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Banales beim Frühstück

Wie ich einen Ohrwurm zähmte

Es fing damit an, dass ich ihn für einen eigenen Einfall hielt. Ohne Verwunderung. Sowas ist leicht, am Leitfaden einer Sequenz entsteht assoziativ eine Art Melodie. Da ich Zeitung las, wollte ich sie eigentlich wieder los werden, stattdessen (oder deswegen) notierte ich sie, und schon wurde ein Studienobjekt daraus:

Als die Sequenz fertig dastand, die an sich immer wieder von vorne losging, wusste ich, ein drittes Mal dürfte das so nicht weitergehen, es ist schon simpel genug. Warum wirkt es überhaupt auf mich, als habe es ein Existenzrecht? Die neue Linie ist die gleiche, aber die Intervalle verändern sich, das erhöht das Interesse; da der Grundton erreicht ist, müsste jedoch ein ganz neuer Impuls kommen, ja, die betonte Oktave, und noch mal eine Sequenzformel, das ginge, und damit könnte ich ich es erstmal bewenden lassen. Leichte Irritation, weil die neue Formel eine andere Assoziation weckt, eine Instrumentenfarbe.

Und während ich weiterlese, denke ich, da kommen auch Worte nach, einzelne Fetzen, vielleicht ist das gar nicht von mir? … Schubert womöglich…? Und dann geht es in die Kinderzeit, Schulzeit, Chor, schäbiges Orchester, Solo der Oboe, das der letzten Sequenzformel gleicht, ich weiß sogar noch den Komponisten, ich mochte ihn nicht, aber dass er es fertigbrachte, sich in einem Quintanerhirn festzuhaken. Unangenehm, aber unabweisbar. Melodie und Text: „Als Joseph von des Hügels Rand das Städtchen liegen sah, gab er Maria leis die Hand und sprach: das Ziel ist nah.“ Oder „da“. Aber warum „leis“? Die Oboe fand ich verehrungswürdig, edel, ich glaube, Ubenauf spielte sie, sein Vorname ist weg. Walter Rein fällt mir ein, diesem Komponisten wollte ich nie wieder begegnen. Mein älterer Bruder sang früher auch gelegentlich ein eigenes Motiv (behauptete er jedenfalls), nervend, und zwar  auf den Text „Im Stadion zu Delphi“, immer und immer wieder, aber Weiteres rückte er nicht heraus. Ich halte mich an Joseph:

Ubenauf. Der Vorname, der mir fehlte, ist Albrecht. Es lebe die Erinnerung. Ich denke an andere, jüngere Ohrwurm-Sequenzen: „Nessun dorma“, die Linien, die einem sofort einfalen, wenn das Wort „Kalaf“ gesagt wird, oder „Turandot“, außergewöhnlich, weil sie stufenweise ansteigen, statt abzusinken; ich schone sie, weil sie ihre Wirkung bewahren sollen, und immer wieder wundere ich mich, weil sie aus dem Nichts auftauchen, um einen Höhepunkt zu schaffen. Oder wie mich kürzlich unvermutet die Klavierfassung eines berühmten Liedes aus dem Handy ergriff: „Ja, du weißt es, teure Seele [usw.] Liebe macht die Herzen krank“, kamen nicht sofort die Tränen? mechanisch, ja automatisch, immerhin wusste ich plötzlich, warum. Das würde mir bei Kalaf nie passieren, da ist es der strahlende Andere, der Tenor. Bloß nicht heulen, meist ist Selbstmitleid im Spiel, also notiere ich eine Art Durchblick. (Wo ist das Blatt?)

Diesen Ohrwurm kann ich abmurksen mithilfe eines anderen, willkürlich erzeugten, „Clair de lune“ von Debussy, da muss ich mir nach den ersten beiden Terzen den großen Septakkord vorstellen, das erfordert mehr Imagination, dann sehr bald die hohe Stelle, die ihren Reiz aus derselben Dissonanz zieht, Impressionisten bringen jedes einprägsame Motiv zweimal, das darf ruhig ein Ohrwurm werden oder bleiben, mit einem doch etwas differenzierteren Klang dahinter. Ich muss das nicht aufschreiben, aber das Banale gehört nun mal zur „Wiederkehr des Gleichen“, es gehört zur Realität und kann jederzeit für „magisch“ erklärt werden. Da muss man gewappnet sein. Moment, geirrt habe ich mich offenbar mit dem großen Septakkord, im Bass steht kein Ges , sondern ein Es, im Grunde habe ich nur die Dissonanz im Ohr, die der Ton f in der Höhe und in der Mittellage mit dem ges bildet. Sind es eigentlich immer melodische Motive, nie Akkordfolgen, die einen Ohrwurm verursachen?

Eine schreckliche Ahnung steigt auf, das Motiv, das ich zu Anfang notierte, könnte doch auch von Mozart stammen. Und ich habe es nicht auf Anhieb identifiziert? Plötzlich scheint mir, das Wort „Liebe“ könnte hineingehören, woher kenne ich das? Und es wird noch peinlicher: womöglich ist es aus „Così fan tutte“ , die Oper die mich kürzlich wieder so beschäftigt hat ? Nein, unmöglich, aber vielleicht dies: Wenn der Freude Tränen fließen… Entführung aus dem Serail.

Nein, keinesfalls! (Die Chromatik und der direkte Gang zum Grundton.)

Es ist nicht zu fassen: nach einen erholsamen Mittagsschlaf erwache ich mit einer glorreichen Idee. Ich hatte am späten Vormittag noch eine Whatsapp-Rundfrage verschickt, samt obiger Notennotiz  und der Frage: „Wer kennt das?“  Die beste Antwort: „Klingt wie die Nachsatzphrase aus einem Schubertmenuett. Aber, tja, aus welchem. Schlimmer noch: es könnte einer der 700 Walzer sein.“ Vor dem Einschlafen las ich in der Süddeutschen über Hölderlin, von „Linien des Lebens“,  und beschloss, den Passus mit dem wunderbaren, mir unbekannten Gedicht abzuschreiben, – wachte nach 25 Minuten auf und beschloss, etwas anderes zu tun, nämlich: alle Titel der Trio-Roseau-CD noch einmal anzuspielen. (Die Erleuchtung war nahe…) Hier die Auslöser in umgekehrter Reihenfolge:

Quelle Süddeutsche Zeitung 15./16.Februar 2020 Seite 15 So dacht‘ er Dauerausstellung in Tübingen, Baustelle in Lauffen, Betreten verboten in Nürtingen: Eine Rundreise zum 250. Geburtstag des Dichters Friedrich Hölderlin / Von Alex Rühle

 Ich klicke im CD-Spieler durch: Nr.6 !!!

Bei schwächeren Nerven müsste ich in Ohnmacht fallen: aber im Gedächtnis war mir nur „etwas mit Liebe“. Nicht „Un‘ aura amorosa“…

Nie wieder wird mich dieser alte Ohrwurm von heute Morgen verfolgen. In Wahrheit handelt es sich – wie so oft – um eines der schönsten Stücke, die ich kenne.

  

Eine bedrückende Frage bleibt: wie konnte ich das für banal halten???  Sie gilt allerdings nur zum Schein, denn auf das Motiv an sich, vage erinnert, könnte jeder kommen, der mit klassischer Musik umgeht. Es war ja auch kein Einfall, sondern nur eine Art Déjà-vue, das ungerufen auftauchte, ein fremdes Ding, das sich wichtig tat. Und niemand legte seine Seele hinein, es hatte keinerlei Tendenz, sich in die Realität hinauszuspannen. Usw. usw. – jetzt könnte ich eigentlich Hölderlin abschreiben. Ja, die Verse sollen hier folgen und meinetwegen wiederkehren, so oft sie wollen, wie die, die ich seit der Darmstadt-Zeit 1963 kenne und aufsage: „April und Mai und Junius sind ferne.“ Besser kein weiteres Wort davon…

Man kann ohnehin alles nachlesen, wenn man will, zum Beispiel hier . Aber ob es einen wirklich erreicht, ist eine andere Frage. Man verweist aufs Herz, auf Herz oder Seele. Oder Gänsehaut. Das hat mit Ohrwurm nichts mehr zu tun. Als nächstes muss ich die Notiz zu „Ja, du weißt es“ (Zueignung!) wiederfinden, irgendetwas war brauchbar daran, betr. Rousseau. Vielleicht so brauchbar wie der rote Melodiefetzen da oben, der sich plötzlich in Mozart verwandelte…

Allerweltsmusik

DIE ZEIT der Ohrwürmer

Ich spare mir jede Bewertung und erst recht eine vorsorgliche Entrüstung.

Immerhin In einer Zeitung wie DIE ZEIT zwei Artikel zum Thema Musik, welcher Couleur auch immer, in einer einzigen Ausgabe, der aktuellen vom 12. (oder 11.) April 2018. Heute ist Freitag, der dreizehnte. Gehen wir der Sache nach:

1) Der Artikel über den Musiker HIER. Das Allerweltsgenie / Größte Ohrwurmkunst: Die Musik von Felix Jaehn, dem neuen deutschen DJ-Superstar, ist famos bis an die Schmerzgrenze. Von  .

Auch die dort angesprochene NDR-Talkshow ist greifbar: HIER.

NDR Talkshow Screenshot 2018-04-13 08.41.06 Screenshot Jaehn/Schöneberger

2.) Der Artikel über den Fake-Song „Menschen, Leben, Tanzen, Welt“ Hier

DIE ZEIT Seite 49 „Man muss abwaschbar bleiben“ Die Songwriter Niko Faust und Alex Werth haben für das „Neo Magazin Royale“ den banalsten Song der Welt gebaut. Der Beitrag wird nun mit einem Grimme-Preis ausgezeichnet. Interview: Hannah Schmidt.

Die Musik:

Zitat aus dem ZEIT-Artikel, Niko Faust:

Es gibt viele Popsongs, die tolle Elemente und Tiefe enthalten und trotzdem recht eingängig sind. Zum Beispiel Britney Spears‘ Toxic, der noch immer als einer der cleversten gilt.

„… tolle Elemente und Tiefe…“ :

(Fortsetzung folgt)

Wieso und worüber lachte Immanuel Kant?

Oder vielleicht auch gerade nicht…

Zitat (wörtlich, nur deutlicher gegliedert)

Es muß in allem, was ein lebhaftes, erschütterndes Lachen erregen soll, etwas Widersinniges sein (woran also der Verstand an sich kein Wohlgefallen finden kann). Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts.

Ebendiese Verwandlung, die für den Verstand gewiß nicht erfreulich ist, erfreuet doch indirekt auf einen Augenblick sehr lebhaft. Also muß die Ursache in dem Einflusse der Vorstellung auf den Körper und dessen Wechselwirkung auf das Gemüt bestehen; und zwar nicht, sofern die Vorstellung objektiv ein Gegenstand des Vergnügens ist (denn wie kann eine getäuschte Erwartung vergnügen?), sondern lediglich dadurch, daß sie, als bloßes Spiel der Vorstellungen, ein Gleichgewicht der Lebenskräfte im Körper hervorbringt.

Wenn jemand erzählt: daß ein Indianer, der an der Tafel eines Engländers in Surate eine Bouteille mit Ale öffnen und alles dies Bier, in Schaum verwandelt, herausdringen sah, mit vielen Ausrufungen seine große Verwunderung anzeigte, und auf die Frage des Engländers: was ist denn hier sich so sehr zu verwundern? antwortete: Ich wundere mich auch nicht darüber, daß es herausgeht, sondern wie ihrs habt hereinkriegen können; so lachen wir, und es macht uns eine herzliche Lust: nicht, weil wir uns etwa klüger finden als diesen Unwissenden, oder sonst über etwas, was uns der Verstand hierin Wohlgefälliges bemerken ließe; sondern unsre Erwartung war gespannt, und verschwindet plötzlich in nichts.

Oder wenn der Erbe eines reichen Verwandten diesem sein Leichenbegängnis recht feierlich veranstalten will, aber klagt, daß es ihm hiemit nicht recht gelingen wolle; denn (sagt er): je mehr ich meinen Trauerleuten Geld gebe betrübt auszusehen, desto lustiger sehen sie aus; so lachen wir laut, und der Grund liegt darin, daß eine Erwartung sich plötzlich in nichts verwandelt. Man muß bemerken: daß sie sich nicht in das positive Gegenteil eines erwarteten Gegenstandes – denn das ist immer etwas, und kann oft betrüben –, sondern in nichts verwandeln müsse.

Denn wenn jemand uns mit der Erzählung einer Geschichte große Erwartung erregt, und wir beim Schlusse die Unwahrheit derselben sofort einsehen, so macht es uns Mißfallen; wie z.B. die von Leuten, welche vor großem Gram in einer Nacht graue Haare bekommen haben sollen. Dagegen, wenn auf eine dergleichen Erzählung zur Erwiderung, ein anderer Schalk sehr umständlich den Gram eines Kaufmanns erzählt, der, aus Indien mit allem seinem Vermögen in Waren nach Europa zurückkehrend, in einem schweren Sturm alles über Bord zu werfen genötigt wurde, und sich dermaßen grämte, daß ihm darüber in derselben Nacht die Perücke grau ward; so lachen wir, und es macht uns Vergnügen, weil wir unsern eignen Mißgriff nach einem für uns übrigens gleichgültigen Gegenstande, oder vielmehr unsere verfolgte Idee, wie einen Ball, noch eine Zeitlang hin- und herschlagen, indem wir bloß gemeint sind ihn zu greifen und festzuhalten. Es ist hier nicht die Abfertigung eines Lügners oder Dummkopfs, welche das Vergnügen erweckt: denn auch für sich würde die letztere mit angenommenem Ernst erzählte Geschichte eine Gesellschaft in ein helles Lachen versetzen; und jenes wäre gewöhnlichermaßen auch der Aufmerksamkeit nicht wert.

Merkwürdig ist: daß in allen solchen Fällen der Spaß immer etwas in sich enthalten muß, welches auf einen Augenblick täuschen kann; daher, wenn der Schein in Nichts verschwindet, das Gemüt wieder zurücksieht, um es mit ihm noch einmal zu versuchen, und so durch schnell hintereinander folgende Anspannung und Abspannung hin- und zurückgeschnellt und in Schwankung gesetzt wird: die, weil der Absprung von dem, was gleichsam die Saite anzog, plötzlich (nicht durch ein allmähliches Nachlassen) geschah, eine Gemütsbewegung und mit ihr harmonierende inwendige körperliche Bewegung verursachen muß, die unwillkürlich fortdauert, und Ermüdung, dabei aber auch Aufheiterung (die Wirkungen einer zur Gesundheit gereichenden Motion), hervorbringt.

Denn, wenn man annimmt, daß mit allen unsern Gedanken zugleich irgendeine Bewegung in den Organen des Körpers harmonisch verbunden sei: so wird man so ziemlich begreifen, wie jener plötzlichen Versetzung des Gemüts bald in einen bald in den andern Standpunkt, um seinen Gegenstand zu betrachten, eine wechselseitige Anspannung und Loslassung der elastischen Teile unserer Eingeweide, die sich dem Zwerchfell mitteilt, korrespondieren könne (gleich derjenigen, welche kitzlige Leute fühlen): wobei die Lunge die Luft mit schnell einander folgenden Absätzen ausstößt, und so eine der Gesundheit zuträgliche Bewegung bewirkt, welche allein und nicht das was im Gemüte vorgeht, die eigentliche Ursache der Vergnügens an einem Gedanken ist, der im Grunde nichts vorstellt. –

Quelle  Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (aus §54) zitiert nach Spiegel online Projekt Gutenberg hier Kapitel 64

Siehe auch: HIER (Artikel „Lachen mit Schopenhauer“)

Wie ich darauf komme? Durch Peter Szendy: „Tubes, Hits, Ohrwürmer“ / Die Philosophie in der Jukebox / Avinus Verlag Berlin 1012 / Seite 94 f. Eigentlich hatte ich mir „La Mer“ von Debussy in Erinnerung rufen wollen. Warum? Ich habe über einen Artikel nachgedacht zum Thema „Die Alte Musik und das Meer“, aber diesen Titel habe ich inzwischen fallen gelassen.

Und wie kam ich noch einmal bzw. wieder einmal auf Szendy? Durch einen „Tube“ von Charles Trenet. Auf Youtube. „La mer“!!! Wollen Sie ihn hören? Bitteschön (es ist nicht zum Lachen): hier.

Warum war ich fasziniert? Ich erkannte die Melodie, sobald sie sich in Bewegung setzte (ich hatte nicht damit gerechnet). Vielmehr, sobald das Klavier die Bewegung anführte (gebrochene Akkorde, Achtelaufteilung zu relativ schnellen Vierteln), die Melodie ist ruhig, Überraschung, den Dirigenten der Band zu sehen: er dirigiert schnelle Viertel, als sei es ein eiliges Stück. Vielleicht tut er es, weil die Streicher Harmonien in Pfundnoten spielen und zu präzisen Akkordwechseln angehalten werden sollen. Aber wenn man einmal darauf achtet, ist es ein komischer Effekt. Wie für musikalischen Analphabeten.) Die Melodie besteht nur aus Vorder- und Nachsatz, die bis auf die Schlusswendung identisch sind und so ineinandergreifen, dass man endlos wiederholen kann. Und in der Tat: der Hit verläuft genau auf diese Weise, wenn auch eine Rückung vorkommt (und wieder rückgeführt wird) und einige Wiederholungen vom Sänger improvisatorisch ausgeschmückt werden. Ich vermute, dass der Hit sich dank dieser Wiederholungstechnik so im Gehirn festhakt, dass er automatisch weiterläuft, wenn die Musik längst beendet ist. Zudem ist die erste Zeile tatsächlich ein schöner Einfall, den man nicht beginnt, ohne ihn dann auch weiterzusummen…)

Um es kurz zu machen: Charles Trenet kommt zwar in Szendys Buch vor, aber nicht als bedeutender Faktor. Dabei lese ich mich aufs Neue fest – ich muss auswählen, daher nur soviel: KANT wird anlässlich der Witz-Theorie von Freud zitiert -, aber ausführlich wird eine Arbeit des Psychoanalytikers Theodor Reik behandelt, insbesondere der Fall einer Patientin namens Cecily, die Opfer einer Zwangsidee geworden war: „Sie wusste nicht , warum sie davon überzeugt war, [dass] eine Reise nach Indien die notwendige Vorbedingung dafür sein sollte, ein Kind zu haben“. Und der Analytiker Reik fühlt sich – so berichtet Szendy – hilflos. Ich zitiere zwei Seiten (Seite 50f) aus Szendys Bericht, und nehme mir diese Freiheit, weil ich glaube, sozusagen Hilfestellung leisten zu können:

Szendy Mendelssohn Reik Peter Szendy „Tubes, Hits, Ohrwürmer“

Wenn man das in der Tat wunderschöne Lied kennt, fällt einem auf, dass darin – anders als im Fall Cecily – von Indien gar nicht die Rede ist. Als die Mutter es sang, hat das Kind (Reik) den Text noch gar nicht verstanden, nur begriffen, „dass es ein Liebesgesang war, voll Zärtlichkeit und Nostalgie“. Erst die Tante hat offenbar Indien ins Spiel gebracht. Wer weiß, ob das kleine Kind schon nach dem Inhalt der dritten Zeile „Fort nach den Fluren des Ganges“ gefragt hat, der sich auf die erste Zeile reimt bzw. reimen müsste, denn die lautet korrekt: „Auf Flügeln des Gesanges“ (nicht: Gesangs!). Ich könnte mir eher vorstellen, dass das Kind dies Wort auf seine Art gedeutet hat: „Flur“ und „Gang“ ist ungefähr dasselbe. (Das wird hier irgendwo in der Wohnung sein!) Ein Beispiel: Zu meinen ersten Liedern gehörte „Hänschen klein“, und ich habe jahrelang geglaubt, darin sei von einer Gabel die Rede: „Gabel sind sich das Kind, läuft nach Haus geschwind“. Ein Kleinkind ist stolz, wenn es bei Tisch ein so gefährliches Werkzeug benutzen darf; aber was es nicht kann, ist: abstrakt denken im Sinne von „da besinnt sich das Kind“.

Mit andern Worten: ich traue dem Bericht nicht. Ich glaube nicht, dass er wirklich von der Melodie initiiert ist, sondern von Wort-Assoziationen, die sich im Laufe der Jahre an Textbestandteile geheftet haben. Dass diese sich gehalten haben, mag an der Melodie liegen. Oder an Bildern, die sich mit ihr verbunden haben.

 Szendy verfährt ähnlich und kommt zu einem interessanten Schluss:

Das gesetzte Ziel seiner musikpsychologischen Untersuchung, die den Sinn, die Bedeutung (meaning) erforschen will, wird Reik jedoch rasch in eine Sackgasse führen. Ganz in der großen romantischen Tradition absoluter Musik geht er nämlich davon aus, dass die Melodie als solche „eine Botschaft ist, die jeder versteht, ohne dass man sie gleich übersetzen kann“ (S.7). Was Reik jedoch fortwährend tut, ist genau dies: übersetzen und die Musik in einen bedeutungsvollen Diskurs einschreiben. Wenn er z.B. schreibt, dass „in der Menge der freien Assoziationen Fetzen von Liedern an bestimmten bedeutungsvollen Stellen verstreut sind“ (S.10), so ist klar, dass der Sinn, dass die Bedeutung, die der implizite Diskurs, der durch eben diese Assoziationen entstanden ist, geformt hat. Ob der Sinn nun schon da ist oder ob er noch fehlt – weil verborgen in den Lücken des Bewusstseins oder des Unbewussten -, für Reik scheint diese Sinn der diskursiven Art anzugehören.

Ich mache einen Sprung in Szendys Entwicklung des Gedankens und zitiere, was für ihn nun „das Genuine der Musik, was das musikalisch Zwingende bzw. Zwanghafte [ist], das von diesen besitzergreifenden Melodien ausgeht“; er wagt die Hypothese,

dass es hier nicht um einen Unterschied des Sinns, sondern um einen Unterschied der Kraft, der Intensität geht. Was das (relativ) Eigentliche der Musik ausmachen könnte, das wäre nicht ihr eigener Sinn, sondern diese Kraft, sich ein- und auszuklinken, da und wieder fort zu sein, die ihre Störungen und Unterbrechungen so explosiv und heftig macht. Über all die endlosen Diskurse hinaus, die Reik zu Recht oder zu Unrecht wiederzufinden glaubt, indem er sie den heimsuchenden Melodien überstülpt, die er examiniert, ist doch das, was diesen Musik-Phantomen gemeinsam ist, im Grunde ihre Kraft, einfach plötzlich aufzutauchen.

Nachtrag 8. Februar 2018

Nachdem ich vorgestern das Kölner Gürzenich-Orchester live im Internet erlebt habe (siehe hier), möchte ich an dieser Stelle einen bemerkenswerten Auftritt des Gürzenich-Chefs François-Xavier Roth hervorheben. Eben erst entdeckt.

Weiter mit Szendy!

Oder gegen ihn!

Ich vermute, dass man des Zweifels  und des Schwankens zwischen seiner eher flüssigen Schriftlichkeit und dem eigenen, noch gasförmigen Widerspruchsgeist nur Herr wird, indem man sich fortwährend Zeit nimmt, die eigenen Bedenken wirklich zuendezudenken. Nicht als erstes sich dazu verurteilt nachzugrübeln, was der andere wohl gemeint haben könnte. Und auch seine Fundstücke – auf die er besonders stolz ist, er nennt sie „Brocken“ – nicht bestaunt, ohne sie zugleich einer Prüfung zu unterziehen.

Er greift mit Vorliebe eine pars pro toto heraus, wobei zu berücksichtigen ist, dass die „pars“ offenbar ein sehr dürftiges Teilchen sein kann, nicht im geringsten repräsentativ für einen größeren Zusammenhang. Nehmen wir z.B. diesen Amateur-Komponisten namens Zacharias, der entdeckt hat, dass er für sein Werk „versehentlich“ ein paar Takte von Graun geklaut hat und nunmehr, zerknirscht, gewillt ist, sich selbst und allen Kollegen vorzuschreiben, jede entwendete (?) Stelle in eigenen Stücken zu kennzeichnen. Als sei dies ein Hauptproblem. Und nicht ein verstecktes Kompliment. Ab wann ist ein bestimmter Harmoniewechsel, eine chromatische Schärfung persönliches Eigentum? Damit scheint er jedenfalls ein kleinkariertes Besitzdenken vorwegzunehmen, dass sich in GEMA-Zeiten zur Seuche ausgeweitet hat. Wem gehören diese 5 Töne??? Lächerlich!

In diesem Moment kommt die Post, und ein weiteres Werk von Peter Szendy flattert ins Haus, ein früher geschriebenes, zu einem Thema, das mich schon oft beschäftigt hat. (Auch hier im Blog. Siehe z.B. hier).

Also erweitert sich die Aufgabenstellung… Lesen Sie nur den Klappentext! Ich brauche ein paar Tage Zeit. (Fortsetzung folgt).

Szendy Tubes Bitte anklicken!

Vormerken (aus andern Gründen):

Notwendig sind neue gesellschaftliche und kulturelle Infrastrukturen, um mit der neuen Freizügigkeit umgehen zu können. Träte die Gesellschaft in einer solchen Zukunft mit denselben Ansprüchen an das Individuum heran wie bisher, zerriebe sie sich in Konflikten. Mit dem technischen Wandel wird ein kultureller Wandel kommen müssen. Statt alles verstehen und nachvollziehen zu wollen, müssen wir toleranter werden gegenüber den nicht länger privaten Eigenheiten unserer Mitmenschen.

Zitat: HIER. Und weiter HIER.

30.06.2017 (nach der Bielefeld-Fahrt)

Bielefeld Betten

Das neue Szendy-Buch über „Tubes, Hits, Ohrwürmer“ lässt sich, zumindest im ersten Drittel, viel leichter lesen als „Hören(n)“. Was für eine schöne Überraschung, dass auch hier auf Seite 60 Mendelssohn auftaucht, mit eben der Melodie, die mich am ehesten aus der Fassung bringt, natürlich samt Heine-Versen: „Auf Flügeln des Gesanges“. (Siehe HIER.) Überhaupt Mendelssohn: seine Muster-Melodik wäre eine Untersuchung wert: das Klaviertrio d-moll, das Violinkonzert, auch die „Wasserfahrt“ (Heine!) oder „Wer hat dich, du schöner Wald“. Vollkommene Simplizität. Raffinierte Einfalt.

10.09.2017

Seltsam, heute, wo ich nicht mal das Büchlein von Szendy mit auf die Reise genommen habe, aber mich über den Klappentext rück-informieren möchte, könnte ich nicht einmal sagen, von welchen Titeln er als „Tubes“ spricht: ich kann nichts, aber auch gar nichts daran finden. Ich könnte nur mutmaßen, was andere daran finden.

So bei „Parole, parole, parole“ hier oder hier. Vielleicht nur hier? Oder bei „Can’t Get You Out Of My Head“ – meint er wirklich diese Aufnahme mit Kylie Minogue hier? Unbegreiflich simpel. Immerhin: ich lese die ergriffenen Kommentare der Fans, – es muss doch etwas daran sein!? Wie könnte ich mich denn darauf festlegen, dass meine Ohrwürmer mehr musikalische Qualität haben? Nach welchen Kriterien? Von Einfachheit muss durchaus die Rede sein. Auch von Wiederholung, Wiederkehr, Heimkehr, Refrain, Reflexen.

Oder ist es hier der visuelle Anteil, Alain Delon (der schöne Mann), Dalida (die schöne Frau), die bewegten Körper, der Wille zum Gleichmaß, der optische Reizwechsel im Sekundentakt. Und die motivische Formel, die melodischen Partikel besorgen nur den Rest? Kurz: Das Thema bedarf noch einer vorsätzlich positiv gestimmten Behandlung…