können in beliebig schneller Folge aufgerufen bzw. angeboten werden, auch wiederholt, retardiert und beschleunigt werden. Wir haben eine Distanz, die dies zu genießen erlaubt, und zwar gemeinsam mit anderen Menschen, einem Publikum, welches im modernen Medium die offensichtliche Illusion in einer versteckten Dimension ergänzt. Das Publikum: WIR. (Vielleicht auch projiziert auf das damalige WIR?)

Es wäre müßig zu fragen, ob ein Subjekt zu uns spricht, monologisch, oder ob es (=der Komponist) eine Anzahl von Personen sprechen lässt, wie man von Mozart sagt, der sich auch in einem Klavierkonzert die „Realität“ einer Bühne vorstellte, Menschen oder Gruppen von Menschen, – 1 Klavier, Streicher, Blechbläser, Holzbläser, die miteinander interagieren. Wohlgemerkt mit Momenten der Besinnung, der Innerlichkeit, die wir fälschlich allein dem kreativen Urheber zuordnen.

So, wie wir bei Bach problematisieren wollen, ob er selbst leidet wie Petrus (?) in der „Erbarme Dich“-Arie, oder wie im Mittelteil des „Es ist vollbracht“-Lamentos jederzeit selbst in die Rolle des siegreichen „Held von Juda“ schlüpfen kann. Dessen Kampf-Gestus ihm aber ebenso für den Grund-Charakter des Fünften Brandenburgischen zu Gebote steht. Horcht er etwa in das eigene Innere oder greift er in die Palette der allenthalben herausgebildeten Affektenlehre? Oder kann er etwa – beides, und noch viel mehr?

Gehen Sie doch probeweise in den Schluss des Mozartschen Mittelsatzes (um 34:30), um dessen Ruhe noch zu spüren, und weiter in den 3. Satz , hüten Sie sich, dabei die Kurzatmigkeit des Finalethemas zu monieren. Achten Sie auf den Wechsel der Instrumentengruppen, wie sie aufeinander reagieren, wann sich das Klavier zum erstenmal auf das kurzatmige Haupt(?)thema einlässt, und fragen Sie sich schließlich, was zwischen 38:00 und 40:00 geschieht: in welcher Sphäre befinden Sie sich, wann beginnen Sie zum Augenblick zu sagen „Verweile doch, du bist so schön!“, und es dehnt sich so wunderbar, der Holzbläserklang trägt das Klavier – und uns ebenso – bis….? Ja, bis wir aufatmen bei der Wiedererscheinung des Themas und weiter bis zum Schluss eingebunden bleiben.

Bedauern Sie, dass Ihnen jede detaillierte Formübersicht für diesen Satz versagt bleibt? Wissen Sie WARUM? Weil Sie wirklich zuhören. Oh, wenn Sie das Simon Rattle erzählen könnten! Und Navid Kermani! Aber vielleicht brauchte er nur Mendelssohn-Ausspruch zu variieren, etwa derart, dass Sie diese Musik lieben, weil sie ihren musikalischen Gedankengängen genauer denn je folgen konnten, – als hätten Sie eine szenische Bühnendarstellung erlebt, die sich von selbst versteht.

Ach Mozart. Ich bereue. Nicht erlahmen, und zurück ans Klavier! Allein, ohne Zeugen.

Der Glocken bebendes Getön

Rachmaninow und Bach

Suzdal, Erloeser-Euthymios-Kloster: Russisch-orthodoxes Glocken-Schlagen

Das Kloster ist heute ein Museum. „Ein staatlich beauftragter Glockenspieler führt während der Museumsöffnungszeiten zu jeder vollen Stunde das traditionelle russisch-orthodoxe Glockenschlagen mit dem historischen Geläute der dortigen Glockenwand vor. Bei einem längeren Museumsbesuch kann man diese faszinierende musikalische Darbietung also mehrmals erleben. Nach vorheriger Absprache mit dem Glöckner können angemeldete Besucher das Geläute auch oben auf der Glockenwand verfolgen.“

Heute in FAZ online HIER interessantes Gespräch zwischen Jan Brachmann und dem russischen Pianisten Daniil Trifonow, der sich mit Rachmaninows Glocken-Faszination beschäftigt hat. ZITAT:

Meine Mutter kommt aus Susdal, einer der ältesten Städte in Russland. Meine Eltern waren gerade wieder da und schickten mir ein kleines Video mit dem Mittagsläuten vom Glockenturm. Das ist eine unglaubliche Polyphonie von zwanzig Glocken, die von einem einzigen Glöckner mit verschiedenen Teilen seines Körpers bedient werden.

Man muss dazu wissen, dass man beim Läuten in Russland nicht die Glocke, sondern den Klöppel bewegt. Das erlaubt das Schlagen ganz exakter rhythmischer und melodischer Muster. Die Klöppel sind durch Seile und Schnüre zu einem komplexen Spieltisch verbunden, der mit den Fingern, der Hüfte und durch Bretter als Pedale bedient wird.

Ja, Glöckner in Russland: Das ist ein schwerer Beruf. Als ich fünfzehn Jahre alt war – ich bin ja in dem Jahr geboren, als die Sowjetunion kollabierte–, fand in Moskau, wo ich studierte, eine Messe der Glockengießer statt. Dort konnte man, unter freiem Himmel, in der Mitte eines Parks, spielen und Dinge ausprobieren. Das war zwar kein Geläut von zwanzig Glocken, aber man konnte schnell verstehen, wie es funktioniert und wie es gestimmt war. Seitdem kann ich ahnen, was das für Rachmaninow bedeutet hat.

Rachmaninow war in Moskau Schüler von Stepan Smolenski, der Kurse für die alte Notenschrift des russisch-orthodoxen Kirchengesangs anbot und die erste wissenschaftliche Studie über die altrussische Glockenmusik der Kirche verfasste. Er hat verschiedene Geläut-Dispositionen in Kirchen beschrieben und die unterschiedlichen Schlagmuster des Läutens für die entsprechenden liturgischen Anlässe: das Blagowest-Läuten vor dem Gottesdienst, das Perebor-Läuten bei Beerdigungen, das Triswon-Läuten zu hohen Festtagen oder beim Abendmahl. Im ersten Satz von Rachmaninows zweitem Konzert hört man quasi die Überlagerung einer westlichen Sonatenform mit dem kondensierten Ablauf einer russisch-orthodoxen Liturgie.

Quelle Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ online  Trifonov über Rachmaninov: Das ist tiefreligiöse Musik eines Zweiflers/  Von Jan Brachmann / Aktualisiert am 15.10.2019 

Für den Hinweis auf den FAZ-Artikel danke ich Berthold Seliger.

Der Zufall will es, dass gerade heute auch in der Süddeutschen ein Artikel zu lesen ist, der die Glocken zum Thema zu haben scheint, sich aber als Buchbesprechung entpuppt: Bruno Preisendörfer: Als die Musik in Deutschland spielte. Reise in die Bachzeit, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019 / Von Kristina Maidt-Zinke. Der SZ-Autorin spart nicht mit Lob, aber etwas hat ihr wohl gefehlt (und mir würde es sicher genauso ergehen), wie sich zeigt:

Was man aber in seinem Buch vermisst, wird am Ende deutlich, wenn er über das Altus-Rezitativ „Der Glocken bebendes Getön“ in der Kantate 198, der Trauerode auf den Tod der Kurfürstin von Sachsen, schreibt: „In Bachs Vertonung… simulieren an dieser Stelle für fünfzig Sekunden die Streicher, Flöten, Oboen und Lauten das Totengeläut, dass es einem beim Hören noch heute tatsächlich durch ‚Mark und Adern‘ geht.“ Hier öffnet sich durch die Schilderung von wenigen Takten Musik, ganz kurz ein Fenster, das mehr über Bach und seine Zeit verrät, als es die detailreichste Darstellung von Lebensumständen vermag. Und der Hinweis auf „diese Stelle“ ist schon die ganze Lektüre wert.

Quelle Süddeutsche Zeitung 15.Oktober 2019 Sachbuch V2  Seite 19: Der Glocken bebendes Getön / Kundig und detailverliebt führt Bruno Preisendörfer durch die Welt Johann Sebastian Bachs / Von Kristina Maidt-Zinke.

Und vom Bericht der Journalistin entflammt suche ich den Youtube-Zugang zu diesem kleinen Rezitativ und verweile so lange wie möglich beim Gesamtwerk, ehe ich empfehle, direkt auf den Zeitpunkt 11:07 zu springen, um dieses – für den Aufwand an Malerei – vielleicht doch allzukurze Rezitativ herauszuheben und natürlich: mehrmals zu hören. (Oder lieber im externen Fenster? Hier. Den Text zum gleichzeitigen Mitlesen hier unter dem entsprechenden Kantatentitel.)

[Mitwirkende: ab 33:24]

Wenn aber Ihre Neugier noch weiter geht, – und Sie wollen mehr übers Bachs Glockenvorstellungen, seine Klangwelt in Leipzig und sogar noch eine weitere Kantate kennenlernen, dann haben Sie die Gelegenheit in diesem Blog HIER.

Heute neu!

Der versprochene Text zum Nachlesen (und etwas zum Nachhören)

Solinger Klaviertrio-Konzert Moderation JR 8.Mai 2016 – neuerdings angehängt hier

Ein kleiner Zusatz im Text Mendelssohn, der der Fortsetzung bedarf, – hier !

Dies nur vorläufig zur Erinnerung für mich selbst. Für kurze Zeit. Mal sehn.

***

Aber – gerade zurück von der Bank und vom gegenüberliegenden Bahnhof – kann ich auch die dort neu erworbenen Nachrichten nicht aussparen: DER SPIEGEL und die Süddeutsche Zeitung. Daniil Trifonow interessiert mich, seit ich ihn im Fernsehen mit dem Geiger Kavakos erlebt habe. Und jetzt in den letzten Tagen: wie er Schumann spielt (siehe hier). Das Interview im Spiegel ist sehr lesenswert. Ich gebe zunächst nur einen Satz wieder, den ich aus privaten Gründen sofort unterschreiben will. (Der einschlägige Blog-Leser weiß warum!) Bitteschön:

„Da jeder Ton zählt, fällt es auch leicht, sich ihn zu merken.“ (Daniil Trifonow im Spiegel)

Als nächstes wäre der Essay von Slavoj Žižek über Transgender zu nennen, dann der Artikel über Zahlenkunde, mit dem Lockruf einer „Weltformel“ und der Überschrift „Befreundete Kurven“, zur Abschreckung schaue man http://www.lmfdb.org/.

Süddeutsche Zeitung: durchaus das Gespräch mit Udo Lindenberg. „Hoch im Norden“ usw. hatte ich 1974 mit beim Spanien-Urlaub in Calpe, dazu viel Heinrich Schütz mit den Regensburgern („Er weidet mich auf einer grünen Aue“), – für mich ist das jetzt alles spanisch gefärbt. Lindenberg: „Und ganz wichtig sind übrigens die Liedermacher der damaligen Zeit gewesen, Hannes Wader, Degenhardt. Es gab gemeinsame Auftritte, die ersten Polit-Dinger, Liedermacher-Kongresse.“ S.a. hier.

Dann: „Der Wahn vom gesunden Essen“ Von Kathrin Burger. Seite 16. „Doch warum werden vormals gelobte Lebensmittel wie etwa Kuhmilch plötzlich als Bedrohung wahrgenommen? Woher kommen diese Vergiftungsfantasien? ‚Über das Essen wird heute die soziale und kulturelle Identität abgeleitet“, sagt Klotter. Also: Weil ich anders esse, zum Beispiel vegan, bin ich Fleischessern und sogar Vegetariern moralisch überlegen.“ Ich wüsste gern das Datum (1962?), wann ich schlagartig aufgehört habe, vegetarisch zu essen und nicht mehr Hagebuttenmehl, Brennesselpulver, milchsaures Gemüse mit in die Mensa zu schleppen. Motiv: mich nicht mehr durch die Ernährungsart von anderen unterscheiden zu wollen.

Vor allem aber: der Vorbericht von Jens Bisky zu dem heute beginnenden Hegel-Kongress in Bochum. „Wie haben Sie das gemacht, Herr Philosoph?“

Und was man da liest, klingt ähnlich unbedingt, wie das, was man von Daniil Trifonow erfährt. (Gestern nach dem Konzert in der Raketenstation sprach ein ergriffener Leiter des Museumsvereins noch ein paar Grußworte, die in den Ruf mündeten: „Ändert euer Leben!“ Ob es Absicht oder Versehen war, diese Variation auf den Rilke/Sloterdijk-Imperativ?)

Ich muss ausführlicher zitieren, – wenn ich nur erst ausreichend Zeit mit den Instrumenten verbracht habe …

(Fortsetzung folgt)

Wer sich mit den Werken (…) Hegels nicht beschäftigen will, dem steht ein großes Repertoire vorgefertigter Ausreden zur Verfügung. Da schlummert das verschmutzte Etikett vom „preußischen Staatsphilosophen“, obwohl die Republikaner, Radikalen und Revolutionäre des 19. Jahrhundert oft in Hegels Schule gegangen sind, bevor sie ihr, nicht immer zu ihrem Vorteil, entliefen; da lauert die seit Jahrzehnten modische Kritik am „Systemzwang“, als ließe die Wahrheit sich erkennen, ohne aufs Ganze zu gehen; da meldet sich auch die Bescheidenheit, in unserer Zeit könne man doch so nicht mehr philosophieren. Ach.

Die Urteile, Vorurteile und Ausreden widersprechen dem Eindruck unvoreingenommener Lektüreversuche. Hier meldet sich eine Philosophie, die mehr will als ein Gärtlein bestellen, an dem man nur selbst und zwei Nachbarn Vergnügen haben. Hier wird das Denken weder fader Unmittelbarkeit noch leeren Abstraktionen überantwortet. Alles ist Bewegung, gerichtet, mit Fortschritten, aber nicht zum Stillstand kommend. Schon deswegen bedarf es einiger Anstrengung, Hegels Gedankengang zu folgen, das muss man trainieren.

Es gebe „kaum ein philosophisches Werk, dessen Zugänglichkeit so von einer gediegenen Lesefertigkeit abhängt wie das Hegels“, schreibt Pirmin Stekeler-Weithof in einem Aufsatz mit dem schönen Titel „Hegel wieder heimisch machen“.

Quelle Süddeutsche Zeitung 17. Mai 2016 Seite 12 / Wie haben Sie das gemacht, Herr Philosoph? Ein internationaler Kongress würdigt in Bochum die Akademie-Ausgabe der Werke Georg Wilhelm Friedrich Hegels. Aber noch fehlen wichtige Bände. Von Jens Bisky.

Wichtig ist, dass er nochmal auf Pirmin Stekeler-Weithof aufmerksam macht (dessen Name auch erst geübt sein will), „der vor zwei Jahren einen dialogischen Kommentar zur ‚Phänomenologie des Geistes‘ veröffentlicht hat.“ Dazu siehe hier und hier.

Und am Ende des Artikels steht ein mutiger, ja, beinah drohender Satz:

Um den Versuch, Hegel zu verstehen, kommt, wer unsere Welt begreifen will, nicht umhin. Wer darauf verzichtet, zahlt einen hohen Preis.

Das hat nicht einmal unser letzter Klassenlehrer in der Oberprima – ein Nietzsche-Verehrer par excellence – uns zu sagen gewagt. Vielleicht mit Rücksicht auf Nietzsche.

Aber hier – und im heutigen Alter – sitzt es! Und man hat das Gefühl, nachsitzen zu müssen.

***

Am Tag danach liest sich alles anders. Auch Daniil Trifonow.

Nach der geduldigeren Lektüre des Žižek-Artikels möchte ich die Transgender-Frage für mich ruhen lassen (froh und dankbar, dass immerhin der Schandfleck §175 verschwunden sein wird, der während unserer Schulzeit noch in vieler Hinsicht – auch für Unbetroffene – eine verheerende Rolle spielte), wenn sie sich tatsächlich in erster Linie als ein Toiletten- oder gar Mülltrennungsproblem darstellt. Ich denke zwanghaft an einen gezeichneten Witz (von Robert Gernhardt?), in dem der Knochenmann eine Toilette sucht, wo er heimlich eine Zigarette rauchen kann. Und er findet zwischen den Türen D und H tatsächlich den Buchstaben T für Tod auf einer mittleren Tür, hinter der er verschwindet. Und alsbald quillt Rauch hervor. – Mein Fehler: ich kann nicht ernst bleiben. Am Ende wird es sogar Pflicht, sich auf der Suche nach Einmaligkeit eine nie dagewesene Geschlechtlichkeit zu suchen. (Nein, ich habe nichts gegen Conchita, aber gegen ihren Nachnamen habe ich ein Vorurteil.)

***

Daniil Trifonow. Im Grunde sagt er (oder fragen ihn die SPIEGEL-Leute) nichts Wesentliches über Musik, nur über Technik. Die Namen, die er nennt – abgesehen von den Bach-Kantaten, die er angeblich sämtlich als eine Art regelmäßiger Morgen-Übung gehört hat – zeugen durchweg nicht von einem neuen Blick in die Realitäten der Musik: Rachmaninow (und die orthodoxe Kirche), Schnittke, Messiaen (mit Turangalila), Prokofiew. Das stufenweise Üben (zuerst die Noten aufschlagen, dann das Stück vom Blatt spielen, dann loslegen), mein Gott, auch diese modische Lehre von „awareness“ und den „Zeitzonen“, also: dass mir soeben Vergangenes, unmittelbar Gegenwärtiges und Bevorstehendes im Kopf präsent sind, gleichzeitig, ja, was soll uns das sagen? Es ist – gelinde gesagt – nichtssagend. Noch nichtssagender, ausweichender und irreführender die abschließende Aussage über Musik und Politik:

Die Kunst ist in solchen Zeiten eines der wichtigsten Mittel zur Verständigung zwischen Völkern und Kulturen. Wenn wir in Russland Musik aus anderen Ländern hören oder wenn im Ausland russische Musik gehört wird, verstehen wir alle uns besser. Die Musik ist eine Brücke. Sie ist ein Stück Ewigkeit jenseits aller Schlagzeilen und Ereignisse.

Völker und Kulturen? Mit diesen Platitüden endet das Interview. Und dann folgt noch der Hinweis auf ein Privatkonzert, ein Video: die Gavotte aus dem Ballett „Cinderella“ von Prokofiew HIER, nur für den SPIEGEL…

Etwas weniger tiefgründig vielleicht hier ?

Zumindest hätten wir damit eine echte Brücke geschlagen, zwischen Klavier und Geige.