Zwei Sternstunden: Schubert, Müller, die Geschichte, der Film, der Liederzyklus, der Gesang
Sendung 9. Juni 2024 (W bis 2029)
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Der Film begleitet Julian Prégardien auf seiner Reise zu den Ursprüngen des Liederzyklus und beim Austausch mit verschiedenen Persönlichkeiten. Ein Psychiater erklärt das Phänomen der unerfüllten Liebe, eine Gender-Expertin gibt Einblicke in die Perspektive der angebeteten Frau und ein Schubert-Kenner vermittelt die Künstlerwelt des Komponisten zwischen Genie und Wahnsinn. Neben den Pianisten Kristian Bezuidenhout und Daniel Heide verzaubert die Puppenspielerin Manuela Linshalm das Publikum mit ihrer zeitbasierten Interpretation der romantischen Erzählung. Es ist eine Suche nach einer immer neuer Inspiration für ein Werk, das Julian Prégardien als Sänger besonders viel bedeutet und für das er seine Freude mit vielen Menschen teilen möchte. Ein Film von Nanna Schmidt.
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„Die schöne Müllerin“ Gesamtaufnahme SWR
Der Film zeigt auch, dass man den Dichter genauso ernst nehmen muss, wie Schubert es tat.
Siehe auch Christian Gerhaher zum gleichen Thema hier im Blog
Angesichts des umfangreichen Lesestoffs, den diese Wochenzeitung einem regelmäßig ins Haus schickt – man kann unmöglich alles verdauen, aber manches doch, was man sonst niemals zur Kenntnis genommen hätte -, muss man immer wieder innehalten und sich sagen: dies gehört dazu, auch wenn über Bach eigentlich alles irgendwo oder irgendwann schon gesagt ist. Ja, dieser Sänger, von Beruf Tenor, spricht aus einer Erfahrung heraus, die uns nicht auf der Zunge liegt, wenn sein Gesang einen mal wieder sprachlos gemacht hat.
Um so befremdender, wenn man liest, was er zum Eingangschor der Johannespassion assoziiert, da sehe er
… eine Szene aus dem ersten Fluch der Karibik vor mir: Ein Pirat ist auf den Meeresgrund gesunken und läuft dort entlang. Wann immer das Mondlicht ihn trifft, verwandelt er sich in ein Skelett. Er ist tot und nicht tot. Der verklärte Jesus der Johannes-Passion kommt mir vor wie dieser Pirat. Er trägt eine Dornenkrone, ein Heer von Gläubigen schreitet im Dunkeln hinter ihm her, er reißt sie mit. Sie rufen ihn an: »Herr! Herr! Herr!« Das ist martialisch und gewaltig.
Eine Generation vorher – die seriöse, hochfliegende Musikpädagogik der 80er, 90er Jahre:
Musik und Unterricht 28/1994
Zitat ZEIT s.o. 14.03.24 Prégardien:
Ich haue mich in die Evangelistenrolle total rein, mit allem, was ich kann und fühle, aber auch intellektuell.
mein Klavierauszug, vorvorige Generation, „alte Bach-Ausgabe“, und so klingt es heute:
HierBach Johannes-Passion St John Passion BWV 245 Raphaël Pichon Ensemble Pygmalion
1:00:22 : 17. Choral ‚Ach grosser König‘ 1:01:52: 18a. Recitativo ‚Da sprach Pilatus zu ihm‘ 1:03:32 : 18b. Chorus ‚Nicht diesen‘ 1:03:42 : 18c. Recitativo ‚Barrabas aber war ein Mörder‘
„Wie singt man das?“ Zitat ZEIT s.o. Prégardien
Mit Schmerz und Fassungslosigkeit. Mich hat es einmal an der Stelle gerissen, und ich habe das »ein Mörder!« in den Chor gebrüllt. Ich guckte die an nach dem Motto: Kapiert ihr es denn nicht, ihr wollt einen Mörder freilassen! Ich habe wirklich geschrien. Stellen Sie sich das Geißeln bildlich vor. Es ist eine unmenschlich, blutrünstige Strafe. Wenn ich das vor mir sehe, singe ich das anders, denke nicht an das hohe As und an diese Zweiunddreißigstel.
Über die Passionen im Vergleich:
Wie also steht es in der Bibel? (ich benutze die meiner Oma): vergleiche die Petrus-Geschichte in Johannes- und Matthäus-Evangelium:
Ich nehme mir – wie so oft – vor, bei Hans Blumenberg nachzulesen; er muss sich darüber im Detail Gedanken gemacht haben…
Gesagt, getan. Hier ist der Anfang der Petrus-Geschichte bei Blumenberg, nicht mehr! Die Erinnerung ist mir aber Grund genug, einen weiteren Beitrag (folgt!) in Angriff zu nehmen:
Hans Blumenberg „Matthäuspassion“
Warum diese kleine Recherche zu dem Interview mit einem Sänger, der eindrucksvoll die Partie des Evangelisten bei Bach singt? Weil es selten (Und seltsam)ist, dass sich jemand darüberhinaus in dieser Weise verbal artikuliert. Es hat in mir verschiedene Erinnerungsschübe ausgelöst, bis hin zu einer despektierlichen Bemerkung, die ich tat, als ich zusammen mit meinem Vater zum erstenmal die Matthäus-Passion am nagelneuen Stereoradio hörte (ca.1955), bis hin zu selbst (von außen oder innen) erlebten Aufführungen, in den 60er bis 90er Jahren. Auch an Julian Prégardiens Vater. Und auch an eines der am meisten erschütternden Rezitative, die sich mir in der Interpretation eines anderen wunderbaren Evangelisten einprägten, Markus Schäfer, – oder da speziell des einen, das von Händel stammt (aus dem Messias)… Ich muss es hier wiedergeben (in Erinnerung an die dumme, despektierliche Bemerkung, die ich als Anfänger in Sachen Oratorien über die gekünstelten Rezitative und die Choräle tat, die ja „nicht mal von Bach“ seien). Warum mir dies Rezitativ unwiderstehlich die Tränen in die Augen trieb? Das wäre eine lange Geschichte.
Zufällig schrieb Lars gerade jetzt in einer Mail aus Barcelona, dass er den Messias in einer beeindruckenden Inszenierung (!) von Robert Wilson erlebt habe. Ich finde einen Ausschnitt, der allerdings vor drei Jahren entstand. Und wohl in Salzburg. Aber er passt in meine Überlegungen zum „Surplus“ von Musik (nicht zu dem eben wiedergegebenen, unvergesslichen Rezitativ).
Leider (oder Gottseidank) erreicht die Fortsetzung im Part II nicht den Moment des besagten Rezitativs (hier). Ich würde es auch nicht ertragen, wenn – wie es vorkommt – der Tenor durch einen Sopran ersetzt wäre.
Nachtrag 25.03.24
Überall hat sich dieser Verkaufstonfall eingeschlichen. Schon wenn ich das Handy aufmache, werden mir klassische Werke in Jugend-Slang angepriesen. Das will ich nicht. Und wenn ich – wie oben erzählt – in der ZEIT lese, dass der Sänger Julian Prégardien sagt „ich haue mich in die Evangelistenrolle total rein“, berührt es mich etwas unangenehm.
Aber im Programmheft auch dieser Anmach-Sprache zu begegnen, das stört mich echt: wie in einem schlechten Quiz werden wir mit einem „Hingehört“ ermuntert, die 11 „Herr, bin ich’s“-Rufe nachzuzählen (aha, einer fehlt!). Und dann auch noch diese falsche Suggestion des Mozart-Zitats: als habe er Johann Sebastian gemeint, während man unter dem „großen Bach“ damals allgemein den Sohn Philipp Emanuel verstand, – so eben auch Mozart, falls Rochlitz (!) ihn überhaupt korrekt zitiert.
Die saloppe Sprachgebrauch in der Hamburger Elbphilharmonie passt nicht zu der höchstwahrscheinlich guten Aufführung (28. März) mit einem überzeugenden Evangelisten. Hier der Weg zum Programmheft: Matthäuspassion Herreweghe. Titel: „Evergreen mit Startschwierigkeiten“ .
Nachtrag 30.03.24
Vergangene Nacht Johannes-Passion mit den Thomanern unter Andreas Reize gehört, bis 1:10. Warum so spät und so lange? Weil es so dicht, so anrührend und so ernst war war, in allen „Rollen“. Man sollte es noch einmal hören, zu Ostern, nach Ostern, wann die Zeit sich bietet. Auch in Einzelteilen, aber nicht unter 20 Minuten. Der Link ist hier.
ARTE Concert / Johann Sebastian Bach Johannes-Passion / Thomaskirche Leipzig /Thomanerchor / Anna Prohaska, Sopran / Andreas Scholl, Altus / Julian Pregardien, Tenor, Evangelist / Raphael Wittmer, Tenor / Tomas Kral, Bass Jesus / Tobias Berndt, Bass / Leitung: Thomaskantor Andreas Reize / 2023 MDR Accentus Leipzig