Banales beim Frühstück

Wie ich einen Ohrwurm zähmte

Es fing damit an, dass ich ihn für einen eigenen Einfall hielt. Ohne Verwunderung. Sowas ist leicht, am Leitfaden einer Sequenz entsteht assoziativ eine Art Melodie. Da ich Zeitung las, wollte ich sie eigentlich wieder los werden, stattdessen (oder deswegen) notierte ich sie, und schon wurde ein Studienobjekt daraus:

Als die Sequenz fertig dastand, die an sich immer wieder von vorne losging, wusste ich, ein drittes Mal dürfte das so nicht weitergehen, es ist schon simpel genug. Warum wirkt es überhaupt auf mich, als habe es ein Existenzrecht? Die neue Linie ist die gleiche, aber die Intervalle verändern sich, das erhöht das Interesse; da der Grundton erreicht ist, müsste jedoch ein ganz neuer Impuls kommen, ja, die betonte Oktave, und noch mal eine Sequenzformel, das ginge, und damit könnte ich ich es erstmal bewenden lassen. Leichte Irritation, weil die neue Formel eine andere Assoziation weckt, eine Instrumentenfarbe.

Und während ich weiterlese, denke ich, da kommen auch Worte nach, einzelne Fetzen, vielleicht ist das gar nicht von mir? … Schubert womöglich…? Und dann geht es in die Kinderzeit, Schulzeit, Chor, schäbiges Orchester, Solo der Oboe, das der letzten Sequenzformel gleicht, ich weiß sogar noch den Komponisten, ich mochte ihn nicht, aber dass er es fertigbrachte, sich in einem Quintanerhirn festzuhaken. Unangenehm, aber unabweisbar. Melodie und Text: „Als Joseph von des Hügels Rand das Städtchen liegen sah, gab er Maria leis die Hand und sprach: das Ziel ist nah.“ Oder „da“. Aber warum „leis“? Die Oboe fand ich verehrungswürdig, edel, ich glaube, Ubenauf spielte sie, sein Vorname ist weg. Walter Rein fällt mir ein, diesem Komponisten wollte ich nie wieder begegnen. Mein älterer Bruder sang früher auch gelegentlich ein eigenes Motiv (behauptete er jedenfalls), nervend, und zwar  auf den Text „Im Stadion zu Delphi“, immer und immer wieder, aber Weiteres rückte er nicht heraus. Ich halte mich an Joseph:

Ubenauf. Der Vorname, der mir fehlte, ist Albrecht. Es lebe die Erinnerung. Ich denke an andere, jüngere Ohrwurm-Sequenzen: „Nessun dorma“, die Linien, die einem sofort einfalen, wenn das Wort „Kalaf“ gesagt wird, oder „Turandot“, außergewöhnlich, weil sie stufenweise ansteigen, statt abzusinken; ich schone sie, weil sie ihre Wirkung bewahren sollen, und immer wieder wundere ich mich, weil sie aus dem Nichts auftauchen, um einen Höhepunkt zu schaffen. Oder wie mich kürzlich unvermutet die Klavierfassung eines berühmten Liedes aus dem Handy ergriff: „Ja, du weißt es, teure Seele [usw.] Liebe macht die Herzen krank“, kamen nicht sofort die Tränen? mechanisch, ja automatisch, immerhin wusste ich plötzlich, warum. Das würde mir bei Kalaf nie passieren, da ist es der strahlende Andere, der Tenor. Bloß nicht heulen, meist ist Selbstmitleid im Spiel, also notiere ich eine Art Durchblick. (Wo ist das Blatt?)

Diesen Ohrwurm kann ich abmurksen mithilfe eines anderen, willkürlich erzeugten, „Clair de lune“ von Debussy, da muss ich mir nach den ersten beiden Terzen den großen Septakkord vorstellen, das erfordert mehr Imagination, dann sehr bald die hohe Stelle, die ihren Reiz aus derselben Dissonanz zieht, Impressionisten bringen jedes einprägsame Motiv zweimal, das darf ruhig ein Ohrwurm werden oder bleiben, mit einem doch etwas differenzierteren Klang dahinter. Ich muss das nicht aufschreiben, aber das Banale gehört nun mal zur „Wiederkehr des Gleichen“, es gehört zur Realität und kann jederzeit für „magisch“ erklärt werden. Da muss man gewappnet sein. Moment, geirrt habe ich mich offenbar mit dem großen Septakkord, im Bass steht kein Ges , sondern ein Es, im Grunde habe ich nur die Dissonanz im Ohr, die der Ton f in der Höhe und in der Mittellage mit dem ges bildet. Sind es eigentlich immer melodische Motive, nie Akkordfolgen, die einen Ohrwurm verursachen?

Eine schreckliche Ahnung steigt auf, das Motiv, das ich zu Anfang notierte, könnte doch auch von Mozart stammen. Und ich habe es nicht auf Anhieb identifiziert? Plötzlich scheint mir, das Wort „Liebe“ könnte hineingehören, woher kenne ich das? Und es wird noch peinlicher: womöglich ist es aus „Così fan tutte“ , die Oper die mich kürzlich wieder so beschäftigt hat ? Nein, unmöglich, aber vielleicht dies: Wenn der Freude Tränen fließen… Entführung aus dem Serail.

Nein, keinesfalls! (Die Chromatik und der direkte Gang zum Grundton.)

Es ist nicht zu fassen: nach einen erholsamen Mittagsschlaf erwache ich mit einer glorreichen Idee. Ich hatte am späten Vormittag noch eine Whatsapp-Rundfrage verschickt, samt obiger Notennotiz  und der Frage: „Wer kennt das?“  Die beste Antwort: „Klingt wie die Nachsatzphrase aus einem Schubertmenuett. Aber, tja, aus welchem. Schlimmer noch: es könnte einer der 700 Walzer sein.“ Vor dem Einschlafen las ich in der Süddeutschen über Hölderlin, von „Linien des Lebens“,  und beschloss, den Passus mit dem wunderbaren, mir unbekannten Gedicht abzuschreiben, – wachte nach 25 Minuten auf und beschloss, etwas anderes zu tun, nämlich: alle Titel der Trio-Roseau-CD noch einmal anzuspielen. (Die Erleuchtung war nahe…) Hier die Auslöser in umgekehrter Reihenfolge:

Quelle Süddeutsche Zeitung 15./16.Februar 2020 Seite 15 So dacht‘ er Dauerausstellung in Tübingen, Baustelle in Lauffen, Betreten verboten in Nürtingen: Eine Rundreise zum 250. Geburtstag des Dichters Friedrich Hölderlin / Von Alex Rühle

 Ich klicke im CD-Spieler durch: Nr.6 !!!

Bei schwächeren Nerven müsste ich in Ohnmacht fallen: aber im Gedächtnis war mir nur „etwas mit Liebe“. Nicht „Un‘ aura amorosa“…

Nie wieder wird mich dieser alte Ohrwurm von heute Morgen verfolgen. In Wahrheit handelt es sich – wie so oft – um eines der schönsten Stücke, die ich kenne.

  

Eine bedrückende Frage bleibt: wie konnte ich das für banal halten???  Sie gilt allerdings nur zum Schein, denn auf das Motiv an sich, vage erinnert, könnte jeder kommen, der mit klassischer Musik umgeht. Es war ja auch kein Einfall, sondern nur eine Art Déjà-vue, das ungerufen auftauchte, ein fremdes Ding, das sich wichtig tat. Und niemand legte seine Seele hinein, es hatte keinerlei Tendenz, sich in die Realität hinauszuspannen. Usw. usw. – jetzt könnte ich eigentlich Hölderlin abschreiben. Ja, die Verse sollen hier folgen und meinetwegen wiederkehren, so oft sie wollen, wie die, die ich seit der Darmstadt-Zeit 1963 kenne und aufsage: „April und Mai und Junius sind ferne.“ Besser kein weiteres Wort davon…

Man kann ohnehin alles nachlesen, wenn man will, zum Beispiel hier . Aber ob es einen wirklich erreicht, ist eine andere Frage. Man verweist aufs Herz, auf Herz oder Seele. Oder Gänsehaut. Das hat mit Ohrwurm nichts mehr zu tun. Als nächstes muss ich die Notiz zu „Ja, du weißt es“ (Zueignung!) wiederfinden, irgendetwas war brauchbar daran, betr. Rousseau. Vielleicht so brauchbar wie der rote Melodiefetzen da oben, der sich plötzlich in Mozart verwandelte…