Sieht es wirklich so friedlich aus, wie wir es gerne hätten? Es ist offensichtlich nicht unproblematisch, links der Moslem, rechts der Christ. Aber kein Zweifel, sie spielen und hören einander zu. Es handelt sich um eine Abbildung aus den Cantigas de Santa Maria, und diese Maria genießt zwar im Islam und im Christentum gleichermaßen große Verehrung, – aber … im Judentum? Man lese über Alfonso el Sabio (1221-1284) hier und über Maria hier. Seien wir froh darüber, dass es diese Zeugnisse gibt, aber trotzdem sollte man mehrfach nachfragen, bevor man Schlüsse daraus zieht. Sollte man heute überhaupt noch von Religion reden, wenn es um Musik geht? Im Fall Johann Sebastian Bach (1685-1750) gebe ich gern zu, dass man etwas von Luther und auch vom Pietismus wissen müsste, sogar eine Anzahl von Chorälen verinnerlicht haben sollte. Aber zwischen den eben avisierten historischen Welten gibt es noch einen gewaltigen doppelten Riss, der durch die Geschichte gegangen ist, komprimiert in der Jahreszahl 1492.
Quelle Christian Geulen: Geschichte des Rassismus / C.H.Beck München 2007 / Seite 38
Es gibt nicht viel Anlass, in einem früheren Abschnitt der Geschichte ein Goldenes Zeitalter des friedlichen kulturellen Miteinanders zu unterstellen. Vielleicht von Mensch zu Mensch, aber nicht zwischen organisierten Machtstrukturen. Auf der nächsten Seite dieses Büchleins ist vom ersten wahrhaft ‚globalisierten‘ Wirtschaftssystem der Geschichte die Rede. Gemeint ist der später so genannte „Dreiecks-Sklavenhandel zwischen Europa, Afrika und Amerika“, so zynisch das klingt. Die Folgen waren unterschiedlich, und überall in der Welt gab es Varianten solcher Begegnungen. Vernichtung oder Koexistenz waren nicht die einzigen Alternativen. Die spanischen und portugiesischen Kolonisatoren verhielten sich anders als die nordeuropäischen, mit der (nicht beabsichtigten) Folge, dass sich langfristig nur in Südamerika eine wirklich multiethnische Bevölkerung entwickelte, und so z.B. auch eine wirkliche Symbiose der Musikstile, die etwa zur Genese neuer Tanzformen führte. Volksmusik, – wenn ich das hier schon anführen darf. Und niemand dort hätte andere Ohren gebraucht.
Das hat allerdings nicht unbedingt mit dem Nahen Osten zu tun. Nichts in den verschiedenen Kulturen der Welt ist ohne weiteres 1 zu 1 übertragbar.
Konzentrieren wir uns also auf den ZEIT-Artikel, der sich weit entfernt von diesem Hintergrund in unserer Gegenwart entfaltet, – was soll es bedeuten: Mit anderen Ohren zu hören? All dies ausschalten? Andererseits die Warnung vor Vereinfachung, während sie massiv weitergetrieben wird. Der Rhythmus, essentieller Parameter der orientalischen Musik, kommt in dem Artikel gar nicht erst vor. Und vom Westen heißt es: „Der Gigant der abendländischen Musik, Johann Sebastian Bach, komponierte fast ausschließlich religiöse Musik.“ Das ist nicht wahr, ich muss es nicht aufzählen, von den Brandenburgischen Konzerten über die Goldberg-Variationen bis zur Kunst der Fuge. Da gibt es nun mal nichts, was mit den Meditationen bestimmter Sufi-Orden des Nahen Ostens vergleichbar wäre, die „über Jahrhunderte hinweg die Kaderschmieden klassischer Musik“ gewesen sein sollen. Das Wort klassische Musik ist auch nur ein Etikett, wie Volksmusik oder Kunstmusik. Wenn gesagt wird, dass ein Abend deutscher Musik mit dem Violinkonzert von Brahms und Stücken aus Ludwig Erks Deutschem Liederhort nicht denkbar sei, so steckt darin nur der wahre Kern, dass Brahms diese Sammlung nicht leiden konnte. Aber seine eigene Volksliedersammlung hätte er wohl gelten gelassen, und in jedem Radioprogramm wäre eine Liedergruppe nach seinem Violinkonzert oder vor den vierhändigen Ungarischen Tänzen denkbar.
Es grenzt an fahrlässige Pauschalisierung, aber man muss irgendetwas an Prämissen vorgeben, bevor man uns ein neues Hören empfiehlt; denn dies beginnt nun einmal nicht mit guten Vorsätzen, sondern mit (Geschmacks-)Bildung und knallharten Detailkenntnissen. Beginnen wir also mit besonders breiten Schubladen!
Meine Vereinfachung ad hoc
Die Musik wirkt anders auf die Menschen als etwa die Gebrauchsgraphik, wo ein sich wiederholendes Ornament den ganzen Raum füllen darf, ohne dass jemand sagt: die Wände langweilen mich, im Gegenteil, erst so entfaltet diese Kunst ihre belebende oder beruhigende Wirkung, auch – und gerade – als Hintergrund.
Die Musik bedarf der Zeit, macht durch ihre Präsenz fortwährend auf sich aufmerksam. Und da gibt es von vornherein eine Ökonomie der Mittel: Wenn ein Orchester dasitzt, soll es tätig sein; es wirkt deplaziert, wenn zwischendurch eine halbe Stunde lang nur kurze Liedchen mit Lautenbegleitung gesungen werden.
Wenn dagegen ein Trommler eine halbe Stunde untätig bleibt, während der Sitarspieler ein entsprechend großes Solo spielt, entspricht dies dem zugebilligten Rang der Melodie gegenüber dem Rhythmus und zugleich einem Sinn für Steigerung der Mittel, wenn nun beide Spieler zusammenwirken. (Beispiel Indische Musik.)
Und es gibt einen inhaltlichen Anspruch: die endlose Wiederholung einer leicht überschaubaren Melodie, selbst in diversen Abwandlungen, ist einem gebildeten Publikum, das adäquat beschäftigt sein will, nicht zuzumuten. (Ravels Bolero ist eine Ausnahme, zudem wiederholt er eine durchaus nicht leicht überschaubare Melodie, und die Steigerung der Mittel lässt ein in der Ferne – in 15 Minuten – winkendes Ziel erahnen.)
Volksmusik lebt von der Wiederholung, wie auch die einfache Choreographie des Volkstanzes. Das einzelne Lied lebt von den Strophen oder Zeilen mit einem Fortgang des Textes, der Tanz zudem von der hypnotischen Wirkung der Kreisbewegungen und auch vom Wechsel der Tanzarten (Rhythmen), von der Mode, den Bräuchen und der gesellschaftlichen Notwendigkeit.
Kunstmusik lebt von dem sinnvollen Aufbau größerer Gebilde, die Zeit brauchen und den Zeitaufwand lohnen. In der (alten!) klassischen westlichen Musik ist dies bereits in Umrissen vorgezeichnet durch bestehende, erprobte Formen wie Oratorium, Kantate, Sinfonie (Sonate), Konzert für Solo und Orchester und ähnliches, in der klassischen orientalischen durch die Aussicht auf eine große, detaillierte Darstellung eines Maqams (Dastgah, Raga), solistisch oder im Ensemble, auch innerhalb bestimmter Formen (Nouba, Qasida, Tawsih, Taqsim, Daramad).
Die Wahrnehmung solcher Gebilde erfordert Bildung: die Fähigkeit der fesselnden Darstellung (Künstler) und des kennerhaften Nachvollzuges (Publikum).
Es genügt also nicht, (vorläufig) reizvolle neue Farben zum Verwechseln ähnlich wiederzugeben (Weltmusik mit „fremdkulturellen“ Akzenten), exotistische Einzelstücke im exotischen Outfit zu bieten, aneinandergereiht nach mehr oder weniger zufälligen geschmacklichen Erwägungen.
Je mehr man weiß und kennt, desto empfindlicher wird man gegenüber falschen Tönen und geistlosen Imitaten. Auch weltanschaulich oder ethisch, im Umgang miteinander. Dies aufzuzeigen, ist wohl auch der Sinn des ZEIT-Artikels, der aber zugleich mit Illusionen spielt: als sei im Rahmen von Konzerten, die sich an Pop-Sessions orientieren, eine Differenzierung zu lernen, die sonst jahrelanger Übung bedarf.
Was nicht hilft (aber auch nicht schadet): der bloße Wille zur Toleranz, gerade gegenüber dem, was geschmacklich (in der Vermischung) misslungen scheint. Sie braucht keine Begründung. Und es ist sogar unnötig, den anderen Mitmenschen im eigenen Land, andere Ohren zu wünschen.
Die Sorge des ZEIT-Artikel-Autors mag dennoch begründet sein:
Brot backen, Yogi werden, fremde Sprachen entdecken: Das Angebot an virtuellen Bildungsmöglichkeiten während der Corona-Krise ist überwältigend. Von diesem Appetit auf Neues profitiert in Deutschland auch die nahöstliche Musik, deren Bekanntheit durch die Zuwanderung der letzten Jahre ein ansehnliches Niveau erreicht hat. Rasch haben westlich ausgebildete Geiger oder Cellisten syrische Volkslieder oder „arabische Tonleitern“ erlernt, Wohnzimmerkonzerte mit der Kurzhalslaute Oud oder der Kastenzither Kanun werden über Facebook tausendfach geteilt. Das Ganze nennt sich dann „orientalische“, „türkische“ oder „arabische“ Musik und ist fast immer volkstümlich konnotiert. Klänge „aus Tausendundeiner Nacht“ eben.
Er hält das für Marketingstrategien. Man könnte aber auch hier globale Toleranz fordern. Daher ist die Schlussfolgerung interessant, – welcher Gewinn winkt uns?
Was ist der Zweck des ZEIT-Artikels?
ZITAT:
Warum ist es wichtig, dies zu verstehen? Ein klischeefreies Hören nahöstlicher Musik kann dem europäisch geschulten Geist neue Horizonte eröffnen. Diese Musik in ihrem künstlerischen wie historischen Reichtum zu erfahren könnte ein bedeutender Schritt sein bei der Überwindung eines eurozentrischen Weltbildes, das unseren Blick auf Musik und Philosophie genauso verzerrt wie auf Religion, Politik, Geschichte und Ästhetik. Die Welt mit anderen Ohren zu hören wirkt mindestens so bereichernd, wie sie mit neuen Augen zu sehen.
Also: Bereicherung? Gewiss, man soll den Begriff nicht überfrachten, gemeint ist offenbar das Erleben von geistigen Reichtümern, die man gar nicht im aggressiven Sinn erobert.
Was bringt uns diese Einsicht? Ein klischeefreies Hören nahöstlicher Musik? Was ist mit indischer, vietnamesischer, indonesischer Musik? Wieviel darf es denn sein zur „Überwindung eines eurozentrischen Weltbildes, das unseren Blick auf Musik und Philosophie genauso verzerrt wie auf Religion, Politik, Geschichte und Ästhetik.“
Soviel auf einmal!? Nach dem Mozart-Effekt eine Art Makam-Effekt. Ich wäre der letzte, der sich darüber nicht freuen würde, könnte aber auch an die von Mantle Hood geforderte Bi- oder gar Multi-Musikalität erinnern. Es bleibt also schier unendlich viel zu tun. Bevor wir auf Philosophie, Religion, Politik, Geschichte und Ästhetik kommen.
Was für eine Illusion!
Die Toleranz ist nicht alles. Die Intelligenz des Menschen ist auch dazu da, grundsätzliche Differenzen zu erkennen. Deshalb bin ich gleich mit dem Rhythmus gekommen. Ich hätte auch vom Gebrauch der Harmonien anfangen können. Oder davon, dass sie im klassischen Sinn bei uns eigentlich nur noch in Pop und Volksmusik verwendet werden, und dass sie der unversöhnliche Feind der fein ausgebildeten Makam-Ohren sind…
Beides große Erfindungen der musikalischen Menschheit.
Ich folge in meiner Analyse der bewundernswerten Arbeit von Christoph Bergner, die 1984/85 als Dissertation von der Fakultät für Kulturwissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen angenommen wurde. Er schrieb dazu: „Herr Prof. Dr. U. Siegele hat die Arbeit begleitet und gefördert, obgleich sie von anderen Voraussetzungen und Methoden ausgeht und also auch zu anderen Ergebnissen kommt als seine eigenen Arbeiten.“
ZITAT als Ansatzpunkt
Seite 122
Das heißt, ich setze fort, was ich hier begonnen hatte, ohne es mir dort bei Bergner wirklich erschlossen und für Leser nachvollziehbar gemacht zu haben.
Da mir Bergners analytische Studien zur Form der Bachschen Präludien aber nicht nur für diese grundlegend erscheinen, sondern für das Formverständnis Bachs überhaupt, ist es mir unbegreiflich, dass ich sie in der Bach-Literatur kaum irgendwo hervorgehoben finde: in dem großen Werk zur Bach-Interpretation (1990) von Paul Badura-Skoda zum Beispiel mit keinem Wort, bei Alfred Dürr (1998) zwar im Literaturverzeichnis aufgeführt, aber sonst nur gelegentlich erwähnt. Im Fall dieses speziellen Praeludiums, wo es wirklich hilfreich gewesen wäre, entschließt er sich zu einem separaten Weg, der sich bei genauer Prüfung – wie ich finde – als weit weniger sinnlich fassbar erweist, aber auch nicht gedanklich: wenn Taktmengen von 26 Takten neben solchen von 16 oder gar 5 Takten als Formteile wirken sollen, – da kann etwas nicht stimmen!
Alfred Dürr
Ich gehe aus von den spärlichen Einzeichnungen oben im Notentext:
Eine vorläufige Aufteilung liegt auf der Hand und wird durch senkrechte rote Striche nach Takt 16 und Takt 32 angegeben, bei Alfred Dürr als „A. Hauptteil“ und „B. Episode 1“ bezeichnet, – was auf den ersten Blick einem Schema entspräche, das aber dann auch irgendwie im weiteren Verlauf durchschimmern müsste. Bach verweigert sich jedoch einer weiteren Periodisierung, es hat keinen Zweck, nach weiteren Perioden dieser Art zu suchen, die womöglich auch durch Kadenzen gestützt würden. Im Notentext sind solche „strukturellen“ Kadenzen des Harmonieverlaufs durch die Silbe Kad in grüner Farbe gekennzeichnet. Aber erlauben uns diese Kadenzen tatsächlich, eine plausiblere Struktur des ganzen Stückes offenzulegen? So, dass wir Proportionen erkennen? Gerade in dem Teil, der uns interessiert, ab Takt 32 bis Ende, besagt die eine Kadenz (?) nach Takt 43 recht wenig, – ist es überhaupt eine? (Korrektur: Kad müsste am Anfang des Taktes stehen. D bezeichnet in diesem Fall nur Halbschluss!) Spätestens hier kommt man auf die Idee, lieber die Motivik und ihre Entwicklung für maßgeblich zu halten. In Takt 32 haben wir eindeutig eine Reprise des Anfangs, wenn auch in der Subdominante fis-moll und mit vertauschten Stimmen: die Melodie von Takt 1 beginnt hier in der Mittelstimme (cis-fis-a) und ist mitsingbar bis in Taktanfang 37 (der dem Taktanfang 5 entspricht). Und nun?
Jetzt haben wir noch rote Einzeichnungen, bei der eindeutigen und bedeutsamen Kadenz in Takt 27 zum Beispiel, und das erlaubt uns, die darauf folgende Motivik (samt Mini-Fugato) ernst zu nehmen, weil sie schön ist und weil sie – vielleicht genau aus diesem Grunde – ab Takt 50 in anderer Tonart wiederkehrt.
Jeder Schüler sieht ein, dass diese Taktgruppen von wesentlicher Bedeutung sind, also 27 bis 32 und später die Wiederkehr in Takt 50 bis 55. Da wird die offenbare Struktur von einer anderen überlagert, wovon wir aber einstweilen nichts ahnen können.
Bis hierher könnten wir uns noch am Text von Alfred Dürr orientieren. Aber der entscheidende Punkt fehlt, und zwar genau der, der ein Aha-Erlebnis auslösen könnte. Da fehlt uns noch ein entscheidender Begriff, der uns veranlasst, mit der Taktzählerei aufzuhören: die Dehnung. Siehe Takt 37 und 45. Und auch das Wort „Vorbote“ (Takt 39) ist interessant.
Aber stellen wir uns zunächst vor (so naiv das anmuten mag): Bach hätte, vom Entfaltungs- und Wiederholungsdrang des Motivs Takt 1 getrieben, den Teil A geschaffen und dann – als Antwort darauf – den Teil B (ausgehend von einer Antwortvariante des Motivs), wobei ihn die dann in Takt 27 neu entdeckte Variante, die den Bass-Aufstieg in die Melodiestimme versetzt und als motivisch relevant enthüllt, in Entzücken versetzt hat (wie auch uns!), also: Bach hätte nun die Formidee gehabt, diese beiden Teile durch einen doppelt langen dritten Teil zu überhöhen, zu überbieten, und ihn durch Rekapitulationen aus Teil A und B, aber vor allem durch die wörtliche (wenn auch transponierte) Zitierung der „entzückenden“ Takte 27 bis 32 mit einer übergeordneten Klammer (in Takt 50 bis 55) zu versehen, und gewissermaßen eine „unendliche Melodie“ zu schaffen, deren Gliederung verborgen bleiben sollte, damit sie unendlich wirkt, – wie hätte er es besser bewerkstelligen können???
Und hier zeichnet sich die Möglichkeit ab, dass auch die nachfolgende Fuge einer verwandten oder vielmehr komplementären Formidee folgt, angefangen mit dem „allumfassenden“ Thema, das in sich selbst zurückfließt, und später auch in Umkehrung behandelt wird, wobei gleichzeitig – mit dem Signal einer starken Pausensetzung – ein chromatisches (menschliches, leidendes) Thema eingeführt und wenig später durchgeführt wird, so dass eine Doppelfuge entsteht. Das alles entspricht einer großartigen Vision, die insgeheim auch mit dem cis-moll-Ensemble aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers korrespondiert.
Soll man sich wundern, dass Wagner darüber mit Begeisterung spricht? Seit Tagen grüble ich, aus welchem Strudel der unendlichen Melodie im „Rheingold“ mir das Motiv dieses Praeludiums zuweilen auftaucht…
Ich beschränke mich jetzt, statt weiterzuphantasieren, auf die Abschrift des Bergner-Textes und verdeutliche ihn nur drucktechnisch oder durch eckige Klammern, manches oben schon von mir Referierte wird sich inhaltlich wiederholen:
[In] T.33-36 werden T.1-4 aufgenommen und mit Stimmtausch der beiden Oberstimmen auf der S[ubdominante] wiederholt. In T.33/34 tritt zunächst eine neue Oberstimme auf, ab T.35 wird die Vorlage übernommen.
In T.39-42 wird die Oberstimme von T.1-4 wörtlich zitiert, während sich die Harmonisierung ändert. Die charakteristische Akkordbrechung im Baß, mit der ein Neubeginn in diesem Stück stets eingeläutet wird, fehlt in T.39 (vgl. T.1, T.5, T.17, T.33, T.43; in den Oberstimmen T.27, T.50), wodurch die beiden Wiederholungen der ersten vier Takte enger verbunden werden.
In T.43/44 wird nun T.5/6 vollständig wiederholt. Das Zitat der Oberstimme in T.39-42 ist also der Vorbote für die Wiederholung von T.5/6.
Schließlich entsprechen sich auch T.11-16 und T.56-61. T.56-61 wiederholt T.11-16 in der Unterquint, die Oberstimmen werden vertauscht.
Betrachtet man die Abschnitte nach T.32, so sieht man, daß hier ständig Reminiszenzen an den 1. Teil (T.1-16) auftreten. Es werden genau 16 Takte des 1. Teils im letzten wiederholt. 13 andere Takte werden in dieses Gerüst aus Wiederholungen des 1. Teils eingesetzt.
In T.50-55 wird auch ein Abschnitt aus dem 2. Teil (nämlich T.27-32) aufgegriffen. Aber im Unterschied zu T.27-32 ist zwischen T.50 und T.55 kein harmonischer Fortschritt festzustellen. Die Wiederholung setzt auf der D[ominante] ein. In T.52 kehrt sie zur T[onika] zurück und löst sich damit von der Vorlage in T.29. Die Wiederholungen erweisen T.33-62 auch strukturell als Schlußteil.
Aber hinter jenem großangelegten Schluß von 29 Takten stehen eigentlich die 16 Takte, die aus dem 1. Teil übernommen werden. Denn die in diese Wiederholungen eingeschobenen Takte zeigen harmonische Dehnungen. So steht T.37/38 zwischen den beiden Wiederholungen der T.1-4. Aber schon in T.37 (4. Achtel) ist die Tonika erreicht, die dann in T.39 bestätigt wird. Folgende Skizze mag
Ebenso erscheinen T.45-49 als eine Dehnung, die hier durch die ganztaktige, schrittweise fallende Sequenz im Baß dargestellt wird. Die D[ominante], die in T.50 erklingt, hatte die Sequenz in T.45 auch eröffnet. Da auch die T.50-55 (s.o,) keinen harmonischen Fortschritt bringen, läßt sich T.56 an T.44 anschließen. Das sechzehntaktige Grundgerüst ist also auch in der harmonischen Anlage noch zu erkennen.
Der Schlußteil wiederholt Abschnitte aus den vorangegangenen Teilen ubnd kombiniert sie mit einigen neu hinzutretenden Takten. Die Wiederholungen orientieren sich zunächst am Eingangteil. Das ist auch in anderen Präludien begegnet. Hier aber werden diese Wiederholungen mit Material aus dem 2. Teil verbunden. So wird der letzte Teil stark erweitert.
Die betonte Stellung der Dominante (vgl. T.43, T.50, T.56) weist diesen Teil auch harmonisch als Schlußteil aus. Während die Analyse ein proportioniertes Grundgerüst herausarbeiten kann, zeigt doch die jetzige Anlage keine Proportionierung mehr.
Durch die Erweiterung des Schlußteils entsteht aber eine Symmetrie. Sie wird durch die kontrapunktisch dichtesten Abschnitte T.27-32 und T.50-55 dargestellt. Schon Keller hat ihre besondere Stellung bemerkt, als er diese Abschnitte als „Seitensätze“ beschrieb. [Anm. s.u. Keller 131]
Im ersten Fall werden diese Takte (27-32) von jeweils 7 Takten flankiert. Die daraus entstehende Gliederung der Abschnitte nach T.16 deckt sich nun nicht mehr mit den drei Teilen, wie sie oben beschrieben worden sind: 10+6+10 7+6+7. [Von mir nicht zitiert!] Diese Gliederung steht aber im Einklang mit den Kadenzen der einzelnen Abschnitte und mit den schon erwähnten Akkordbrechungen, mit denen die Abschnitte eröffnet werden.
So richtet die Wiederholung von T.27-32 eine Symmetrie auf, die allerdings nicht den Eingangsteil des Stückes umfaßt, während die Wiederholungen aus dem 1. Teil eine proportionale Gestalt entwerfen, die durch die Erweiterungen des Schlußteils aufgehoben und überboten wird.
Quelle Christoph Bergner: Studien zur Form der Präludien des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach / Tübinger Beiträge zur Musikwissenschaft /Herausgegeben von Georg von Dadelsen Band II Hänssler Edition 24.111 / Hänssler-Verlag Neuhausen-Stuttgart 1986 [Zitate Seite 122f]
Die Anmerkung, die sich auf Keller bezog, veranlasst mich die ganze Seite wiederzugeben, zumal sie zeigt, dass ich nicht der einzige bin, der an Richard Wagner denkt:
Hermann Keller: Das Wohltemperierte Klavier von J.S.Bach / Bärenreiter-Verlag Kassel 1965 /Seite 131
Man kann die hier gegebene Gliederung leicht durchschauen, sie erübrigt sich nach der Bergner-Lektüre. Dem „Rheingold“-Motiv, das mir im Kopf herumspukte (gern mit dem Text „Des Goldes Fluch“) bin ich auf die Spur gekommen, als ich den Klavierauszug gerade durchzublättern begonnen hatte. Da ist dieses endlose, gewaltige Es-dur, das auch die Rheintöchter mit viel „Wagalaweia“ ausbaden, leichtflossig erweitern in Richtung As-dur und f-moll, und wieder Es-dur, aber dann – c-moll: „Des Goldes Schlaf / hütet ihr schlecht!“
Meinetwegen nehmen Sie es als Scherz, aber Wagner hat die Praeludien und Fugen geliebt! Und ich auch!
Noch ein Wort zur Fuge cis-moll, WFK II: sie stand nicht – wie Keller meint – ursprünglich in c-moll, die tatsächlich überlieferte (späte) handschriftliche Fassung in c-moll stammt wohl – wie Alfred Dürr korrigiert – von einem Schüler, der sich den Vortrag erleichtern wollte. Darauf sind wir – Bachseidank! – nicht mehr angewiesen, da wir uns lebenslang durch dieses Werk bewegen, wie vom WTK-Autor gedacht: durch alle Tone und Semitonia, so wohl tertiam majorem oder Ut Re Mi anlangend, als auch tertiam minorem oder Re Mi Fa betreffend.
Leider bin ich noch immer nicht beim eigentlichen Sinn und Zweck meiner Übungen am Praeludium in cis angekommen, nämlich die rechte Vortragsart zu beschreiben, etwa im Sinne Couperins französisch oder im Sinne der neuen Generation galant, empfindsam oder gar leidenschaftlich, wie es sein Sohn Philipp Emanuel gespielt haben könnte.
ZITAT
Das bedeutet: auch der Autor des Buches interessiert mich! Er gibt sich nicht damit zufrieden, solche differenzierten Analysen zu schreiben, sondern möchte Bach präziser an seinem geschichtlichen Ort erfassen und beschreibt dafür zunächst „Luthers Musikverständnis“, „Descartes‘ Musicae Compendium“ und „Leibniz‘ Musikanschauung“. Ich habe diesen Anhang früher pflichtschuldig durchgeschaut, aber heute zünden hier ganz andere Ideenkreise, an denen die ungeheure DIFFERENZ Bachs aufleuchtet. Ich zitiere nur ein paar Sätze, die ich mir damals unterstrichen habe, aber heute erst in ihrer Konsequenz erfasse:
Die Bachsche Methode hebt die Mathematik als wesentliche Methode musikalischer Arbeit tendenziell auf, indem sie bewußt musikalischen Überschuß erzeugt, der auf Grund seiner Stellung im architektonischen Zusammenhang ausgezeichnet ist. Während die Klanglichkeit der Musik für die Philosophen nur hinweisenden, sekundären Charakter hat, der erst durch die Mathematisierbarkeit rational zugänglich wird, gewinnt der sinnliche Gehalt der Musik bei Bach eine eigene Bedeutung.
Und im Anschluss an Leibniz, der letztlich auf Übereinstimmung, Harmonie und Schönheit ausgerichtet ist, kommt der bedeutungsschwere, positiv gemeinte Satz:
Gerade solche Übereinstimmung aber erzielt Bach nicht immer. Und die Entwicklung des Wohltemperierten Klaviers II hebt die musikalisch-architektonische Identität immer wieder auf.
Am Ende – wenn vor allem der Begriff der „Sünde“, der im christlichen Sinn längst ausgedient zu haben schien und erst im Blick auf die globalen menschlichen Katastrophen plötzlich hochaktuell ist, angesprochen ist als für Bach zentral , kommt der Satz:
So treten hier markante Differenzen zwischen Bach und Leibniz zutage. „Die Universalität der Musik von Bach ist nicht, wie die Universalität von Leibniz oder von Goethe, die Darstellung einer in sich geschlossenen Einheit“ [Zitat G.Picht 1980]. Bach bricht die Einheit eines in sich geschlossenen metaphysischen Systems immer wieder auf und öffnet sie für neues Geschehen.
In diesem Zusammenhang spielt auch „die Problematik der lutherischen Orthodoxie“ eine Rolle. Man kann da im modernen Sinne weiterdenken, zumal es auch unmöglich war, „da weiterzumachen, wo Bach aufgehört hatte. Der Bruch nach 1750 ist unübersehbar. Für das Zeitalter nach Bach war die Erfahrung musikalischer Universalität nicht mehr mit der Erfahrung einer sinnvoll geordneten Welt zu verknüpfen.“
Damals war ich nicht bereit, mich mit Luthers Gedanken auch nur provisorisch zu beschäftigen; lange Zeit genügte es, seine Haltung zu den Bauernaufständen zu erwähnen. Jetzt habe ich einen Luther-Artikel von Heribert Prantl (SZ 11./12. Juli 2020 „Herr und Knecht“ über „die Freiheit eines Christenmenschen“) ernst genommen und verwahrt, Zitat: „Die Teufeleien von heute heißen Egoismus, Profitismus, Nationalismus und Rassismus“.
Zu erwähnen wäre auch, dass dieser scharfsinnige Bach-Forscher, den ich oft und ausführlich zitiere, nicht in der Musikwissenschaft seine Zukunft gesehen hat, sondern in der praktischen Theologie, bei Veröffentlichung dieser Dissertation war er bereits Pfarrer geworden. Nie hätte ich gedacht, dass ich eines Tages mit Respekt einer protestantischen Predigt lausche, die im Internet zu finden ist: hier. (Achtung: externer Link, Länge 31’28, siehe auch Nachbemerkung). Der Grund liegt letztlich auch wieder bei Bach, aber nicht nur in der Tatsache, dass dessen Orgelmusik auf hohem Niveau erklingt, sondern auch in der verbalen Kompetenz des Predigers, der selbst Ungläubige zu fesseln vermag, was ja ebenso für die Textbehandlung der Kantaten und Passionen bei Bach gilt. Man muss nicht resignieren, etwa mit den Worten: eine andere Zeit, geht mich nichts an, mich interessiert nur die Musik, nicht das pietistische Drumherum. Man kann napoleonisch-ironisch zu sich selbst sagen: Jahrhunderte schauen dich an…
Zum Abschluss an dieser Stelle zwei Versionen des Praeludiums BWV 873 am Klavier, aber mehr zum Kennenlernen als zum Verlieben; das eine geht für meine Begriffe zu flott, das andere zu meditativ, beides vielleicht zu pedantisch und in den Ornamenten diskussionsbedürftig, – also gerade recht, um sich nicht festlegen zu lassen.
Nachbemerkung
Es sind inzwischen 4 Tage vergangen, und ich bin nicht mehr bereit, mich weiter auf Luthers Musikverständnis einzulassen. Gerade das entsprechende Kapitel in Bergners ergiebigem Buch überzeugt mich wenig. Richtig ist es, im Zeichen Luthers von der Verwandlungskraft der Musik zu reden. Wenn Bergner fragt: „Aber woher kommt die frohmachende, die Welt verwandelnde Kraft der Musik?“ soll die Antwort lauten:
„Darüber gibt Luthers Sprachverständnis Auskunft. Das Neue, das in Christus geschehen ist, muß der Welt gesagt werden, es muß zu Wort kommen. Das aber kann – nach Luther – die Sprache in besonderer Weise leisten, weil sie in Gleichnissen reden kann.“
Und nun kommt er einer starken Metaphorologie nahe:
Unsere Sprache ist voller gleichnishafter Wendungen: „Der Bapst ist Judas, S. Augustin ist Paulus, S. Bernhard ist eine taube / David ist ein hltzwürmlein / Und so fort / ist die Schrift solcher rede vol / und heißt tropos odder Metaphora ynn der grammatica / wenn man zweyerley dingen / einerley namen gibt / um des wille / das ein gleichnis inn beyden ist/ Und ist denn der selbige name nach dem buchstaben wol einerley wort / aber potestate ac significatione plura … zwey wort, ein altes und ein newes“ (17).
In solcher Gleichnisrede erlangt ein Wort eine neue Bedeutung. Diese neue Bedeutung ist Luther gerade deshalb so wichtig, weil mit ihr ein neuer Bedeutungsbereich erschlossen wird, dem ein neues Sein entspricht.
Quelle Christoph Bergner a.a.O. Seite 147
Man muss den Sinn des Wortes Metapher sehr weitgreifend erfassen, so dass hier tatsächlich ein anderes Leben, „ein neues Sein“ begreifbar wird. Ob es nun in der Sprache, in der Musik oder im virtuellen Raum der Malerei erscheint, wie Susanne K. Langer es in ihrem Buch „Fühlen und Form“ entwickelt, ansetzend bei einer Bemerkung des Malers Odilon Redon:
„Ein weißes Blatt Papier jagt mir Angst und Schrecken ein. […] Ein Blatt Papier entsetzt mich derart, dass ich, sobald es auf der Staffelei ist, sogleich gezwungen bin, mit Kohle, Bleistift oder irgendetwas anderem darauf zu kritzeln, und dieser Prozess verleiht ihm Leben.“
Es ist nun kein Papier mehr, sondern ein Raum. Für die großen Maler ist die Illusion von Raum normalerweise so selbstverständlich, dass sie sogar dann, wenn sie über die reale materielle Oberfläche sprechen, dies nur in Bezug auf das Element des Geschaffenen tun können. Etwa Matisse:
„Wenn ich ein Blatt Papier mit einer bestimmten Größe nehme, werde ich es mit einer Zeichnung versehen, die in einer notwendigen Beziehung zu seinem Format steht. […] Und wenn ich sie auf einem Papier, das dieselben Proportionen hat, aber zehnmal größer ist, wiederholen müsste, würde ich mich nicht darauf beschränken, sie zu vergrößern; eine Zeichnung muss über ein Ausdehnungsvermögen verfügen, das den sie umgebenden Raum lebendig macht.“
Das alles ist natürlich nur metaphorisch gesprochen. Doch auch wenn wir es als Metapher nehmen, was bedeutet es? In welchem Sinn ist es möglich zu sagen, van Goghs gelber Stuhl oder ein Atelierofen seien lebendig? Was tut eine Fläche, wenn sie, wie Alfred Sisley sagte, „manchmal zur höchsten Stufe der Lebendigkeit“ erhoben wird?
Solche vollkommen berechtigten Fragen würden fast jedem Künstler banausisch, ja abwegig erscheinen. Möglicherweise besteht er in vollem Ernst darauf, dass er sich keineswegs einer Metapher bedient habe, dass der Stuhl wirklich lebendig ist und eine belebte Fläche wirklich lebt und atmet usw. Das heißt einfach, dass sein Gebrauch von „Leben“ und „lebendig“ ein stärkerer symbolischer Modus ist als eine Metapher: Es ist ein Mythos.
Quelle Susanne K. Langer: Fühlen und Form / Lizenzausgabe Wissenschaftliche Buchgesellschaft Felix Meiner Verlag Hamburg 2018 (Seite 177f.)
Ich gestehe gern, dass mir – wenn ich von belebten Flächen und Proportionen höre – im selben Augenblick das Bachsche Praeludium als lebendiges musikalisches Wesen vor Augen steht. Die Musik als Metapher, als großes Narrativ – wofür?
Neuerdings werde ich nolens volens in die Richtung einer Metaphorologie von Hans Blumenberg gedrängt, den ich vor vielen Jahren zum ersten Mal mit Begeisterung wahrnahm, als ich sein Buch über die Matthäuspassion kennenlernte.
Ich liebe halt solche nicht enden wollenden, ineinandergreifenden Kreisbewegungen, meinetwegen auch solche Beziehungsgeflechte, die mich in dem Roman von Marquéz irritiert und fasziniert haben: Hundert Jahre Einsamkeit. Und so könnte es einem auch in Blumenbergs Buch über die Metaphern gehen. Ich beginne hier:
In den Zusammenhang der Aufgabe einer »Logik der Phantasie« fällt auch, ja exemplarisch, die Behandlung der ›übertragenen‹ Rede, der Metapher, die bis dahin in das Figurenkapitel der Rhetorik gehörte. Diese traditionelle Einordnung der Metapher in die Lehre von den Ornamenten der öffentlichen Rede ist nicht zufällig: für die Antike war der Logos prinzipiell dem Ganzen des Seienden gewachsen. Kosmos und Logos waren Korrelate. Die Metapher vermag hier nicht die Kapazität der Aussagemittel zu bereichern; sie ist nur Mittel der Wirkung der Aussage, ihres Angreifens und Ankommens bei ihren politischen und forensischen Adressaten. Die vollkommene Kongruenz von Logos und Kosmos schließt aus, daß die übertragene Rede etwas leisten könnte, was das κύριον ὄνομα nicht äquivalent zuwege brächte.
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Szép vagy, gyönyörű vagy Magyarország,
Gyönyörűbb, mint a nagyvilág.
Ha szól a zeneszó, látom gyönyörű szép orcád,
Táltos paripákon ide szállunk, hazahív fű, fa, lomb, virág.
Úgy hív a hegedű, vár egy gyönyörű szép ország.
Du bist schön, du bist schön, Ungarn, / Schöner als die große Welt …
[In Klammern sei gesagt: die Melodie ist schwach, sie wird erst durch Erinnerungen aufgeladen. Bis in die Mitte von Takt 3 weckt sie Erwartungen, der hüpfende Rhythmus enttäuscht, der Neuansatz zu Beginn der zweiten Zeile weckt neue Hoffnung, die mit der Sequenz im nächsten Takt enttäuscht wird, ganz banal die darauf folgenden gehaltenen Töne vor der Wiederholung, ebenso der Ausklang nach der Wiederholung. Bei Bartók wird aus all dem eine unvergesslich schöne (aber nicht leicht fehlerfrei erinnerbare), wirkliche Melodie.]
Der Komponist Zsigmond Vincze lt. Wikipedia: After having trained in Budapest, he became conductor of the Király Szinház in the city, and later was musical director of the opera in Debrecen. He achieved his first success in 1909 and went on to compose a number of other well-received stage works over the following 20 years.
The song “Szép vagy, gyönyörű vagy Magyarország” (“Hungary, you are beautiful and splendid” from his operetta A hamburgi menyasszony (The bride from Hamburg) [1922] was quoted by Bartók in the fourth movement of his Concerto for Orchestra.
The fourth movement, „Intermezzo interrotto“ (literally „interrupted intermezzo„), consists of a flowing melody with changing time signatures, intermixed with a theme that quotes the song „Da geh‘ ich zu Maxim“ from Franz Lehár’s operettaThe Merry Widow,[7], which had recently also been referenced in the ‚invasion‘ theme of Dmitri Shostakovich’s Symphony No. 7 „Leningrad“. The question as to whether Bartók was parodying Lehár, Shostakovich (or both) has been hotly disputed, without any clinching evidence on either side.
Ein anderes Lied vom Vaterland:
O Vaterland du machst bei Tag
Mir schon genügend Müh und Plag!
Die Nacht braucht jeder Diplomat
Doch meistenteils für sich privat!
Um Eins bin ich schon im Büro,
Doch bin ich gleich drauf anderswo,
Weil man den ganzen lieben Tag
Nicht immer im Büro sein mag!
Erstatte ich beim Chef Bericht
So tu ich meistens selber nicht,
Die Sprechstund‘ halt‘ ich niemals ein,
Ein Diplomat muss schweigsam sein!
Die Akten häufen sich bei mir,
Ich finde ’s gibt zu viel Papier;
Ich tauch die Feder selten ein
Und komm doch in die Tint‘ hinein!
Kein Wunder wenn man so viel tut,
Dass man am Abend gerne ruht,
Und sich bei Nacht, was man so nennt,
Erholung nach der Arbeit gönnt!
Da geh ich zu Maxim,
Dort bin ich sehr intim,
Ich duze alle Damen
Ruf sie beim Kosenamen,
Lolo, Dodo, Joujou
Clocio, Margot, Froufrou,
Sie lassen mich vergessen
Das teure Vaterland!
Dann wird champagnisiert,
Und häufig pamponiert, (cancaniert)
Und geht’s ans Kosen, Küssen
Mit allen diesen Süssen;
Lolo, Dodo, Joujou
Clocio, Margot, Froufrou,
Dann kann ich leicht vergessen Das teure Vaterland!
Über Lehárs Operette und auch über die Verwendung dieses Liedes siehe Wikipedia hier.
Es ging in diesem Beitrag um den Nachweis der beiden, im 4. Satz des Werkes zitierten
Melodien: dort bei 25:04 („Ungarn“) und bei 26:05 („Maxim“). Man dürfte dabei nicht lächeln, es ist bitterer Ernst. (Die auch von Schostakowitsch in der „Leningrader Sinfonie“ zitierte Melodie!) Bei 26:54 wieder „Ungarn“, con sordino, wie aus der Ferne…
*Anm.: muss heißen „Presentando le coppie“ lt. Georg Solti vgl. Wikipedia / ABER: später hat B.B. doch sein Placet gegeben. (giuoco veraltende Form für gioco Spiel)
Zitat Laura Krämer (Heidelberg 2013 Dissertation):
Ursprünglich hatte Bartók den Satz „Presentando le Coppie“ („Vorführen der
Paare“) betitelt, in der Absicht, eine entsprechende Wendung aus dem Ungarischen zu übersetzen. Offenbar gab die italienische Phrase aber nicht wieder, was
Bartók aussagen wollte, so dass der neutralere Titel „Giuoco delle Coppie“
(„Spiel der Paare“) gewählt wurde. [Anm. 254]
254 Cooper 1996, S. 23. Die Episode wird von Antál Doráti kolportiert.
Ich wähle Mozart, weil keine Musik leichter zu verstehen ist, man hört hin und weg. Sie ist so leicht, dass man dem eigenen Vergnügen nicht traut. Um bei mir selbst anzufangen: ich misstraue von vornherein den flotten Dreiklangsthemen und behänden Skalen, wogenden Tonleiterausschnitten und Arpeggien, aber auch allen Melodien, die das Frage-Antwort-Spiel anstimmen, das Öffnen und Schließen. Von der Tonika zur Dominante und von der Dominante zur Tonika. Da es aber in Wirklichkeit ganz anders geht, – das Andere etabliert wird, die Erneuerung der Töne -, stimmt bis hierher kein Wort, und Mozart hören bedeutet für mich: Alarmstufe 1. Nichts ist so wie es scheint. Und wenn ich sage: ich war verzaubert, so hat es dafür einige Zeit gebraucht, viele Einzelstücke, die ich geübt habe, vor allem zu hören geübt habe, bis sie mir fremd wurden, Wirkungen, die ich nicht verstanden habe. Auf Anhieb – ja, waren sie alle nur schön.
(Achtung beim Beginn der Musiken: möglicherweise startet es mit Werbung!)
Obiges Video im externen Fenster HIER (Geoffrey Parsons, Klavier)
Zweimal Barbara Bonney. Zwischenfrage: waren die Aufnahmen identisch?
Warum die Concertante für Bläser KV 297b hier folgt, – obwohl sie vielleicht gar nicht von Mozart stammt? Wegen des in jedem Fall schönen Seitenthemas, zu hören ab 1:27. Mir fiel auf, dass es sonst kaum ein (echtes) Mozart-Thema gibt, in dem fünfmal derselbe Ton hintereinander kommt, wie eben in diesem Lied, wo es vom Text her erklärbar wäre: die schlichte Aufzählung der Eigenschaften, fortwirkend im absteigenden Dreiklang samt kleinen Denkpausen, die „blauen, hellen, offenen Augen“: der Blick der Liebe und die Lust, ihn zu erwidern, das sind die zwei Hälften des Themas. Und es ist einfach. „Natur“.
Es lohnt sich, im Concertante-Thema zu beobachten, wie die Tonwiederholung dazu führt, das Verharren etwas dringlicher zu begründen und auszubauen, indem eine Zwischenmodulation eingebaut wird. Also – ab 1:27 !
Ich gehe eigentlich der Frage nach, warum mich dieses Lied besonders bezaubert, obwohl ich es – auf dem Papier – niemals für bedeutend gehalten hätte, – es lebt wie kaum ein anderes von der Interpretation und vielleicht auch noch von dem, was man sich dabei denkt (ja, und sei es im leicht anzüglichen Sinne). Bemerkenswert, dass man sich kaum daran stört, wenn das Lied von einer Frau gesungen wird; vielleicht hat man es auch gerade deswegen goutiert, weil man die Sängerin sogar rollenmäßig distanzierter wahrnehmen kann: sie singt den aus der Sicht eines Mannes geschriebenen Text, lediglich als „lyrisches Ich“.
Ausgerechnet dieses Lied hat den Sprach-Entertainer Roger Willemsen zu Gedanken über Mozart angeregt. Das Buch „Musik!: Über ein Lebensgefühl“ wurde nach seinem Tode zusammengestellt (S. Fischer, 2018):
Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, aber dies ist ein Gedicht vom Beischlaf – und zwar vom reinen Anschauen – über das Halten, Küssen, Busendrücken bis in die Post-Coitum-Traurigkeit – „ermattet, aber selig“. Aber jetzt hören Sie was Mozart daraus macht. Seine Frühlingsgefühle sind behände, kommen so leicht daher wie der Text, aber dessen zweite Ebene ist nicht mitkomponiert, anders gesagt: Mozart hatte offenbar keine Ahnung, was er da komponiert und hat eher die Natur im Blick als die Triebentfaltung.
Etwas Neckisches trägt sein Lied, es braucht viel Atem, auch Vibrato in der Stimme. Zwar gelingt ihm die Vermählung des Dramatischen mit dem Lyrischen auf engem Raum, aber die Textvorlage ist ihm so wichtig nicht, er komponiert munter über sie hinweg und sucht den eigenen Ausdruck der Musik. So gibt es keine textgebundene wirkliche Variation zwischen der ersten und der letzte – post coitum – Strophe. Hören Sie, was ihm zu den Wörtern „umschattet“ und „düster“ einfällt – Flutlicht. Wie er das „neben dir“ sinnlos wiederholt, wie die ganze letzte Strophe eben nicht das „omne animal post coitum triste“ enthält, sondern eine leichtherzige A-tempo-Stimmung, die über das Lied hinaushetzt, und auch die letzte Seligkeit ist nicht ermattet, sondern Fanfare. Was hätte Hugo Wolf, was hätte Schubert aus dieser Vorlage usw. usf.
Hat er recht? Natürlich nicht, er zeigt eine geschmäcklerische Feinsinnigkeit am unpassenden Objekt. Weiß er etwa, wie man das hätte komponieren sollen, – möglichst mit einem schwermütigeren Ausklang, „den eigenen Ausdruck der Musik“ brauchen wir hier nicht, die Lage ist zu ernst. Wie? und das hat Mozart nicht begriffen? Immerhin hat er auf 9 weitere Strophen von Jacobis Original verzichtet. Und in den hier verbliebenen 4 Strophen soll er noch über Wesentliches hinwegkomponiert haben? Enthält denn das wiederholte „neben dir“ nach dem „selig“ zu wenig Aussage? Lasst uns doch bitte vom Liebestod ein andermal reden…
Wikipedia (leider nur in englisch) ist wieder einmal lesenswert:
Zum Text
Jacobi’s poem consists of 13 four-line stanzas with an A–B–A–B rhyme scheme. Mozart, who found it in the Göttinger Musenalmanach from 1785, used only the first four. The stanzas not used tell how the lovers‘ happiness was cut short by betrayal and death. The „death“ in the third stanza refers to the height of passion after which the lovers release their embrace – la petite mort. From the ancient Greek novelDaphnis and Chloe, Chloe is the name of a shepherdess often used in poetic pastoral settings.
Anm.: Ungeklärt, ob es im Original (Mozart oder Jacobi?) „zitternd dich in meinen Arm“ heißt oder „… in meinem Arm“.
Zur Musik (die hier erwähnten Takte sind im obigen Notentext rot markiert)
The form of the composition is not strophic, but a rondo (A–B–A–C–A′) with a coda. The vocal line is independent from the keyboard accompaniment. Upward leaps in the melody in bars 8, 9, 13 indicate the lovers‘ delight, piano staccato in bars 21 and 23 depicts heartbeats, there are shivers (piano bars 24, 25, voice melisma 35, 36), breathlessness (mid-word rests in bars 41, 43), and fatigue (longer rests in bars 49 and 50, leading to a general pause in bar 51). The coda invokes operatic style in bars 65 to 70, and bars 62 to 65 employ sudden dynamic changes from the Mannheim school. The piano reuses its prelude below the voice in bar 67 and extends it to form a postlude. The first three verses are covered in 39 bars, while the fourth alone takes 30.
Wenn man einen solchen Artikel anfängt und in vielen kleinen Schritten fortführt, erwartet der Leser, die Leserin gewiss ein Ranking: zwei Sängerinnen, deren Leistung gegeneinander abgewogen wird, für diese, gegen jene, und draußen, in der Gesellschaft, wo man selbst in einem Ranking steht, wird daraus ein radikales Urteil, das differenziertere Meinungen unter den Tisch fegt. Man muss das nicht mitmachen, aber bei mir ist es nicht anders, ich könnte mich allerdings schon bei Willemsen länger aufhalten: er entschuldigt sich („bitte nehmen Sie es mir nicht übel“), denn er will das Wort „Beischlaf“ benutzen, und das ist ja nicht falsch; aber der Autor ist darum nicht ehrlicher als der Dichter Jacobi im 18. Jahrhundert. In Krimis sagt man unverblümt „er vögelt meine Frau“; vom „Fremdgehen“ zu sprechen, wird als zu schwach empfunden. Was ich gestern geschrieben habe über eine rollenmäßig distanzierte Sängerin und eine etwas anzügliche Ausdrucksweise, kann man als unzeitgemäß kritisieren. (Ich lese immerhin das 2019 nachgelieferte philosophische Enthüllungsbuch „Die nackte Wahrheit“ von Hans Blumenberg, und es steht in einer langen Reihe seit 1969 Ludwig Marcuses „obszön / Geschichte einer Entrüstung“.) Und heute morgen fiel mir auf, dass ich, über das eine Mozart-Lied sprechend, immer alle andern mitdenke, weil ich nicht zehnmal dieses eine höre, sondern gleich danach die ganze Serie und mir dabei sage: Mozarts Gestaltenreichtum ist es, den ich liebe, und wenn ich seine Lieder rühme, beginne ich vielleicht mit „Sei du mein Trost“ , weil es so ungewöhnlich anfängt und auf „Das Veilchen“ folgt…
Sei du mein Trost
KV 391 (Wien, 1781/82)
Johann Timotheus Hermes (1738-1821)
Sei du mein Trost, verschwieg’ne Traurigkeit!
Ich flieh‘ zu dir mit so viel Wunden,
Nie klag‘ ich Glücklichen mein Leid:
So schweigt ein Kranker bei Gesunden.
O Einsamkeit! Wie sanft erquickst du mich,
Wenn meine Kräfte früh ermatten!
Mit heißer Sehnsucht such‘ ich dich:
So sucht ein Wand’rer, matt, den Schatten.
O daß dein Reiz, geliebte Einsamkeit,
Mir oft das Bild des Grabes brächte!
So lockt des Abends Dunkelheit
Zur tiefen Ruhe schöner Nächte.
Ein ARTE-Konzert sondergleichen – noch abrufbar bis 29.03.2020
bitte anklicken und auch die kleinen Bilder rechts zur Kenntnis nehmen. Es bleibt interessant ! Zur Originalsendung jedoch nur über den folgenden Link:
Ich habe es zum zweiten Mal gehört und gesehen / siehe die Reaktion damals hier im Blog. Jetzt haben wir die Sendung aufgezeichnet, um sie auch nach dem 29. März nicht mehr zu verlieren, und betrachten sie immer aufs neue: Arabische Musik als große Kunst. Man braucht die reale Länge, den Ernst der Aufführung, auch das Erlebnis der allmählichen Abflachung, es gibt keinen unüberwindlichen Graben zwischen hohem Ernst und spielerischer Leichtigkeit, bis hin zu den Dabke-Rhythmen und den Bändern der Terzparallelen am Schluss.
Um an die damaligen Analysen anzuknüpfen und zugleich den fachlichen Anspruch zu dämpfen, würde ich heute sagen: es genügt, mit großer Ruhe dem Verlauf der Melodie-Entwicklung zu folgen und zu versuchen die tonalen Bereiche liebzugewinnen, keinen (!) Ton für unsauber zu halten, es handelt sich gerade um die wunderbarsten Eigenarten des arabischen Tonsystems. Im dritten Teil des Abends werden nur die Skalen verwendet, die „zufällig“ der Dur- oder Mollskala der westlichen Musik entsprechen, auch weiß man natürlich wie eine gefällige, fassliche Melodik dem westlichen Verständnis entgegenkommt, und es ist kein Zufall, dass es dann ein wenig nach Balkan klingt (die „mazedonischen“ Terzen). In den großen Gesängen des Abends , z.B. „Al-Atlal“ nach Oum Kalthoum, genügt es empathisch mitzuerleben, wie der Schwerpunkt sich allmählich verlagert, vom Grundtonbereich aufwärts, welche Tonfiguren bevorzugt werden, wie die Ornamente wirken. Als würden mit ihrer Hilfe erst die Farben der Töne, ihre Charakteristik erzeugt. Manches ist nicht anders als bei Beethoven: bestimmte Entwicklungen, obwohl durch kompositorische Skizze und etwa durch Oum Kalthoums kongeniale Interpretation für immer minutiös festgelegt, erscheinen diese Tongebilde so frei und großartig, als würden sie erst heute, wie am ersten Tag der Schöpfung, erfunden und in den ahnungslosen akustischen Raum gezeichnet. Ahnungslos? Viele Menschen im Publikum könnten mitsingen, zumindest die Orchester-Refrains, sehr eigenartige Melodien des Komponisten Riad Al Sunbati. ( JR)
Pressetext:
91 Min. Länge / Nächste Ausstrahlung am Dienstag, 24. März um 05:00 (!)
Fairuz, Umm Kulthum, Leila Murad, Warda al Djazairan, Asmahan, Mayada Alhenawy – die Namen dieser Diven lassen die Herzen in der arabischen Welt höherschlagen. Im Westen sind diese in ihrer Heimat durchweg berühmten Künstlerinnen dagegen kaum bekannt. Drei junge arabische Sängerinnen interpretieren die Lieder ihrer großen Vorbilder in einem außergewöhnlichen Konzert.
Göttinen, Diven, Idole, Mythen – Seit den 1940er Jahren hat die arabische Welt zahlreiche Frauenstimmen hervorgebracht, die die Herzen von Männern, Frauen und Kindern haben höherschlagen lassen. Ob Umm Kulthum oder Leila Mourad aus Ägypten, Warda al Jazairia aus Algerien, Fairuz aus dem Libanon, Mayada El Hennaway aus Syrien oder die syrisch-ägyptische Diva Asmahan: Die Grandes Dames arabischer Populärmusik haben ganze Kulturkreise fasziniert. Zugleich verkörperten sie die Aufbruchsstimmung eines sich modernisierenden Volkes. Doch bis heute sind die orientalischen Diven und ihre Stücke in Europa kaum bekannt. Um dem entgegenzuwirken, veranstaltete die Pariser Philharmonie im Zuge der Ausstellung „Al Musiqa“ des Musée de la musique, die vom 6. April bis 19. August 2018 stattfand, zwei Wochenenden, die ganz im Zeichen arabischer Musik standen. Dazu lud sie am 12. Mai 2018 drei Sängerinnen dazu ein, im großen Saal die schönsten Stücke der arabischen Legenden neu zu interpretieren: Die libanesische Sängerin und Musikwissenschaftlerin Abeer Nehme, die im religiösen Register ebenso bewandert ist wie im populären, Dalal Abu Amneh aus Palästina, die seit ihrem sechzehnten Lebensjahr von ihren Musikerkollegen gefeiert wird, und Mai Faruk, eine der schönsten Stimmen Ägyptens. Begleitet wurden die drei Sängerinnen vom Orchestre du monde arabe unter der Leitung des palästinensischen Dirigenten Ramzi Aburedwan. Die Lieder handeln von Liebe, Poesie und vom Leben der arabischen Frauen.
Regie : Olivier Simonnet
Mit :
Abeer Nehme (3) 01:02:30 bis 01:09:00 bis 01:21:39 / danach alle drei
Es fing damit an, dass ich ihn für einen eigenen Einfall hielt. Ohne Verwunderung. Sowas ist leicht, am Leitfaden einer Sequenz entsteht assoziativ eine Art Melodie. Da ich Zeitung las, wollte ich sie eigentlich wieder los werden, stattdessen (oder deswegen) notierte ich sie, und schon wurde ein Studienobjekt daraus:
Als die Sequenz fertig dastand, die an sich immer wieder von vorne losging, wusste ich, ein drittes Mal dürfte das so nicht weitergehen, es ist schon simpel genug. Warum wirkt es überhaupt auf mich, als habe es ein Existenzrecht? Die neue Linie ist die gleiche, aber die Intervalle verändern sich, das erhöht das Interesse; da der Grundton erreicht ist, müsste jedoch ein ganz neuer Impuls kommen, ja, die betonte Oktave, und noch mal eine Sequenzformel, das ginge, und damit könnte ich ich es erstmal bewenden lassen. Leichte Irritation, weil die neue Formel eine andere Assoziation weckt, eine Instrumentenfarbe.
Und während ich weiterlese, denke ich, da kommen auch Worte nach, einzelne Fetzen, vielleicht ist das gar nicht von mir? … Schubert womöglich…? Und dann geht es in die Kinderzeit, Schulzeit, Chor, schäbiges Orchester, Solo der Oboe, das der letzten Sequenzformel gleicht, ich weiß sogar noch den Komponisten, ich mochte ihn nicht, aber dass er es fertigbrachte, sich in einem Quintanerhirn festzuhaken. Unangenehm, aber unabweisbar. Melodie und Text: „Als Joseph von des Hügels Rand das Städtchen liegen sah, gab er Maria leis die Hand und sprach: das Ziel ist nah.“ Oder „da“. Aber warum „leis“? Die Oboe fand ich verehrungswürdig, edel, ich glaube, Ubenauf spielte sie, sein Vorname ist weg. Walter Rein fällt mir ein, diesem Komponisten wollte ich nie wieder begegnen. Mein älterer Bruder sang früher auch gelegentlich ein eigenes Motiv (behauptete er jedenfalls), nervend, und zwar auf den Text „Im Stadion zu Delphi“, immer und immer wieder, aber Weiteres rückte er nicht heraus. Ich halte mich an Joseph:
Ubenauf. Der Vorname, der mir fehlte, ist Albrecht. Es lebe die Erinnerung. Ich denke an andere, jüngere Ohrwurm-Sequenzen: „Nessun dorma“, die Linien, die einem sofort einfalen, wenn das Wort „Kalaf“ gesagt wird, oder „Turandot“, außergewöhnlich, weil sie stufenweise ansteigen, statt abzusinken; ich schone sie, weil sie ihre Wirkung bewahren sollen, und immer wieder wundere ich mich, weil sie aus dem Nichts auftauchen, um einen Höhepunkt zu schaffen. Oder wie mich kürzlich unvermutet die Klavierfassung eines berühmten Liedes aus dem Handy ergriff: „Ja, du weißt es, teure Seele [usw.] Liebe macht die Herzen krank“, kamen nicht sofort die Tränen? mechanisch, ja automatisch, immerhin wusste ich plötzlich, warum. Das würde mir bei Kalaf nie passieren, da ist es der strahlende Andere, der Tenor. Bloß nicht heulen, meist ist Selbstmitleid im Spiel, also notiere ich eine Art Durchblick. (Wo ist das Blatt?)
Diesen Ohrwurm kann ich abmurksen mithilfe eines anderen, willkürlich erzeugten, „Clair de lune“ von Debussy, da muss ich mir nach den ersten beiden Terzen den großen Septakkord vorstellen, das erfordert mehr Imagination, dann sehr bald die hohe Stelle, die ihren Reiz aus derselben Dissonanz zieht, Impressionisten bringen jedes einprägsame Motiv zweimal, das darf ruhig ein Ohrwurm werden oder bleiben, mit einem doch etwas differenzierteren Klang dahinter. Ich muss das nicht aufschreiben, aber das Banale gehört nun mal zur „Wiederkehr des Gleichen“, es gehört zur Realität und kann jederzeit für „magisch“ erklärt werden. Da muss man gewappnet sein. Moment, geirrt habe ich mich offenbar mit dem großen Septakkord, im Bass steht kein Ges , sondern ein Es, im Grunde habe ich nur die Dissonanz im Ohr, die der Ton f in der Höhe und in der Mittellage mit dem ges bildet. Sind es eigentlich immer melodische Motive, nie Akkordfolgen, die einen Ohrwurm verursachen?
Eine schreckliche Ahnung steigt auf, das Motiv, das ich zu Anfang notierte, könnte doch auch von Mozart stammen. Und ich habe es nicht auf Anhieb identifiziert? Plötzlich scheint mir, das Wort „Liebe“ könnte hineingehören, woher kenne ich das? Und es wird noch peinlicher: womöglich ist es aus „Così fan tutte“ , die Oper die mich kürzlich wieder so beschäftigt hat ? Nein, unmöglich, aber vielleicht dies: Wenn der Freude Tränen fließen… Entführung aus dem Serail.
Nein, keinesfalls! (Die Chromatik und der direkte Gang zum Grundton.)
Es ist nicht zu fassen: nach einen erholsamen Mittagsschlaf erwache ich mit einer glorreichen Idee. Ich hatte am späten Vormittag noch eine Whatsapp-Rundfrage verschickt, samt obiger Notennotiz und der Frage: „Wer kennt das?“ Die beste Antwort: „Klingt wie die Nachsatzphrase aus einem Schubertmenuett. Aber, tja, aus welchem. Schlimmer noch: es könnte einer der 700 Walzer sein.“ Vor dem Einschlafen las ich in der Süddeutschen über Hölderlin, von „Linien des Lebens“, und beschloss, den Passus mit dem wunderbaren, mir unbekannten Gedicht abzuschreiben, – wachte nach 25 Minuten auf und beschloss, etwas anderes zu tun, nämlich: alle Titel der Trio-Roseau-CD noch einmal anzuspielen. (Die Erleuchtung war nahe…) Hier die Auslöser in umgekehrter Reihenfolge:
Quelle Süddeutsche Zeitung 15./16.Februar 2020 Seite 15 So dacht‘ er Dauerausstellung in Tübingen, Baustelle in Lauffen, Betreten verboten in Nürtingen: Eine Rundreise zum 250. Geburtstag des Dichters Friedrich Hölderlin / Von Alex Rühle
Ich klicke im CD-Spieler durch: Nr.6 !!!
Bei schwächeren Nerven müsste ich in Ohnmacht fallen: aber im Gedächtnis war mir nur „etwas mit Liebe“. Nicht „Un‘ aura amorosa“…
Nie wieder wird mich dieser alte Ohrwurm von heute Morgen verfolgen. In Wahrheit handelt es sich – wie so oft – um eines der schönsten Stücke, die ich kenne.
Eine bedrückende Frage bleibt: wie konnte ich das für banal halten??? Sie gilt allerdings nur zum Schein, denn auf das Motiv an sich, vage erinnert, könnte jeder kommen, der mit klassischer Musik umgeht. Es war ja auch kein Einfall, sondern nur eine Art Déjà-vue, das ungerufen auftauchte, ein fremdes Ding, das sich wichtig tat. Und niemand legte seine Seele hinein, es hatte keinerlei Tendenz, sich in die Realität hinauszuspannen. Usw. usw. – jetzt könnte ich eigentlich Hölderlin abschreiben. Ja, die Verse sollen hier folgen und meinetwegen wiederkehren, so oft sie wollen, wie die, die ich seit der Darmstadt-Zeit 1963 kenne und aufsage: „April und Mai und Junius sind ferne.“ Besser kein weiteres Wort davon…
Man kann ohnehin alles nachlesen, wenn man will, zum Beispiel hier . Aber ob es einen wirklich erreicht, ist eine andere Frage. Man verweist aufs Herz, auf Herz oder Seele. Oder Gänsehaut. Das hat mit Ohrwurm nichts mehr zu tun. Als nächstes muss ich die Notiz zu „Ja, du weißt es“ (Zueignung!) wiederfinden, irgendetwas war brauchbar daran, betr. Rousseau. Vielleicht so brauchbar wie der rote Melodiefetzen da oben, der sich plötzlich in Mozart verwandelte…
Das Lied ab 0:10 / und im externen Fenster hier. Und es dauert nur 6:38 Minuten, also gibt es keinen Grund, es nicht zu hören und zu kennen. Für immer. Die schlechte (?) Nachricht: 1 Mal hören genügt nicht. Und hören ohne zu denken ist sinnlos. Usw. usw.
Unvergesslich allein schon zu Beginn (ab 0:16) die Klangfarbe der Mischung Klarinette/Flöte für die Melodie! Ein Blick in die Partitur kann nicht schaden, um die Ohren zu schärfen: der gehaltene Sordino-Klang der geteilten Bratschen, ebenfalls sordino (also mit Dämpfer) der aufsteigende Dreiklang des Solocellos, die träumerischen Einwürfe der gedämpften Geigen, diese Girlanden werden dann von den Bratschen weitergeführt, während die Geigen Triller einfügen oder für Momente an der Gesangsmelodie mitsummen.
Zum Umfeld: Wikipedia hier Notenbeispiel (Achtung: in der Partitur oben steht das Lied steht in H-dur, wahrscheinlich wegen „Contralto“-Stimmlage; hier nun in D-dur, und da müsste korrekterweise im 2.Takt, 2.Ton ein gis (!) stehen, danach wieder g.)
Zum Text:hier , Biographie des Dichters bei Wikipedia hier
Weitere Aufnahmen mit ihm: Rameau (!) siehe hier (Hippolyte & Aricie) und hier (Dardanus). Achtung, lästige Reklame-Einstiege überspringen!
Dank an JMR für die Links!
Vergleichsaufnahme „Le Spectre de la Rose“ mit Janet Baker (Barbirolli)
Was den Dirigenten des Kölner Gürzenich-Orchesters angeht, „a Frenchman in Cologne“, möchte ich anregen, ihn an anderer Stelle in diesem Blog als Vertreter des französischen Chansons kennenzulernen, nämlich hier (am Ende des Artikels über Kant, Peter Szendy und Ohrwürmer). Bitte nicht lachen. Nur lächeln!
Dies gab mir beim ersten Blick ins heutige Tageblatt am meisten zu denken, – neben der politischen Schlagzeile, die dem Wort „Umweltsau“ in dem beliebten Kinderlied „Oma im Hühnerstall“ galt. Jetzt ist es halt nicht mehr zu gebrauchen. Aber um den fehlenden Spitzenton im Anzeigenteil wird sich niemand kümmern, man ignoriert ihn, weil die wenigstens Kunden Noten lesen, immer nur in Worten denken. Aber gerade der Ton, zu dem man zweimal ausholt, um ihn dann um so lauter zu schreien: der gehört doch einfach an den Anfang der zweiten Zeile. Ach, ich würde gerne in der Annoncenabteilung aushelfen, wenn man mich nur ließe:
Sie sagen: jetzt erst sieht es schlimm aus, den Druckfehler hätte doch keiner bemerkt. Wirklich? Dann sage ich eben auch mal was Schlimmes über Ihre Oma! Zum Beispiel, dass sie noch nicht mal einen Zweizeiler mit Reim aufsagen konnte. Stammt das nicht von ihr? dieses: „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf später!“ War sie zu dumm oder ein bisschen hinterfotzig? – In einem alten Film habe ich erlebt, wie jemand am Fischstand mutwillig mit den Worten begann: „Einem geschenkten Barsch …“ und dann zaghafter fortfuhr „… schaut man nicht in den – Schlu—lund!“ Also – erst beim Zögern ist es ein ganz netter Witz geworden, dem wohl anderenorts schon plattere Versuche mit den Worten Gaul, Maul, Hund und Mund vorausgegangen waren.
A propos „platt“: ich assoziiere mit der zweiten Zeile ohne Spitzenton die 50er Jahre mit ihren Heideröslein- und Försterliedern. „Im Wald und auf der Heide“, so hat man den „deutschen Wald“ in die Nachkriegszeit gerettet, wie auch die Rohkost, die Jungschar und die Reformbewegung. Ich konnte alle Strophen vom „Wilddieb“ und habe sie im Landschulheim auf Spiekeroog, wenn wir das Licht ausschalten mussten, den noch lauschenden Mitschläfern vorgesungen; das wirkte Wunder: „der Wilddieb, er gibt keine Antwort, er kennt ja die sichere Hand, ein Knallen und gleich drauf ein Aufschrei, und der Förster lag sterbend im Sand“. Ich glaube, es war diese Version, die den Krieg überlebt hatte, erst später kam Friedel Hensch mit den Cyprys.
Gut, das Lied saß und tat Wirkung, passte auch zu den Büchern, die ich verschlang (Kloss: „Ferien im Försterhaus“). Aber da sich in dieser Zeit auch meine Vorliebe für Klassik festigte („Die goldene Geige“), ärgerte es mich, wenn kostbare Wendungen, die ich liebte, in Schlagern auftauchten, die ich billig fand. Während mein Bruder meinte, dies sei das eigentlich Wahre (was sich auch vertreten lässt), und er war der Ältere. Michael Jary, René Carol, Wolfgang Sauer. Ich hätte nicht ausdrücken können, warum die einfach aufsteigende und wieder absteigende Linie („Du hast ja Tränen in den Augen“) mir nichts bedeutete. Oder das Auf-der Stelle-treten („Glaube mir, glaube mir“, das hat schon den Pendelrhythmus von „Zum Geburtstag“). Ich glaube nicht, dass ich etwa die ausgedehnte Melodie des Adagios hätte beschreiben können, über das mein Vater den Text eines Liedes notiert hatte („All mein Glück hab ich verloren“). Von Beethoven kannte ich nur „Ich liebe dich, so wie du mich, am Abend und am Morgen“ und fand es etwas langweilig, nein, nur bis zu einer bestimmten Wendung, jedenfalls der Sache nicht angemessen, und dann änderte sich alles mit wenigen neuen Tönen. Doch das führt zu weit (ja, die Länge brachte es, nicht die Kurzatmigkeit). Ich bleibe jetzt bei dieser Klaviersonate op. 2 Nr.2, obwohl es eine ganz andere war als die, die ich für immer mit meinem Vater verband, G-dur op. 14 Nr. 2, aber das war viel früher gewesen, in der Wohnung Kurfürstenstraße, mein Bruder übte damals am gleichen Flügel „Guter Mond, du gehst so stille“, für unsern jähzornigen Vater ein pädagogisches Waterloo. Inzwischen wohnten wir längst in der Paulusstraße, mit Blick auf die Paulus-Kirche:
op. 2 Nr. 1, Satz 2 Adagio
Ich weiß nicht, ob wir damals das Lied „Happy Birthday“ oder „Zum Geburtstag“ schon kennen konnten, wie auch immer: der Rhythmus des Auftaktes stimmt, danach folgt in Beethovens Adagio der große Aufbruch in Gestalt des Sextsprunges, im Geburtstagslied nur die nichtsnutzige Wechselnote auf „-burtstag“, aber die beiden Anfangstöne des nächsten Taktes sind identisch („viel Glück“). Und nochmals beim nächsten „viel Glück“, dem im Adagio allerdings die Anfangstöne in Takt 8 entsprechen. Aber die Dissonanz am Anfang des Taktes 7 tat schon besondere Wirkung, und der Spitzenton der Melodie steht spürbar bevor: in Takt 10, überboten noch in Takt 12, dann aber die wunderschöne Wendung der Trauer in Takt 14, sie war in Takt 7 vorzuahnen: der schmerzliche Terzenvorhalt vor der Subdominante (B-dur-Akkord). Ein rinforzando bereitet daraufhin die Anstrengung der höchsten Töne und des Abstiegs zum Grundton vor, der letztlich analog zu Takt 8 erfolgt.
Beethoven
Von F-dur nach C-dur übertragen
„-tstag, liebe Suzan, zum Geburtstag viel Glück…“
Aber glauben Sie nur nicht, ich will eine echte Verwandtschaft nachweisen. Damit wäre den Schlagern wahrhaftig zuviel Ehre angetan. Die sind bloße Profiteure des klassischen harmonischen Bestands. Und ich trage schließlich lebenslang die Last einer schlechten Assoziation.
Und wenn Sie den Eindruck haben, ich habe Ihnen einiges zugemutet: ich habe Ihnen auch manches erspart, was als Parodie vielleicht lustig gewesen wäre. Vgl. das Thema Klima-Oma. Ich wünsche allen Lesern und Hörern eine leckere Silvestermahlzeit und ein frohes Neues Jahr.
Ein schöner Frühlingstag des Jahres 1873 in den Spatzenbergen bei Moskau. Die Gärten sind weiß und gelb von Blumen, die Sonne strahlt, die Bauern und Bäuerinnen flanieren über den Dorfplatz, drüben sitzen „bessere Leute“ aus der Stadt und sind ausgelassener Stimmung. Der Wortführer heißt Nikolai Rubinstein, – Pianist und Dirigent -, in seiner Nähe sitzt Peter Iljitsch Tschaikowsky. Anlass des gemeinsamen Ausflugs ist die erfolgreiche Uraufführung der Bühnenmusik zu Ostrowskys Frühlingsmärchen „Schneeflöckchen“ unter Rubinsteins Leitung. Der ganze Hochschulclub ist dabei. Dass Tschaikowsky seit 1866, direkt nach seinem Studienabschluss in Petersburg, als Lehrer im neugegründeten Moskauer Konservatorium arbeiten konnte, hatte er dem 5 Jahre älteren Rubinstein zu verdanken, der ihn sogar bei sich wohnen ließ und in fast erdrückender Weise umsorgte. Ein Biograph erzählt:
„Zu der Zeit, als Peter Iljitsch in Moskau eintraf, trieb Nikolaj stürmisch und mit vollen Segeln auf dem Strom seiner geliebten Arbeit dahin, für viele Stunden des Tages, denen lange Nächte folgten, die dem Kartenspiel, dem Trunk und allen möglichen Affären … gewidmet waren. Von den Lehrern, die er mochte, verlangte er, dass sie nach dem Unterricht seine Zechkumpanen wären. Den zurückgezogenen und linkischen Peter Iljitsch liebte er und glaubte, zu seiner Freude, in ihm das gleiche Talent für Gastereien und eine ihm gemäße Aufnahmefähigkeit für Alkohol entdeckt zu haben. Diese Freundschaft beeinflusste jedoch nicht seine musikalischen Grundsätze, und lange Zeit war sein Urteil über den Komponisten Peter Iljitsch durchaus unschlüssig, ja unfreundlich.“1
Um 1871 hatte sich das bereits geändert. Tschaikowskys wachsende künstlerische und menschliche Unabhängigkeit drückte sich auch darin aus, dass er, ohne die Freundschaft zu kündigen, endlich räumliche Distanz herstellen konnte, er zog in eine eigene Wohnung, und er begab sich auf Reisen, er wurde zu einem monomanisch Reisenden: allein in diesem Jahr 1873, das die Freunde in den Spatzenbergen bei Moskau vereinte, sah er Kiew, Krakau, Breslau, Dresden, Köln, Zürich, Bern, Vivey, Genf, Mailand und Paris. Dabei liebte er die Stille und die Einsamkeit der Natur, die „herrlichen Oasen der südrussischen Steppen“: die ihn in eine exaltiert-selige Stimmung versetzen; „… und in den Nächten lauschte ich am offenen Fenster der feierlichen Stille ringsum, welche nur hin und wieder durch irgendeinen unbestimmten Laut unterbrochen wurde.“2
Sein Freund Nikolaj hält es mehr mit den handfesteren Vergnügungen des Landlebens bei Moskau; an besagtem Frühlingstag lässt er Alkohol, Gebäck und Süßigkeiten herbeischaffen und lädt das ganze Dorf ein. Die Bauern lassen sich nicht lange bitten, sie wissen, dass der Herr ihre Lieder liebt, sie singen und lassen sich zu Rundtänzen ermuntern.
Man kann sich die Bemerkungen der Musiker leicht vorstellen, damals wie heute, zwischen Staunen und Irritation: „Wo liegt denn die Eins? Ziemlich irregulär, ohne klare Periodik, ist das nun Absicht oder Zufall? Raffinesse oder Ungeschick? Sie singen doch, als könnte es gar nicht anders lauten“ usw. wie auch immer – bei einem Musiker hinterlässt all dies Spuren.
Es ist zwar kaum anzunehmen, dass Tschaikowsky das Variationsthema seines Klaviertrios bei dieser Gelegenheit notiert hat; sicher ist nur, dass das Thema ungewöhnlichen Mustern folgt und von Freunden gerade mit diesem Ausflug zu den Spatzenbergen in Zusammenhang gebracht wurde. Was ist ungewöhnlich?
Die 20 Takte des Themas bestehen aus 10 Zweiergruppen, die wiederum in 3 plus 3 plus 4 gegliedert sind. „Normalerweise“ erwartet man nach der ersten Zweiergruppe, die sich öffnet, eine zweite, die zu einem Halbschluss führt, eine dritte würde in der Dominante oder jedenfalls einer parallelen Tonart stehen, eine vierte in die Ausgangstonart zurückführen.
In Tschaikowskys Thema folgt auf die eröffnende Geste eine zweite Geste, die, ebenfalls öffnend, in eine andere Richtung weist, und erst die dritte führt zum Halbschluss; dann wird die erste wiederholt, die zweite verändert, die dritte zu einem Schluss geführt, – 12 Takte.
Ein neuer Ansatz, der in der Dominanttonart beginnt, bringt in nunmehr 8 Takten gewissermaßen eine Regularisierung: zunächst eine Variante der eröffnenden Geste, die beantwortet und zugleich durch Akzente intensiviert wird; die weiteren 4 Takte sind eine Reprise – oder sollte man sagen: eine Korrektur? – des ganzen ersten, „irregulären“ Teils. Dessen erste und letzte Zweitaktgruppe werden nahezu unverändert aneinandergefügt, unter Verzicht auf alle Zwischenschritte.
Solche Worte wirken auf dem Papier kalt analytisch, aber auch mit lebendigem Ohr kann man diesem Melodiebau folgen wie einem durch seltsame Einschübe erweiterten Satzbau. Allerdings gibt es dabei noch eine kleine Irritation: man weiß nicht genau, wie der Takt zu zählen ist. Deutet man den Auftakt von zwei Vierteln als Teil eines Dreiertaktes, da ja zwei Dreiertakte zu folgen scheinen, gerät man unweigerlich aus dem Tritt, wenn danach wieder die zwei „Auftakt“-Viertel zu hören sind, wieder verbunden mit der gleichen Notengruppierung wie vorher. Unwillkürlich projiziert das Ohr einen Taktwechsel hinein: 2/4, 3/4, 3/4; 2/4, 3/4, 3/4. In Wahrheit ist ein 4/4 Takt notiert. Ihn nicht zu erkennen, ist allerdings keine Schande, – genau diesen Schwebezustand hat Tschaikowsky ereichen wollen, indem er die „falschen“ Akzente gesetzt hat. Und der Reiz der Variationen liegt nicht zuletzt darin, wie diese fragile Balance durchschimmert, wie sie umgedeutet oder stabilisiert wird: im Walzertakt, in rauschenden Festklängen, in eleganten Mazurka-Rhythmen und in mystischer Todesnähe. Die immer bedrohte Balance eines Lebens, das von der Musik, vom Klavierspiel, von der gebildeten städtischen Gesellschaft getragen wird – und von einem Faible für das Land, die Erde und die einfachen starken Gefühle.
Wohl zum erstenmal wurden in der Aufnahme des Abeggtrios die Metronom-vorschriften des Komponisten genauestens realisiert, – und gerade das Variationenthema erscheint nun in einem neuen Licht: es ist nicht die pianistisch spitzfingrige Herrichtung eines Bauerngesangs für den Salon, es ist die melancholische Evokation einer fernen, rätselhaften Schönheit.
Was für eine Idee, einen ganzen Satz aus diesem Traumgebilde erwachsen zu lassen, Variation für Variation, alle Spiegelungen und Brechungen eines 1881 zeitgenössischen Bewusstseins, das sich in Moskau allen Metropolen des Westens verbunden weiß!
Nikolai Rubinstein hatte in den frühen Moskauer Jahren sämtliche Uraufführungen Tschaikowkys dirigiert, die ersten 4 Sinfonien, später die Oper „Eugen Onegin“ (1878) und all die anderen Bühnenmusiken; als Pianist hatte er die Solo-Klavierwerke in Konzerten vorgestellt, er propagierte Tschaikowsky, wo er konnte, er beriet ihn, und – er bevormundete ihn bis zum Überdruss. Einen Eklat gab es beim ersten Klavierkonzert (1875), dem später so berühmten, das Rubinstein gewidmet sein sollte. Der aber fand das Werk indiskutabel und verlangte eine Umarbeitung. Der tief gekränkte Freund lehnte ab und fand Genugtuung bei Hans von Bülow, dem großen Pianisten und Dirigenten, der in dem Manuskript ein „herrliches Kunstwerk“ erkannte, „hinreißend in jeder Hinsicht“. Es wurde ihm gewidmet, und er brachte es im Oktober 1875 in Boston erfolgreich zur Uraufführung. Zur Ehre Rubinsteins sei erwähnt, dass er seinen Fehler erkannte und das Konzert alsbald ins Repertoire aufnahm. Bei der Weltausstellung in Paris 1878 gab er einen aufsehenerregenden Abend mit Klavierwerken Tschaikowskys; dessen Dankbarkeit war allerdings von widersprüchlichen Gefühlen durchsetzt: „Welch ein seltsames und dunkles Menschenherz! Mir schien immer, zumindest für längere Zeit, dass ich ihn nicht liebe, aber neulich träumte mir, er sei gestorben, ich war völlig verzweifelt. Und seitdem kann ich nicht ohne ein Gefühl der Liebe an ihn denken.“ 3
Drei Jahre später übte Nikolaj bereits am zweiten, nun wirklich ihm gewidmeten Klavierkonzert, aber zu einer Aufführung kam es nicht mehr. Er musste sich in ärztliche Behandlung nach Paris begeben und starb dort am 23.März 1881, noch ehe Tschaikowsky, der in Nizza erfahren hatte, wie ernst es um den Freund stand, in Paris eintreffen konnte.
Genau 8 Jahre waren seit dem gemeinsamen Ausflug in die Spatzenberge vergangen, und die gemeinsamen Erlebnisse mögen Tschaikowsky auf seiner Reise beständig durch den Kopf gegangen sein. In Worten gelingt ihm in diesen Tagen nur der karge Versuch, die berufliche Funktion des Verstorbenen zu würdigen:
„Ich habe ihn als Förderer immer hoch geschätzt, aber ich hatte, besonders in der letzten Zeit, kein Gefühl der Liebe zum Menschen Rubinstein. Jetzt zählen nur noch die künstlerischen Seiten, und die sind mehr wert als seine schwachen Seiten. Seine gesellschaftliche Bedeutung erfüllt mich mit Furcht über seine Unersetzlichkeit.“4
So halbherzig dies klingt, er fasste zugleich den Entschluss, dem Förderer, Freund und Menschen ein musikalisches Denkmal zu setzen, und die schiere Größe dieses Denkmals relativiert alle verbalen Äußerungen. Die Widmung „A la mémoire d’un grand Artiste“ erlaubt allerdings, die Musik des Klaviertrios über diesen einen Künstler hinaus auf den Künstler schlechthin zu beziehen, auf Leben und Tod, ja, auf die Erinnerungsarbeit des komponierenden Ichs.
In der Tschaikowky-Literatur taucht das Wort Identifizierung auf, auch von Masken ist die Rede. In der zerrissenen Seele Eugen Onegins (1878) fand er sich ebenso wieder wie in der klaren Gestalt der Tatjana.
Der naiv-pädagogische Kommentar, den Tschaikowsky für Frau von Meck zu seiner 4. Sinfonie (1878) schrieb, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Position des schöpferischen Subjekts gegenüber dem „Stoff“, dem „Anderen“.
„Gehen Sie unter das Volk. Schauen Sie, wie gut die Leute es haben, wie sie sich ihrer Freude hingeben! Ein Bild von einer Volksbelustigung an einem Feiertag. Kaum haben Sie aber Gelegenheit gehabt, sich selbst zu vergessen, als das unermüdliche Fatum aufs neue erscheint und sich wieder in Erinnerung bringt. Die anderen schenken Ihnen jedoch keine Aufmerksamkeit. Sie wenden sich nicht einmal um, werfen nicht einen Blick auf Sie, beachten nicht, daß Sie einsam und traurig sind. O wie lustig jene sind! Wie glücklich sie sind, da ihre Gefühle ursprünglich und unkompliziert sind. Schelten Sie sich selbst und sagen Sie nicht, dass die ganze Welt traurig sei. Es gibt große und schlichte Freuden. Gewinnen Sie Glückseligkeit aus den Freuden der anderen. Und das Leben ist doch zu ertragen!—“5
Hier ist vom „Volk“ und seinem mutmaßlichen Glück die Rede, in den Spatzenbergen waren es die Bauern mit ihren Liedern, all dies im Kontrast zum stillen Beobachter und zu Nikolai Rubinstein, dessen lärmendes Temperament von Natur aus zur Feier des Augenblicks neigte, – vor dem Hintergrund seines Todes muss daraus ein Bilderbogen des Lebens werden. Es ist müßig , in den einzelnen Variationen biographische Episoden zu suchen; Tschaikowsky spottete über entsprechende Versuche der Kritiker und Freunde. In der Tat, der Klang der Glöckchen könnte eine Schlittenfahrt bedeuten (Var. V), von wo nach wo, wäre bereits völlig uninteressant. Der hinreißende Walzer (Var. VI) würde nichts gewinnen, wenn man ihn im Saal des Fürsten X lokalisieren könnte. Das rauschende Fest (Var.VII) mit der atemlosen Freude der Fuge (Var. VIII), die in der finalen Variation noch überboten wird, – was könnte eine konkrete Zuordnung bringen angesichts der jenseitig-beklommenen Vision des Endes, die dann folgt (Var.IX)? Horror vacui, Nebelfetzen im Klavier, die Streicher mit Dämpfer, lamentoso, flebile, es ist nichts als ein Abtasten des Tonraumes, aufwärts, abwärts, die Geige allein, das Cello allein, dann beide im Wechsel und schließlich gemeinsam.
Das kann doch nicht alles gewesen sein? Szenenwechsel:
Klavier solo (Var.X), das ist Nikolaj Rubinstein, Tempo di Mazurka, das ist Chopin! Tschaikowsky mochte Chopin nicht besonders, ihn störte da eine „krankhafte Empfindsamkeit“, und erst Rubinsteins Chopinspiel belehrte ihn eines anderen. Die Mazurka also als Dank und Rückgewinnung des Lebens. Wie lange noch?
Ein Klaviertrio als Übermittler eigener Gedanken war für Tschaikowsky bis dahin nicht in Frage gekommen. „Sie fragen, warum ich kein Trio schreibe? Es ist so, dass in meiner akustischen Anlage die Klänge von Klavier und Streichinstrumenten einander abstoßen, und es ist für mich eine Qual, ein Klaviertrio, oder eine Sonate für Violine oder Violoncello zu hören…“ (an Frau von Meck 24.10.1880) 6
Der Freund und Kollege Nikolaj Kashkin berichtet von den Gründen, die ihn dennoch umgestimmt haben: im Andenken an den Pianisten Rubinstein war es ihm „unmöglich, ein Werk zu komponieren, in dem das Klavier n i c h t die Hauptrolle spielte. Gleichzeitig sagte er, ein Konzert für Klavier und Orchester oder eine Fantasie sei zu pompös und festlich. Ein einzelner Flügel befriedigte ihn auch nicht, so dass ihm schließlich die Form des Trios akzeptabel erschien.“7
Wenn es bis hierher so schien, als könne man das Lied von den Spatzenbergen (ob man es so nennen darf, ist natürlich völlig ungesichert) mit seinen Variationen als Zentrum des Klaviertrios ansehen, so ist eine Korrektur fällig:
Wer auch immer sich nach längerer Zeit Tschaikowskys Klaviertrio in Erinnerung ruft, dem werden zwei andere Phänomene als zentral erscheinen: eine überwältigende Melodie und eine damit verbundene Formidee; – die Formidee der zeichenhaften Wiederkehr dieser Melodie. Es ist das elegische Hauptthema, mit dem das Werk anhebt, später seine im Ausdruck und im Tempo zurückgenommene Reprise („con duolo“ – mit Schmerz), letzte Anklänge in der Coda des ersten Satzes; schließlich seine extensive Fortissimo-Beschwörung nach den Variationen, also am Ende des ganzen Werkes, denn die letzte Variation ist zu einem Finale erweitert, übergehend in den abschließenden Trauermarsch („lugubre“ – düster), der Fragmente des Themas zum Verlöschen bringt („piangendo“ – weinend).
Das Aufblühen am Anfang, das Verlöschen am Ende und die Kennzeichnung des ganzen Werkes als Epitaph vermittelt die Suggestion, dass die Geschichte dieses Themas die Geschichte eines Menschen nachzeichnet, – aber bei dieser Ahnung kann man es auch bewenden lassen: es ist zwar möglich aber nicht notwendig, einzelne Episoden zu benennen, sie sind in jedem Fall vorrangig nach rein musikalischen Prinzipien geordnet. Und dass die Sonatenform mit ihren kontrastierenden Themen und der motivisch-thematischen Arbeit in der Durchführung prinzipiell als Drama gedeutet werden kann und somit auch als Lebensdrama, ist eine triviale Tatsache, man muss nicht immer aufs neue versuchen sie zu verifizieren, als gelte es, die segensreiche Abstrahierung der Musik vom Alltäglichen wieder rückgängig zu machen.
Das Prinzip der bedeutsamen Wiederholung, das die Form des ganzen Trios kennzeichnet, – verschränkt mit dem Variationensatz, der in seinen Variationen die Metamorphose eines anderen Themas erleben lässt – , prägt bereits das Hauptthema selbst:
Es beginnt nicht auf dem Grundton, sondern auf der Quinte: dieser Ton, der über dem Grundton schwebt, wird umkreist mit einer Formel, die Klagecharakter hat; der Abstieg zum Grundton wird durch einen Vorhalt gedehnt, der zugleich den Trend zum „ergebnislosen“ Wiederaufstieg vorbereitet: was wie eine These begann, wird in eine Frage verwandelt, stimuliert durch die scheue Behandlung des Grundtons und eine sanft erregte, kreisende Figur, die mit der anfänglichen Klageformel korrespondiert. Ein neuer Versuch: der gleiche melodische Vorgang, vier Töne höher wiederholt, leuchtender also, aber in der dunkleren Tonart der Unterdominante; der Frage muss eine neue Richtung gegeben werden, und jetzt folgt der geniale Moment, der die Melodie unvergesslich und nahezu unbegrenzt wiederholbar macht: ihr neuer Ansatz, die absteigende „orientalische“ Geste mit dem übermäßigen Tonschritt, in zwei Anläufen, dieser Ton des Jammers, der dem Westen nur durch Beethovens Streichtrio op.9 Nr.3 und das späte Cis-Moll-Quartett im Ohr ist, er wird überwunden durch eine wunderbar erlösende Wendung nach Dur, einen absteigenden und jubelnd wieder aufsteigenden, „winkenden“ C-Dur-Dreiklang; dann folgt die gleiche Wendung in a-Moll, beides wird verkürzt rekapituliert und mit einem sogenannten „Neapolitaner“ ausdrucksvoll zur Schlusskadenz geführt.
Die Melodie hat also Anfang und Ende, sie birgt bereits ein reich bewegtes Leben; es scheint nur natürlich, dass sie nach der Präsentation in den Streichern vom Klavier vollständig wiederholt wird, – mit Ausnahme des „finalen“ Neapolitaners. Er fehlt, weil es weitergehen soll, – aber dies ist in der Tat das Problem einer ausgeprägt schönen Melodie am Anfang eines Sonaten-, Trio- oder Quartettsatzes, dass ihre Wiederholung und ihre Wiederkehr jederzeit einleuchtet, dass aber der Weg hinaus einer besonderen Anstrengung bedarf, die nicht immer belohnt wird, die sich jedenfalls zur Kritik anbietet.
Tschaikowsky führt an dieser Stelle ein neues bewegtes Motiv ein und setzt es in Beziehung zum Beginn des Hauptthemas („Klageformel“), das nach dem Muster des Anfangs („vier Töne höher wiederholt“) verarbeitet wird. Eine Sequenz entsteht, verbündet sich – wie so oft bei Tschaikowsky – mit Motivverkürzung, Crescendo und Accelerando, so dass der Eintritt des prächtigen zweiten Themas als erwünschtes Ziel erscheint. Wirkt es auch im nachhinein zwingend?
Vielleicht ist es eine Sache der Interpretation (in Wort und Ton), ob die Wiederholungen innerhalb dieses prächtigen Themas, – fortissimo und pesante -, eine neue Intensität erzeugen oder, in Erinnerung an die zerklüftete Schönheit des Anfangs, schlicht als Niveauverlust erscheinen.
Man denke an andere große Trios: an Mendelssohns „Meistertrio der Gegenwart“, wie Schumann es seinerzeit nannte, d-Moll, op. 49; es beginnt mit einem außerordentlich weit gespannten Thema, das am Ende fast ins Stocken gerät und mit Peitschenhieben des Klaviers auf Trab gehalten wird. Letztlich ist es der durchgehende Agitato-Charakter, der die Form vorantreibt.
Oder Beethovens „Erzherzog-Trio“, op. 97, das Non-plus-ultra im frühen 19. Jahrhundert: wie er sein herrlich anhebendes Thema schon nach acht Takten unter emphatischen Rufen von Cello und Geige innehalten lässt und bei der Wiederholung sogleich mit „störenden“ Akzenten versieht; alles was er tut, verlangt nach Aufklärung, die er in immer neuen motivischen Gestalten verspricht und gewährt, aber der Durst nach einer ganzheitlichen Form dieses Themas wird nicht gelöscht, nicht einmal in der Coda, wo man allerdings dankbar und befriedigt von ihm Abschied nimmt. (Völlig unvorstellbar jedoch, dass es am Ende des letzten Satzes wiederkehren würde, – warum? Dies zu erkunden und zu Tschaikowskys hochromantischem Vorgehen in Beziehung zu setzen, wäre eine eigene musikphilosophische Aufgabe…)
Niemand wusste besser als Tschaikowsky selbst, wo die Schwierigkeiten musikalischer Form bei zunehmend ausgeprägter Subjektivität lagen, und er neigte dazu, sie vollständig als eigene Schwäche zu deuten, was von Kritikern dankbar aufgegriffen wurde: er schrieb zu gute Melodien, – Melodien, die sogar „der kleine Mann“ versteht, da konnte nicht alles geheuer sein. Tatsächlich musste er sich die große Form mühsam auf der Grundlage zutiefst durchlebter Entwürfe erarbeiten.
Tschaikowsky: „Ich kann mich über eine karge Erfindungsgabe und Einbildungskraft nicht beklagen, habe jedoch immer unter mangelnder Gewandtheit in der Behandlung der Form gelitten. Nur in andauernder hartnäckiger Arbeit habe ich es dahin gebracht, Formen zu vollenden, die bis zu einem gewissen Grade dem Inhalt entsprechen. Allzu unbekümmert habe ich früher nicht erkannt, wie ungeheuer wichtig die kritische Überprüfung meiner eigenen Entwürfe ist. So konnte es geschehen, dass aufeinanderfolgende Teile nur locker zusammengefügt und Nahtstellen stets sichtbar waren. Das war ein schwerer Fehler, und es hat mich Jahre gekostet, bis ich überhaupt begonnen habe, ihn zu korrigieren. Jedoch werden meine Kompositionen niemals Vorbilder der Form sein…“ 8
Er hat sich geirrt. Das Klaviertrio wurde auch in dieser Hinsicht sein erstes großes Meisterwerk.
Dass es unter diesem Aspekt heute mühsam wiederentdeckt werden muss, liegt paradoxerweise an der Popularität Tschaikowskys; sie hat ihn nahezu unkenntlich gemacht. Ähnlich wie bei Brahms, aber in der Wirkung verhängnisvoller, hat die Leidenschaft seines Tones die meisten Interpreten animiert, diesen Ausdruck der Leidenschaft bis in den Exzess, bis ins Hysterische zu treiben und die klaren formalen Konturen zu ignorieren. Dazu kommen ein paar biographische Momente, die seltsame Beziehung zu Frau von Meck und ein Schuss Laienpsychologie, schon glaubt man einen analytischen Zugang zur Musik gefunden zu haben.
Die musikalischen Funktionalisten der 60er Jahre hatten leichtes Spiel, die Liebe zu Tschaikowsky verdächtig zu machen:
Für den englischen Musikologen Wilfried Mellers war er ein „Komponist der subjektiven Neurose wie nur je einer – und dies mit außerordentlicher Kompetenz“, er sei für die „unabsehbaren, musikalisch ungebildeten Publikumsmassen des industrialisierten Russland, England und Amerika zum volkstümlichsten aller Komponisten“ geworden; dies allerdings nicht nur dank einer Neurose, sondern immerhin auch „durch die Kraft seiner hysterischen, selbstbezogenen und selbstquälerischen Werke“. Im übrigen: „die Stärke der melodischen Ausstrahlungskraft Tschaikowskys spricht für sich selbst.“9
Offenbar ist es reizvoller, über Neurose (gern auch über abstruse Selbstmordtheorien oder Homosexualität) eines Komponisten zu reden als über seine „Kraft“ und „Stärke“!
Theodor W. Adorno hatte vielleicht Grund, die Schönberg-Schule gegen den Vorwurf des Intellektualismus zu verteidigen; er reklamierte also, Gefühl heiße für viele nur, „sich widerstandslos dem Strom der kurrenten Abfolgen“ zu überlassen; „absurd, dass der allbeliebte Tschaikowsky, der auch noch die Verzweiflung mit Schlagermelodien porträtiert, in diesen mehr Gefühl wiedergebe als der Seismograph von Schönbergs Erwartung.“ 10
Das gehört in die berüchtigte Rubrik des Äpfel-Birnen-Vergleichs. Es kommt darauf an, was man von der Musik will: musikalische Psychoanalyse findet man sicherlich beim frühen Schönberg, aber wenn man „seelenvoll“ singen will, findet man selbst bei Bellini mehr Hilfe als bei einem Seismographen.
Der Hochmut hatte im 20. Jahrhundert Konjunktur: „In mancher Hinsicht hat die Vorliebe des ‘kleinen Mannes’ für Tschaikowsky etwas Ermutigendes. Denn es ist doch besser, zu leben und hysterisch um sich zu schlagen, als tot und konserviert zu sein.“11
Dümmer geht es nicht.
Als der 19jährige Sergej Rachmaninow sein erstes (einsätziges) „Trio élégiaque“ schrieb, war er noch Student (1892). Tschaikowsky beobachtete wohlwollend die Anfänge des jungen Komponisten, der seinerseits mit Bewunderung die Werke des Meisters studierte: innerhalb von drei Tagen entwarf er diesen Klaviertrio-Satz, vielleicht als eine Studie, vielleicht auch, wenn der leidenschaftliche Ton nicht irreführt, als Bewältigung eines aufwühlenden Erlebnisses. Bald darauf schloss der Hochbegabte seine Ausbildung mit der Goldmedaille ab, die in der Geschichte des Konservatoriums bis dahin nur zweimal verliehen worden war. Ein Jahr später, unter dem Eindruck von Tschaikowkys plötzlichem Tod, schrieb er sein bis dahin bedeutendstes Werk, ein Klaviertrio von enormen Ausmaßen, op. 9, ebenfalls „Trio élégiaque“ genannt, und er widmete es – wie einst Tschaikowsky mit Blick auf Rubinstein – „dem Andenken eines großen Künstlers“: Tschaikowsky.
Schon die frühere Studie, deren Titel an die Überschrift „Pezzo elegiaco“ des ersten Klaviertriosatzes von Tschaikowsky anknüpft, klingt wie ein echter Rachmaninow, obwohl das direkte Vorbild unüberhörbar ist: zunächst im Thema selbst, dann vor allem im Scheitern dieser Themengestalt am Ende des Werkes, „Alla marcia funebre (Lento lugubre)“ mit der im pianissimo verhallenden Quinte. („Lugubre“ bei Tschaikowsky, auch dort im Charakter eines Trauermarschs).
Das verhaltene Ab und Auf des Tschaikowsky-Themas im Quintraum ist beim frühen Rachmaninow durch eine zweimalige Aufwärtsbewegung ersetzt, so dass die schwebende Quinte etwas dominanter wirkt. (Auch der Neuansatz „vier Töne höher“ folgt, wenn auch an späterer Stelle.)
Vom weiteren Verlauf wurde nur die „erlösende Wendung“ nach Dur übernommen, in verkürzter Form, ebenso ihre Sequenzierung in Moll, die allerdings dann noch weitergetrieben wird: mündend in einen harmonischen Ausklang, der an Brahms gemahnt, – Balladenton, fast eine Antwort auf den Erzählbeginn der Rhapsodie op. 79,2 in g-moll.
Und schließlich reinster Rachmaninow. Genauer lokalisiert: im Abgesang des Themas, in der folgenden Steigerung und vor allem im ersten Fortetakt; er könnte genau so im berühmten zweiten Klavierkonzert stehen, das ja nur 8 Jahre später entstand. Aber vielleicht hat ihn der Schatten Tschaikowskys über dem Hauptthema des ersten Satzes doch so irritiert, dass er die Arbeit am Trio nach diesem einen Satz beendete; erst nach dem Tod des Meisters konnte er das große Trio schreiben, das ihm vorgeschwebt hatte.
1 Herbert Weinstock (1948) zit. nach Everett Helm „Tschaikowsky“ (1976) S. 37
2 zit. nach Helm a.a.O S. 49
3 zit. nach L. Auerbach „Tschaikowskys Trio Zum Andenken eines großen Künstlers“ in „Musika“ 1977
Übersetzung aus dem Russischen: privat
4 zit. nach L. Auerbach a.a.O.
5 zit. nach „Teure Freundin. P.I.Tschaikowski in seinen Briefen an Nadeshda von Meck“ Einleitung von Hans Pezold, Leipzig 1964, S. 158
6 zit. nach L. Auerbach a.a.O.
7 zit. nach L. Auerbach a.a.O.
8 zit. nach Everett Helm a.a.O. S. 127
9 Wilfried Mellers „Musik und Gesellschaft“ Bd. 2, 1965, S. 78 f.
10 Theodor W. Adorno „Philosophie der Neuen Musik“ 1958 S. 18 f
11 Wilfried Mellers a.a.O. S.79
Notenbeispiele: Edition Eulenburg
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Der Text wurde geschrieben für die Firma TACET (siehe hier) und das ABEGGTRIO.
Anspielmöglichkeit der einzelnen Sätze zwecks Tempovergleich bei jpc hier.
JR & Ulrich Beetz 70er Jahre im Collegium aureum Foto: Daniela-Maria Brandt
Die folgende Aufnahme empfiehlt sich, weil sie der russischen Tradition entspricht, – mit Vorbehalt (sehr langsame Tempi). Hinweise zum Auffinden bestimmter Stellen, die im Text angesprochen werden, sollen noch folgen. (Nach Wunsch im externen Fenster hier.)