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Leonardos Frauen

Was gehn sie uns an?

Als blutige Laien in der Kunstbetrachtung haben wir immer ein schlechtes Gewissen, wenn wir ein Gemälde oberflächlich nach seiner Lebensähnlichkeit beurteilen; andererseits beginnt man sofort zu spotten, wenn einer dagegenhält mit Bemerkungen zum strukturellen Aufbau des Werkes. Ich erinnere mich, dass zeitweise ein impressionistisches Kalenderbild an der Wand über dem Schreibtisch meines Vaters hing, in das ich mich „verliebte“, während er, der sich gerade Hamanns große dickleibige Kunstgeschichte zugelegt hatte, offenbar einen rein sachlich-ästhetischen Zugang suchte. Die farbenfroh schöne Frau von Renoir oder Monet hatte sogar einen Namen, sie war einmal „real“ (gewesen). Als mein Freund zu Besuch kam, führte ich ihn wie zufällig zum Porträt, beiläufig murmelnd „findichschön“, worauf er knallhart entgegnete: „hat viel Holz vor der Hütten“, und damit war sie schlagartig entweiht. Ja, entweiht. Alerdings hatte ich  schon ein ungutes Gefühl, wenn ich auf dem Cover meiner ersten Concert Hall Schallplatten las: „Hohe Lebensstunden weihet mit Musik“. Auch Musik sollte etwas mit dem wirklichen Leben zu tun haben. Einmal legte ich ein Bild auf das Notenpult und versuchte, auf der Violine die irgendwie geforderten oder unterstellten „überströmenden Gefühle“ zum Ausdruck zu bringen. Da trat überraschend mein Vater ins Zimmer trat und rief „das ist viel zu schnell“, während ich eiligst mit dem Geigencorpus das kompromittierende Bild verdeckte. –

Eines Tages kam meine 5 Jahre ältere Cousine auf der Durchreise mit ihrer Freundin zu uns, beide Kunststudentinnen in Basel, wir schauten gemeinsam den Prachtband „Europäische Meisterbilder“ an, – einige kannte ich allzugut -, mir schwante Unheil, plötzlich hielten sie inne, allerdings nicht dort, wo ich mich auskannte: sondern beim Jesus am Kreuz. Sie bewunderten die „Formauffassung“, die (attraktive?) Freundin legte den Finger auf die Reihe fein ausgearbeiteter Bauchfalten, oberhalb des Lendentuches. Mir stockte der Atem, und sie sagte: „wie fein ausgearbeitet!“ Gott sei Dank, beide waren vom Fach und bemerkten nicht die Röte in meinem Gesicht.

So etwa begann meine Pubertät, von der ich wenig wusste. Meine Mutter bemerkte nur verdächtig oft: „Die Flegeljahre bleiben bei ihm aus!“ Hat mich die Klassik gezügelt? Eine unendlich lange Zeit verging, ehe ich die Mentaltät der 50er Jahre in all ihrer Verklemmtheit durchschaute, die 6oer Jahre, die ich als Befreiung erfuhr, auch kunstästhetisch umsetzte. Erste Erleuchtungen (nach André Malraux‘ „Das Imaginäre Museum“ 1963): das Bändchen vom „Sehen der Welt in der Bilderwelt“ von John Berger (1974).

Derlei Dinge gingen mir durch den Kopf, als ich heute einer Anregung von Wilfried Schaus-Sahm folgte und mich mit der folgenden Betrachtung von Kia Vahland beschäftigte.

https://www.stadtmuseum-duisburg.de/leonardo-da-vinci-und-die-frauen/ hier

https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2019/09/die-malerei-leonardo-da-vincis-ist-weiblich hier

https://de.wikipedia.org/wiki/Anbetung_der_K%C3%B6nige_aus_dem_Morgenland_(Leonardo_da_Vinci) hier

https://de.wikipedia.org/wiki/Bildnis_der_Ginevra_de%E2%80%99_Benci hier

https://de.wikipedia.org/wiki/Cecilia_Gallerani hier

https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Verk%C3%BCndigung_(Leonardo_da_Vinci) hier

Zitat Vahland: vom Kuss

3:44 „Leonardo da Vinci hat ganz außergewöhnliche Frauen gefunden, die einen heute noch überraschen. Er malt erstmal natürlich viele Marien, da wissen wir nicht, wer die Modelle sind. Dann aber malt er noch als junger Mann Ginevra de‘ Benci (…). Er möchte, dass sich die Leute in seine Bilder verlieben. Er erzählt eine Geschichte, wie die Leute Bilder mit weiblichen Heiligen zurückbringen in die Werkstatt und ihn bitten, die Heilgenscheine zu übermalen, damit sie die Bilder besser küssen können. Und das ist ganz genau in Leonardos Sinn. Das heißt, er nutzt die Stärke der Frauen, er nutzt die Verführungskraft der Frauen, um seine Kunst, um die Malerei zu stärken. Die Malerei ist so verführerisch wie die Frauen, die er malt. Und stark, so unabhängig und so klug wie diese. Dafür müssen es natürlich selbständige Objekte sein und keine Objekte, über die man einfach verfügt. Und die Frauen auf den Bildern liefern sich den Betrachtern nie aus. Das sind immer ganz, ganz eigenständige Wesen. Denn sie stehen für Leonardo auch für die Malerei an sich. Schon seit der Antike ist das Bild einer schönen Frau auch das große Meisterwerk eines Malers, an dem er seine Kunst zeigt, und so ist es eben auch bei Leonardo da Vinci. Denen gehört seine Sympathie, auf die lässt er sich ein, mit denen tritt er in einen Dialog.“ 5:11

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(Abstrakte) Kunst in der Realität, was nicht unbedingt bedeutet: die neue Irrealität dank Caspar David Friedrich. Jedoch auch Düsseldorf (20 Minuten entfernt, nächste Woche):

https://www.kunstpalast.de/de/event/tony-cragg/#Ausstellung hier

Video mit Cragg – siehe bei 6:40 von Menschen, – „die streicheln meine Arbeit„.

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13.04.24 Noch etwas ganz Neues aus dem Kunstpalast in Düsseldorf: ! Blumen ! HIER .

16.04.24 Ich war dort, im Kunstpalast Düsseldorf Ausstellung Tony Cragg, hier „Die Welle“:

Die flüssige Gestalt der Bewegung

Zu Leonardo da Vincis Aufzeichnungen
(Siehe auch Wikipedia hier)

„…Und aus den tiefsten Tiefen des großen Ozeans fließt es in die leeren, geräumigen Höhlen der innersten Eingeweide dieser Erde, von wo es dann durch die verzweigten Adern wider seinen natürlichen Drang zu den Gipfeln der Berge hochfließt und durch die aufgebrochenen Adern in einem fort hervorsprudelnd in die Tiefe zurückkehrt…“

So liest man auf dem Umschlag meines schönen Buches, dessen Einführung folgendermaßen beginnt:

Unter seinen wertvollsten Schätzen zeigte der alte Leonardo voll Stolz dem Kardinal Luigi von Aragona, der ihn auf Schloss Cloux bei Amboise besuchte, ein Manuskript mit dem Titel Von der Natur des Wassers. Um welches Manuskript es sich handelte, wissen wir nicht, vielleicht um eine verlorengegangene Handschrift, vielleicht um die achtzehn zusammengefalteten Blätter des Leicester Codex, der fast ausschließlich den Studien über das Wasser gewidmet ist und in dem auf Blatt 21 v. zu lesen steht:

„In immerwährender Bewegung wandeln die Wasser aus den tiefsten Tiefen der Meere zu den höchsten Gipfeln der Berge, wobei sie die Natur des Schweren missachten: …Wenn das Wasser aus einer geplatzten Ader der Erde heraustritt, folgt es der Natur der anderen Dinge, die schwerer sind als die Luft, und strebt deswegen immer nach den tiefer gelegenen Orten.“

Quelle: Leonardo da Vinci: Das Wasserbuch Schriften und Zeichnungen / Ausgewählt von Marianne Schneider / Verlag Schirmer Mosel München 2011 (1996) ISBN 978-3-8296-0592-2

Sehr lesenswert gerade die Einführung und die Editorische Notiz; beides hatt ich früher übersprungen, um direkt zu dem zu kommen, was mich in meiner Jugend beeindruckt hat, als ich den Mereschkowski-Roman las und darin die (fingierten?) Tagebuch-Notizen des Leonardo-Schülers Giovanni oder Francesco. Jetzt fragte ich mich bei den oben herausgegriffenen Notizen, ob Leonardo oft gewissermaßen Variationen des gleichen Textes geschrieben hat. Ob ihn zuweilen ein Geist der Verbalisierung angetrieben hat, eine poetische Motivierung. In der editorischen Notiz liest man:

Eine Ausgabe aller Texte Leonardos über das Wasser wäre nicht nur ziemlich umfangreich, sondern auch unnütz, denn sie würde zahllose Wiederholungen enthalten. Leonardo notierte sich sehr oft – und nicht nur über das Wasser – mehrmals dieselben Dinge, was wohl mit seinem in alle Richtungen offenen, raschen und unsystematischen Denken zusammenhängt. Diese seine Eigenart war ihm bewusst, und er versuchte ihr durch das Aufschreiben seiner Erfahrungen und Erkenntnisse beizukommen; die Wiederholungen konnte er trotzdem nicht vermeiden, und auf Blatt 1 v. des Arundel Codex entschuldigt er sich bei einem etwaigen Leser dafür: „Mach mir deshalb keinen Vorwurf, Leser, denn der Dinge sind viele, und das Gedächtnis kann sie nicht behalten und sagen: Das will ich nicht mehr schreiben, denn ich habe es vordem schon geschrieben. Wenn ich diesen Fehler vermeiden wollte, müsste ich für jeden Fall, den ich schreiben wollte, ohne mich zu wiederholen, alles schon Geschriebene noch einmal lesen, und vor allem, weil bei meinem Schreiben von Mal zu Mal lange Zeiten dazwischenliegen.“

(a.a.O. Editorische Notiz Seite 15)

Das ist vielleicht die Memorier- und Alltagsbewältigungstechnik jener Zeit: ich erinnere mich an die unzähligen Wiederholungen in den Briefen des Kaufmanns Datini an seine Frau, von der er nicht erwarten konnte, dass sie all seine Briefe bibliothekarisch verwaltete und „datentechnisch“ greifbar hielt. Hier waren Menschen der damaligen Zeit am Werk, die taten, was nach dem Stand der Dinge möglich und notwendig war.

Ich nehme Gelegenheit, mich einer Lektüre zu erinnern, die im März 1956 begann und einige frühe Jahre beeinflusste; zur Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule Berlin 1960 habe ich Tschuangtse-Texte aus diesem Buch vorgetragen. Ich werde auch sie in einem weiteren Beitrag zitieren, weil ich sie immer noch liebe und greifbar halten möchte. Doch zuerst – mit Blick auf Leonardo – LAOTSE, Kapitel 4:

DAS WESEN DES TAO

Das Tao ist ein Hohlgefäß;

Und sein Gebrauch ist unerschöpflich!

Unauslotbar!

Wie der Urquell aller Dinge,

Seine Kanten abgerundet,

Seine Schlingen aufgelöst,

Sein Licht abgeblendet,

Sein Wirbel untergetaucht,

Scheint es dennoch dunkel wie tiefes Wasser zu verharren.

Ich weiß nicht, wessen Sohn es ist,

Ein Bildnis dessen, was früher als Gott vorhanden war.

***

Mein altes Tagebuch-Rätsel (durch Mereschkowski-Originalausgabe gelöst): es ist fingiert und doch authentisch. Es ist durchsetzt mit da Vincis eigenen Aufzeichnungen.

Mereschkowski Vinci Tagebuch Mereschkowski Vinci Tagebuch b Roman 1914