Archiv der Kategorie: Ethnologie

Griechische Formzahlen

Im Vergleich zu Kreta

Creta Lyra CD OCORA Radio France C 560264

Soweit ich sehe, gibt es im CD-Text, der vom Lyraspieler selbst stammt, keinerlei Hinweis auf „asymmetrische“ Rhythmen in den Tänzen, die er spielt. Tr. 11 – „Pentozalis“ d.h. „Five-step Dance“ – entpuppt sich als Zweier bzw. Vierer, wie es etwa in einem Notenbeispiel aufgeführt wird, das hier zu finden ist. Man vergleiche dagegen die Ausführungen zum (Syrtos) Kalamatianos hier.

Zu bedenken auch der Wikipedia-Hinweis, – betreffend „Chaniotika Syrta“ (siehe obige CD Tr. 3) :

„Sirtaki“ ist das Diminutiv (Verkleinerungsform) zu Syrtos, der traditionellsten Art griechischer Volkstänze. Nahezu jede Insel(gruppe) hat ihren eigenen Syrtos, z. B. den Syrtos Skiros, den Sirtos Silivrianos von Naxos oder den Chaniotiko (Syrtos von Chania, Kreta). Es gibt auch auf dem Festland Tänze, wie den Syrtos der Sarakatsanen, die den Beinamen „Syrtos“ tragen, aber mit dem Syrtos im 2/4-Takt mit dem Tanzrhythmus „lang-kurz-kurz“ nichts zu tun haben.

In Maximilian Hendlers „Atlas der additiven Rhythmik“ findet man unter den 18 Beispielen aus Kreta nur einen einzigen mit der Formzahl 7, und das ist ein Kalamatianos. Während etwa unter dem Stichwort Makedonien schon im ersten Teil der Tabelle ersichtlich ist, dass die Formzahl 7 in ihren verschiedenen Gliederungen eine dominierende Rolle spielt.

Hendler Kreta   Hendler Makedonien

Quelle Maximilian Hendler: Atlas der additiven Rhythmik / Allitera Verlag München 2015

Als Ergänzung möchte ich einen Beitrag festhalten, der vorbildlich auf die metrischen Verhältnisse in einem Tanzlied aus Makedonien eingeht und zu den Ausführungen bei Georgiades (siehe hier) erhellende Aspekte aus der gegenwärtigen Situation beiträgt.

Griechische Makedonia LP

Quelle Greek Traditional Music: 1. Macedonia – Folk Songs of Trilofos / Aristotle University of Thessaloniki School of Musical Studies / Music Transcription, comentary, collection and selection of material: Professor Dimitris Themelis, Assistant Professor Yannis Kaimakis.

(Fortsetzung folgt)

SHAH KOKOJAN

Afghanische Volksmusik

Diese Arbeit ist Dr. Werner Fuhr gewidmet, dem langjährigen Mitarbeiter und Freund in der Redaktion Musikkulturen des WDR Köln. Am 22. September 2015 nimmt er Abschied von seiner Arbeitsstätte, und er hat mich bei dieser Gelegenheit sozusagen noch einmal auf die Reise geschickt, die ich vor 41 Jahren für den WDR unternommen habe: indem er einen Sendetermin am 13. Oktober anberaumte – WDR 3 Open Soundworld Hindukusch mit Bernhard Hanneken – und mir nach der Vor-Produktion am 5. August das neue Buch von Maximilian Hendler überreichte, das mich nun nachhaltig beschäftigt.

Vorläufige Notenskizze (© Jan Reichow) nach einer WDR-Aufnahme mit Mohammad Omar, Rubab-Laute; Ghol Alam, Dhol-Trommel. 2. April 1974 Kabul Konzertsaal Radio Afghanistan

Afghan Shah Kokojan 1  Afghan Shah Kokojan 2Afghan Shah Kokojan 3 Originaltonhöhe

Afghanistan CD kl rück CD Track 2 Shah Kokojan

Siehe auch WDR 3 Soundworld Hindukusch 13. Oktober 2015 HIER

Afghan Mohammad Omar Rubab 1974.a jpg  Afghan Mohammad Omar Rubab 1974 (Fotos: JR 1974)

Wenn man die CD schon besitzt (Achtung: ich habe keinerlei Vorteil davon!), ist es reizvoll, die gleiche, aber viel üppiger ornamentierte Melodie auf Tr.16 zu vergleichen; Interpreten sind dort: Abdul Djabbar, Tula-Flöte, und Malang Nadjrabi, Zerbaghali-Trommel. Man vergesse nicht, dass es uns auch um die Verinnerlichung des Rhythmus geht, und damit um dasselbe Phänomen, das in diesem Blog immer wieder unter den Namen Maximilian Hendler oder Thrasybulos Georgiades (Musik und Rhythmus bei den Griechen) angesprochen wird.

Afghan Djabbar Tula 1974 Afghan Abdul Djabbar und Malang 1974

Fotos: Jan Reichow 1974 – Aufnahmesituation im Saal Radio Afghanistan

Die zuletzt genannten Interpreten hört man übrigens auch beim nachfolgenden Youtube-Afghanistan-Memorial. (Ich habe noch nicht gecheckt, ob es sich um dieselbe Aufnahme handelt… werde es später nachtragen, – aber nicht monieren. / / / Oh doch, ich moniere: die Tonqualität ist miserabel, brutal eingeblendet, oft übersteuert und hässlich ausgeblendet, aber ansonsten Phrase für Phrase dieselbe Aufnahme, die im Original wunderschön ist. )

Die Tula-Version der Afghanistan CD (Tr.16) in einer sehr vereinfachten Skizze (siehe Erläuterung der Defizite weiter unten):

Shah Kokojan Tula …die Skizze bricht hier ab, würde in voller Länge 32 Zeilen umfassen. Die absolute Tonhöhe (original: notiert e“ = klingend cis“) ist der Rubab-Notation (siehe ganz oben) angepasst, ebenso die Bezeichnung der Melodie-Abschnitte A, B und C. Besonders vermerkt sei die Variante C‘, die in der Zeile 9 zum ersten Mal auftaucht. Eine Vorstellung des formalen Ablaufes der Wiederholungen soll die folgende Reihe vermitteln:

Zeile 1 C / 2 C / 3 C / 4 A / 5 B / 6 B / 7 C / 8 C / 9 C‘ / 10 C / 11 C / 12 A / 13 B / 14 B / 15 C / 16 C / 17 C‘ / 18 C / 19 C / 20 A / 21 B / 22 B / 23 C / 24 C / 25 C‘ / 26 C‘ / 27 C / 28 C / 29 C / 30 C / 31 C‘ / 32 C //

Die Zählfolgen der Zerbaghali-Trommel sind völlig schematisch wiedergegeben, um die Zuordnung der Melodie übersichtlicher zu machen. Die Melodie ist ebenfalls schematisch aufgezeichnet, denn fast jeder Ton ist mit Triller versehen, auch viele Tonverbindungen sind durchornamentiert. Ab 23 Beschleunigung, ab 28 noch mehr, die roten Schrägstriche nach 6 B, 14 B und 22 B bedeuten einen winzigen rhythmischen „Break“. Letztlich ist diese Skizze nur eine Hörhilfe, die in etwa einschätzen lässt, was sich wirklich (?) abspielt.

(Fortsetzung folgt, betr. insbesondere rhythmische Unwägbarkeiten)

Das Hören der Worte

Von Klang und Rhythmus 

Selten hört man gut gesprochene Lyrik. Auch nicht von prominenten Schauspielerinnen oder Schauspielern, gerade von ihnen nicht. Diese Form der Sprache und des Sprechens kommt offenbar als Ausbildungsfach nicht vor. Sprechen? Es ist doch typisch, dass angesichts dieses Themas zuerst das Wort „hören“ auftauchte („Selten hört man gut gesprochene Lyrik“), nicht das Wort „sprechen“. In Bantels Lexikon „Grundbegriffe der Literatur“ (1962)  lese ich: „die eigentliche lyrische Haltung … ist das liedhafte Sprechen“ (nach W.Kayser). Wie aber verwandeln sich Worte in Musik und Rhythmus? Indem ich sie als solches höre, – auch wenn das Gegenüber nicht erfreut ist, sagt schon mal jemand: ich höre deine Worte wie Musik. Sie mögen als bloßer Inhalt gemeint sein, in den Ohren der Liebe wird daraus Musik. Sie sind mit einem besonderen Fühlen verbunden, einem Fühlen, das Außen und Innen verbindet.

Manchmal findet man den lapidaren Satz: „Lyrik verlangt den Sprachklang, muß also laut gelesen werden“, so in meinem alten Schulbuch „Griechische Lyrik“ (Rudolf Beutler 1952), aber habe ich das je in einer deutschen Gedichtsammlung gefunden? Gewiss, Lautmalereien, Klangspielereien  wurden in der Analyse erwähnt, aber sprach man darüber, wie es klingen muss, wenn man die Verse spricht, über den Tonfall, – der allerdings ebensoviel mit Sinn wie mit Melodie zu tun hat?

Wolfgang Kayser sagt in seinen Vorlesungen zur Geschichte des deutschen Verses (1960):

Sicher ist in den Jahrhunderten seit der Erfindung der Buchdruckerkunst und wohl besonders durch die allgemeine Schulpflicht unser Ohr zugunsten des Auges vernachlässigt worden. Andere Jahrhunderte und andere Kulturformen verfügten über ein ungleich feineres und geschulteres Gehör, als wir es heute besitzen. Nur so ist es zu erklären, daß in Rom die Plebs, also das literarische ungeschulte Volk, bei einem fehlerhaften Vers zu pfeifen begann; ich habe es in Portugal, wo ein großer Teil der Bevölkerung noch nicht lesen und schreiben kann, selber erlebt, wie sich unter dem Volk Unbehagen ausbreitete, wenn beim Rezitieren siebensilbiger Verse eine Unregelmäßigkeit unterlief. Wer bei uns hört noch etwa inmitten des Blankverses sechshebige Zeilen, wie sie etwa bei Grillparzer vorkommen? Sicher ist unser Gehör, seitdem wir lesen können, für den rein akustischen reiz der Dichtung stumpfer geworden. Es steht dahin, ob wir diese Tatsache mit dem üblichen Hinweis, daß früher alles besser war, bedauern sollen. Es ist möglich, daß gewisse Vorgänge in der Versgeschichte mit dem Gehörverlust in Zusammenhang stehen. So scheint es, als ob die Zeile an Bedeutungsschwere eingebüßt hätte, ja als ob auch eine Tendenz bestünde, die Bedeutung der Strophe zu mindern, eine Bewegung, die wir etwa seit der Romantik, wie wir sehen werden, verfolgen können. (…)

Aber unsere akustisch beschränktere Aufnahmefähigkeit für Dichtung hat wohl noch einen anderen Grund: das Auswendiglernen, ein Prozeß, durch den das Gelesene ja auf die Ebene des gesprochenen Wortes gehoben wird, ist so gut wie ganz aus der Übung gekommen. Noch die vorige, also meine Generation, konnte eine Fülle von Gedichten ihrer Lieblingsschriftsteller: Rilke, George, Hofmannsthal auswendig. Die heutigen Studenten setzen mich immer wieder durch den Mangel an auswendig Gewußtem (par coeur, also vermittels des Herzens Gewußtem, wie der Franzose sagt) in Erstaunen.

Quelle Wolfgang Kayser: Geschichte des deutschen Verses / Zehn Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten / Francke Verlag Bern und München 1960 (Seite 12 f)

Wenn wir intuitiv zu wissen glauben, wie ein Gedichtvortrag klingen sollte, muss es uns eigentlich erstaunen, dass der offenbar völlig andere Vortrag eines antiken Gedichtes nicht mehr Aufmerksamkeit erregt hat und intensiver diskutiert wurde; meist genügte – auch in der Fachliteratur – der Hinweis, dass es sich um quantitierende Metrik handelt. Kein Wort darüber, dass selbst die im Alltag gesprochene Sprache der alten Griechen quantitierend ablief, die absolute Länge oder Kürze der Silben lag nicht im Ermessen der Sprecher. Und die Akzente, die man heute in den griechischen Wörtern sieht und als „Akzente“ auffasst, bedeuteten lediglich Tonhöhen-Unterschiede! Sicherlich keine willkürlichen, sondern etwa eine Quinte…

Hat man es gewusst? Hat man darüber gestaunt? Hat man je in Betracht gezogen, dass ein ganz anderes Denken und Fühlen dahinterstecken muss?

Hat man wahrgenommen, dass ein Buch wie „Musik und Rhythmus bei den Griechen“ von Georgiades eine Revolution bedeuten musste? Man kann es nicht beiläufig zitieren, wie dieser Fachmann altgriechischer Metrik. Er  w u n d e r t  sich nicht, er tut so, als sei die Sprach-Musik im Alltag eine alltägliche Geschichte:

Die griechische Dichtung ist  q u a n t i t i e r e n d, sie beruht auf dem geregelten Wechsel langer und kurzer Silben im Gegensatz zur byzantinischen und modernen Dichtung, die akzentuierend ist, d.h. einen dynamischen, expiratorischen Iktus hat. Auch der bei Marsch- und Arbeitsliedern hinzutretende Rhythmus gibt dem griechischen Wort keinen dynamischen Akzent; das Fehlen des Iktus ist eine linguistische Erscheinung, die nicht durch Tanzen, Marschieren, Dreschen, Mahlen, Schmieden u.ä. während des Singens aufgehoben werden kann. Die Akzente bezeichnen musikalische Tonhöhen (Barytonese, Oxytonese), durch die gerade ein Sprechtonfall (Iktus) ausgeschaltet wird. Der Rhythmus der griechischen Sprache ist also zugleich sprachlicher und musikalischer Natur.

Quelle Dietmar Korzeniewski: Griechische Metrik / Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1968

Und genau anschließend an diesen Satz findet man die Anmerkung mit der Nennung des Georgiades-Buches, aber auch zweier winziger Artikel, worin sich zeigen mag, dass die Wissenschaft längst informiert ist, aber niemand sich wundert und der Erwähnung wert findet, dass hier ein riesiges Potential an Erkenntnis zu erschließen wäre.

Korzeniewski Anmerkg Georgiades Quelle wie vorher

Nur noch ein einziger Hinweis zum musikalischen Anteil findet sich im Kapitel zum Hexameter:

Der Hexameter ist also von Haus aus kein Sprechvers wie der iambische Trimeter, sein Vortrag erfolgte wohl ursprünglich in einer Art Sprechgesang.

Korzeniewski Hexameter Quelle wie vorher

Es ist diese merkwürdige Erfahrung, die dem Musikethnologen geläufig ist: unter allen Kulturäußerungen anderer Völker werden die musikalischen am wenigsten wichtig genommen. Weil die Ohren  dafür nicht ausgebildet sind. Und was man nicht aufschreiben kann, ist nicht recht vorhanden. – Man könnte einwenden: niemand von uns hat Homer sein Epos vortragen hören. Gut, aber haben Sie sich schon mal Zeit genommen, einem Epensänger aus Japan oder aus Niger zu lauschen? (Das ist nicht das gleiche, natürlich nicht, aber – unser Interesse könnte das gleiche sein.)

Es entstehen viele Fragen, auf die Georgiades eingeht: wann die griechische Sprache etwa ihren quantitierenden Charakter verloren hat, wie sich diese Einheit von Rhythmus, Musik und Sprache (musikēauflösen konnte, – was geschah geistesgeschichtlich, bewusstseins-geschichtlich? Ich zitiere etwas wahllos:

Es scheint, daß Ansätze zu einer Wandlung ziemlich früh vorhanden sind: Gegen Ende des 5. Jahrhunderts v.Chr., also noch in der Blüte der klassischen Zeit, findet man gewisse Anzeichen, die man dahingehend deuten muß. Um diese Zeit entstand der ’neue Dithyrambos‘, dessen Neuerungen die konservativ Eingestellten sehr beunruhigten. Man warf PHRYNIS und TIMOTHEOS vor, daß darin die musikalische Komponente zu selbständig sei, daß sie eigene Wege gehe. Hier also begann wohl eine Trennung zwischen ‚Dichten‘ und ‚Komponieren‘. Sie zeigten sich wahrscheinlich am deutlichsten in der Rhythmik: Bis dahin hatte allein die Sprache den Rhythmus bestimmt. Das Verhältnis der langen zu den kurzen Silben war in der Sprache gegeben. Jetzt begann man, die Silben freier zu behandeln. (…)

Die Sprache verlor ihre rhythmisch-körperhafte Festigkeit. Die Wörter verloren ihren Eigenwillen. Sie leisteten keinen festen Widerstand mehr. Sie bekamen etwas Schattenhaftes. Sie ließen sich nicht nur neinem selbständigen musikalischen Rhythmus, sondern auch dem Willen des Subjekts anpassen. Sie wurden willige, geschmeidige Instrumente im Dienste des Sprechenden. Eine neue Art des Sprechens bahnte sich an: das, was wir heute unter ‚Sprechen‘ verstehen, ein Sprechton, der dem Bedeutungszusammenhang dient und darüber hinaus auch eine in jeder Hinsicht subjektive Färbung annehmen kann (…). (Seite 49 f)

Der antike, der Musikē innewohnende Rhythmus scheint aber so tief in der Seele jener Menschen verwurzelt gewesen zu sein, daß er für sich weiterzuleben vermochte, selbst nachdem die Einheit, die Musikē, sich aufgelöst hatte. Als der altgriechische feste Leib der Sprache, der Musikē, zusammenschrumpfte und sich in die abendländische Sprache verwandelte, hinterließ er die Hülle, die nunmehr ein Eigenleben zu führen begann, als ‚Musik‘ und als rein musikalische, von der Sprache unabhängige Rhythmik. (Seite 53)

(Fortsetzung folgt)

Ach, noch leben die Sänger; nur fehlen die Taten, die Lyra
Freudig zu wecken, es fehlt, ach! ein empfangendes Ohr.

(Friedrich Schiller)

Zum Gebetsruf

Ich unterstelle, dass die Zusammenfügung kleiner Meldungen nicht dem Zufallsprinzip folgt. Und im Fall der aktuellen Zeitung, habe ich einen mit Bild versehenen Artikel („40000 Jungfrauen tanzen für den König von Swasiland“) , der sich nach oben hin anschloss, noch mit Bedacht nicht einbezogen (die Zeitungsleser aber sind gewissermaßen dazu eingeladen, alle nur möglichen Querverbindungen zu improvisieren).

ST Muezzin und Schlaf

Ich kann darüber nicht lachen. Ich liebe den Gebetsruf zu sehr. Solo ebenso wie im zufälligen Ensemble: In Casablanca habe ich mein Mikrofon aus dem Hotelfenster gehalten, als aus allen Himmelsrichtungen die Stimmen der Muezzins (aus Lautsprechern) ineinandertönten. Ich liebe auch den Klang der Kirchenglocken mit ihrem seltsamen Zufallsrhythmus. Aber noch mehr die „wilde“ Musik von Nadaswaram-Oboe und Mrdangam-Trommel im Hindutempel. Dem Urteil der Gläubigen nach ist meine Liebe nicht viel wert, – hat sie doch nur mit Musik zu tun, auch wenn das Ohr (oder der Gehörssinn) für heilig gilt. Aber ich meine wirklich „nur“ Klang und Musik, und alles weitere Wissen ist mir sekundär. Wenngleich ich die starke Wirkung der Worte nicht leugne…

Suche ich nach einem schönen Gebetsruf auf youtube, stört mich die oft damit verbundene Werbung, es klingt mir bereits zu sehr nach Mission. Ich vergaß zu erwähnen, dass ich den Weg der Wissenschaft liebe. In diesem Fall sieht er so aus:

Music in Egypt Music in Egypt Quelle ISBN

Die beigefügte CD beginnt mit einem Gebetsruf, der im Textteil analysiert wird. Siehe HIER. Ich lasse eine Kopie des Azan-Textes (Buch Seite 2) folgen; sie ist hilfreich, wenn man einen der Rufe auf youtube im Detail mitlesen will. Aber die bei Scott L. Marcus analysierte Melodie habe ich nicht im Internet gefunden (jedoch Mohamed Gebril mit eindrucksvollem Qoran-Vortrag).

Gebetsruf TEXT

Die erste Analyse bei Scott L. Marcus im Internet HIER. Weiteres auf den Seiten 1-15 im Buch, dankenswerterweise mit dem Kapitel THE MELODIC ASPECT OF THE CALL TO PRAYER. Darin die Höranweisung:

Activity 1.2 Listen again to CD track 1, giving special attention to the many melismas. Photocopy the text given in Activity 1.1 and mark those syllables that are treated melismatically. Note that the melismas differ when a line is repeated.

HIER (?) oder hier

Auf dem Boden bleiben!

Bundesliga beginnt

Bundesliga a  Bundesliga b

Keine Wallfahrt!

ZITAT

Als erstes fällt bei den Fans die Erzeugung von Gemeinsamkeit auf. Ähnlich vereinigend wie gemeinsames Trinken wirkt das Absingen von Fußballhymnen, unterstützt von gleichen Bewegungsweisen. Bei den sangeskundigen englischen Fußballfans wird der religiöse Charakter der Gesänge deutlicher als bei den deutschen. Der berühmteste aller Fangesänge You’ll never walk alone wurde nach dem Ersten Weltkrieg während der englischen Cup-Finale im Wembley-Stadion in Erinnerung an die gefallenen Fans gesungen. Beim Absingen dieser Hymne ist heute eine strikte rituelle Ordnung einzuhalten (die auch auf deutschen Fußballplätzen gilt). Die Schals werden mit beiden Händen über den Kopf gehalten und im Rhythmus der Musik langsam hin und her bewegt, wie die Fahnen einer Prozession. Zum Heiligen halten die Fans engen Kontakt. In Marseille pilgerten sie vor dem UEFA-Pokalendspiel zur Wallfahrtskirche Notre Dame de la Garde, um dort eine Kerze zu entzünden. Der FC Sankt Pauli gab unter dem Titel Glaube, Liebe, Hoffnung eine „Fan-Bibel“ heraus. Wissentlich oder nicht hat er die göttlichen Tugenden zu seinem Wahlspruch gewählt, durchaus passend zu seinen Fan-Artikeln, vom Wimpel bis zur Unterhose und zum Pauli-Gartenzwerg.

Quelle Gunther Gebauer: Poetik des Fussballs campus verlag Frankfurt am Main 2006 (Seite 100 f.)

Wer heute nach dem zitierten Wahlspruch beim FC Sankt Pauli selbst sucht, stößt bei den „Kiezhelden“ auf eine Baustelle (hier). Sie wird doch wohl nicht erst nach der schmerzlichen Niederlage gegen Mönchengladbach (vorgestern) eingerichtet worden sein?

NOCH EIN ZITAT

Es gibt Situationen im Leben, denen wir gern eine Schlüsselbedeutung zuweisen. In ihrer verdichteten Form erschließen sie bisher verborgen gebliebene Lebensbereiche. Am 28.11.1993 gab es für mich einen solchen erhellenden Augenblick. Reinhold Mokrosch hatte seine zwei Mitstreiter für eine empirische Wertforschung überraschend am Freitagabend zum Fußballspiel des VFL ins Stadion An der Bremer Brücke eingeladen. Obwohl schon seit mehreren Jahren im Wettstreit um die Erforschung von Moralauffassungen miteinander verbunden, wurde erst am diesem Abend deutlich, welche integrierende Bedeutung ein Fußballspiel für eine Forschergruppe haben kann. Der Philosoph in dieser Runde zeigte sich als fachkundiger VFL-Fan, der Sportwissenschaftler mußte sich schon aus beruflicher Sicht engagiert zeigen und der Religionspädagoge gab dem Abend seinen interpretativen Stempel. Als in der Ostkurve nach dem Führungstreffer der Osnabrücker die Wunderkerzen angezündet und sie im Rhythmus des Anfeuerungsgesanges hin und her bewegt wurden, platzte es aus ihm heraus: „Das ist ja wie in der Kirche – nein, es ist in der Form von Ergriffenheit mehr als wir es dort vermögen“ – Woraus sich die ironisch-nachdenkliche Frage ergab: „Ist der Sport die Religion des säkularen 20. Jahrhunderts?“

Damit sind wir vom unschuldigen Anlass „Fußball“ gleich zweimal in höchst problematische Bezirke abgedriftet. Der Samstag soll uns wieder vom Kopf auf die Beine stellen, selbst Adornos Diktum, das alsbald auftauchen wird,  werden wir hoffentlich rechtzeitig abstreifen:

Denn zum Sport gehört nicht nur der Drang Gewalt anzutun, sondern auch der, selber zu parieren und zu leiden … Es prägt den Sportgeist nicht bloß als Relikt einer vergangenen Gesellschaftsform, sondern mehr noch vielleicht als beginnende Anpassung an die drohende neue … (ADORNO 1997, 43)

Lassen Sie uns den Vortrag zu den allermerkwürdigsten Aspekten von Spiel und Sport hinter uns bringen! Der Titel: Der Sport – die Religion des 20 Jahrhunderts? Autor: Prof. Dr. Elk Franke. Nachzulesen: HIER.

Neue Ernüchterung 14. August 2015

Eine letzte Saison der Vernunft (Kommentar von Olaf Kupfer in der WZ)

ZITAT

Denn was Fußball-Romantiker[n] den Atem raubt, wird nach dieser Saison wahr: Getrieben von den wahnwitzigen Verhältnissen in England, wo die Clubs der Premier League dank einer exorbitanten Pay-TV-Vermarktung über vielfache Einnahmen der Bundesligisten verfügen, bricht auch die deutsche Liga (DFL) auf zu neuen Ufern: Extrem zersplitterte Spieltage werden schon bald die hektische Betriebsamkeit der Spitzenclubs rahmen, noch mehr Geld zu generieren – um nicht abgehängt zu werden.

Verrückte Verhältnisse kündigen die Manager für den Sommer 2016 an: Von einer Abwanderungswelle gen England ist die Rede. Und von einer Gehaltsexplosion für Spitzenspieler. Vom Ungleichgewicht des Weltfußballs. Da wollen wir es uns doch noch mal gemütlich machen und eine letzte Saison der Vernunft feiern.

Quelle Solinger Tageblatt 14. August 2015 Seite 2 / im Volltext nachzulesen als Leitartikel der Westdeutschen Zeitung WZ HIER.

Bayarena Live 15.26 h 20150815_152634  BayArena Spielunterbrechung 20150815_160754 BayArena Ecke 20150815_164442  BayArena Alleingang 20150815_163209  Fussball x Leverkusen Hoffenheim 15 August 2015

15. August BayArena 15.30 bis 17.15 Uhr Leverkusen:Hoffenheim 2:1 (Handy-Fotos JR)

Nachtrag Juni 2024 Über Fußballhymnen

https://www.3sat.de/kultur/kulturdoku/fussballhymnen-102.html HIER (bis 8.6.2025)

Kultur Fußballhymnen. Schalalalala?

Vereinshymnen, Schlachtrufe, Schmähgesänge. Stadien sind eine der wenigen Orte, an denen noch gemeinsam gesungen wird. Wie entstehen Fangesänge eigentlich? Und wer kam nur auf die Idee, Fußballprofis singen zu lassen?

Produktionsland und -jahr: Deutschland 2024ZDF

Rhythmus – eine fast unlösbare Aufgabe

Was soll denn daran unlösbar sein? Jeder Mensch hat Rhythmus.

Das Problem ist die Beschreibung, die Einordnung, die Verallgemeinerung. Ich kann durch zahllose Länder gereist sein, von Nord nach Süd, von West nach Ost, bergauf, bergab und querfeldein, aber sobald ich eine Karte anlegen soll, die für künftige Reisen und andere Menschen brauchbar ist, habe ich ein Problem. Ich habe keine Übersicht. Ein Atlas muss her, ein genaues Verzeichnis usw.; als Reisender bin ich heute natürlich in der glücklichen Lage, all dies in gedruckter Form vorzufinden und mir reich bebilderte Reisebeschreibungen, Skizzen, Hilfsmittel aller Art zuzulegen.

In der Musik aber gibt es wenige Ansätze zur Schaffung brauchbarer Atlanten, – der entscheidende Punkt: die Ungreifbarkeit der (nur) klingenden Areale -,  noch weniger in der Unterabteilung Rhythmus, weil jeder zu wissen oder zu fühlen glaubt, was „Rhythmus“ ist. Und doch hat kaum einer mehr als eine Handvoll Rhythmen im Sinn. Dieses Buch ist der erste „Atlas“ seiner Art, das gigantische Unternehmen eines einzelnen Forschers, der um seine Einzigartigkeit weiß:

Dem Autor wäre es möglich, seitenweise über die Insuffizienz der Musikwissenschaft in Sachen Rhythmus zu schreiben … (S.119)

Die große Frage: wird er auch Leser finden, die ihn verstehen und sein Ordnungssystem gedanklich nachvollziehen, und die es dann auch mit den Ohren umzusetzen vermögen? Vorausgesetzt ist eine unstillbare Neugier, ein Wille das zu verstehen, von dem jeder sagt: da ist nichts zu verstehen, du musst es fühlen. Den Rhythmus, den hat man im Blut! Und fertig!

Es ist aber wie mit Sprachwissenschaft. Wer schon einmal etwas über Linguistik gehört hat, z.B. von Noam Chomsky, der wird nicht sagen: Es genügt, eine Sprache (oder mehrere) zu sprechen und zu verstehen. Alles andere ist doch Erbsenzählerei. Mitnichten, – selbst der Laie vergleicht Sprachen und Ausdrucksweisen. Denk-Stile.

Zweifellos werden viele Leute dieses Buch aufschlagen, durchblättern und sagen: 2 Drittel davon sind ungenießbar, bloße Listen (Seite 121 – 357). Die anderen aber wissen, dass es die unverzichtbaren Belege für die atemberaubende Stringenz des Textteils sind. Einziger Nachteil: auch diese Stringenz klingt nicht, und es gibt nicht das kleinste Notenbeispiel, nur diese Reihen aus römischer Eins, x und Punkt. Das vielleicht unerfüllbare Desiderat der Zukunft: eine riesige Datenband, die alle aufgelisteten Musikstücke und jeden erwähnten Rhythmus per Mausklick hörbar macht, d.h. greifbar und begreifbar.

Hendler Cover Hendler Cover rück

Hendler Cover rück Text www.allitera.de ISBN978-3-86906-770-4 Leseprobe incl. Vorwort

Aus absolut selbstbezogenen Gründen löse ich aus dem Vorwort (das vom WDR-Redakteur Bernd Hoffmann stammt) einen bestimmten Abschnitt heraus, womit auch betont sei, dass ich in Sachen dieser Buchempfehlung äußerst befangen bin:

Hendler Vorwort Hoffmann

Die Abteilung Volksmusik, von der hier die Rede ist, ging auf eine Vorform der 50er/60er Jahre zurück, die erst seit 1970 begann, konsequent über das „Areal“ der bearbeiteten deutschen Volks- und Chormusik hinauszuschauen. Mitte der 90er Jahre wurde sie konsequenterweise in Redaktion Musikkulturen umbenannt, als die sie heute noch existiert. Das vorliegende Buch wurde mir am 5. August überreicht, als ich bei meinem Mitarbeiter und Nachfolger (seit 2006) Dr. Werner Fuhr den wahrscheinlich letzten WDR-Beitrag meines Lebens produziert hatte (Sendetermin 13. Oktober 2015 Soundworld WDR 3 Thema Afghanistan 1974, Autor Bernhard Hanneken). Was danach aus unserem – so kann man wohl sagen – Lebenswerk wird, werden wir – aus dem angeblichen Ruhestand, in dem wir uns dann beide befinden – wohl noch eine Weile interessiert beobachten.

Ich werde mir einen eigenen Zugang zu diesem Buch schaffen, indem ich es mit Themen verbinde, die mich ohnehin wieder beschäftigen. Die afghanischen Rhythmen haben mich damals gehindert, meine Notationen fortzusetzen, die ich recht eifrig betrieben hatte. Ich war mir nicht sicher und vermisse auch jetzt die Behandlung eines wiederkehrenden Problems, das vielleicht gar keins ist: die „verzogenen“ Rhythmen, deren Charakteristikum darin liegt, den Elementarpuls an einer bestimmten Stelle zu dehnen oder zu stauchen. Musterbeispiel: der „bulgarische Rhythmus“ bei Bartók (Mikrokosmos IV): jeder Klavierlehrer hält seine Schüler an, die 7 Achtel alle gleich zu spielen 1 2 1 2 1 2 3 / 1 2 1 2 1 2 3 etc. und nicht etwa die letzte 123-Gruppe als Triole. Bartók selbst aber spielte sie tatsächlich minimal „zusammengefasst“! So hat er es bei den Volksmusikern gelernt!

Maximilian Hendler hat einige Stücke unserer Afghanistan-CD rhythmisch präzise bezeichnet; ich werde sie daraufhin untersuchen, eventuell unter Zuhilfenahme meiner geliebten Notenschrift. (Ich liebe sie trotz irreführender Suggestionen – die man einkalkulieren kann -, allein wegen ihrer heuristischen Funktion. Die ethnographischen Einwände sind mir bekannt.)

Hier also der Blick in Hendlers Liste; die Stücke, die mir vertraut sind, habe ich durch einen blauen Pfeil gekennzeichnet.

Hendler Afghanistan (bitte anklicken)

Es handelt sich um die Tracks 1, 2, [5],6, [7], 10, 11,17 der CD, die hier abgebildet ist. Tr. 5 „Farkhari-Lied“ steht auf der vorhergehenden Seite, Tr. 7 „Meine Geliebte geht im Garten“ folgt auf der nächsten Seite der Hendler-Liste.

9. August 2015

Es hat mich nicht losgelassen: der gestrige Tag begann mit afghanischen Reminiszenzen (Fotos sichten) und endete mit einem überlangen Fest unter Freunden und Nachbarn in der Wipperaue, wobei ich viel an Afghanistan gedacht habe. Aber erst heute kam ich auf die Idee, in alten Aktenordnern zu suchen (habe ich nicht damals Transkriptionen angefertigt? sozusagen als Vorübung für die Afghanistan-Reise 1974, also wahrscheinlich ab Ende 1973, die Blätter sind undatiert). Den stärksten Eindruck hatten im Vorfeld zwei Lyrichord-Schallplatten gemacht. Idee: hat Max Hendler sie auch untersucht? Natürlich! man schaue auf die Liste oben rechts unter Afghanistan-Tadschiken: 0722-B/6 „Ghichak and Zerbaghali“ – und am Ende der Zeile steht die Rhythmus-Formel!!! Formzahl 7 !!! Und genau dieses Stück habe ich damals notiert und habe es noch nicht als das „Farkhari-Lied“ erkannt, das mir in Mazar-e-Sherif so oft begegnen sollte: Ghichak bzw. Ghitchak (spr. Rittschack) ist das Streichinstrument, Zerbaghali (spr. Serbaraali) die Trommel. Der Ghitchakspieler ist es, der auch singt. Das große Notenblatt musste ich hier im Scan mittig teilen, man lese also in jeder Zeile vom linken Halbblatt aufs rechte. Achtung: in der Mitte ist eine winzige Verdopplung zurückgeblieben.

Lyrichord Afghan Trankr links  Lyrichord Afghan Trankr rechts

Immerhin, – das vermag die verpönte Notenschrift: ich habe das Lied auf Anhieb wiedererkannt.Und wer Noten lesen kann, wird es auch einigermaßen nachvollziehen können, wenn er die neuere Network-CD-Aufnahme Tr. 6 „Farkhari-Lied“  dagegenhält (bei Hendler unter Afghanistan-Badakhshan aufgelistet, weil die Sänger aus Badakhshan stammen). Die heutige Rhythmus-Problematik war mir damals durchaus nicht fremd, wie die selbstkritische Bemerkung zeigt, die ich hier noch zur besseren Lesbarkeit vergrößere:

Lyrichord Kommentar JR

Und zu guter Letzt folgt die Quellenangabe von der Rückseite des Notenblattes:

Lyrichord Quellenangabe

Ich glaube, allein Maximilian Hendler kann ermessen, welchen Anteil der vor Jahrzehnten beiseite gelegten Arbeit er mir nun mittels seines neuen Buches erneut auflädt, zudem mit der latenten Forderung, sie in einen neuen, weltweiten Zusammenhang zu stellen. Warum? Weil er sein Buch nun einmal als „Atlas der additiven Rhythmik“ bezeichnet hat, und da steht man ungern da mit einem Einzelrhythmus in der Hand und sagt: jaja, [2+2+3], den hätte ich schon mal, den kann mir keiner mehr wegdiskutieren.

Und man glaube nicht, dass es übersichtlicher wird, wenn wir nun auch die Melodie mit in die Betrachtung einbeziehen. Oder doch – zunächst schon:

Die bisherige Darstellung impliziert, dass sich der Beginn der Melodie mit der 1 einer Elementarzahl deckt. Diese Regel gilt allerdings nicht für alle Subareale der additiven Rhythmik in gleichem Ausmaß. Vor allem hinsichtlich der balkanischen und orientalischen Musik kann endlos darüber gestritten werden, ob das, was die Europäer eine „Melodie“ -eine horizontale, nachsingbare musikalische Einheit – nennen, eine melische Realisierung rhythmischer Formeln oder eine rhythmische Realisierung eines Maqams (= einer modalen Struktur) ist. De facto verhält es sich jedenfalls so, dass in dieser Großregion Modus und Rhythmus zusammentreten müssen, um eine als „Melodie“ zu empfindende Einheit zu ergeben. Ausnahmen von dieser Regel sind sehr selten.

Dieser Tatbestand ändert sich, wenn Afrika südlich der Sahara und Lateinamerika ins Auge gefasst werden.

Quelle Maximilian Hendler a.a.O. Seite 25 („Anmerkung 3: Wo ist die 1 ?“)

Man kann also nicht mehr umhin, weit mehr ins Auge zu fassen als das, was einem zuvor eher „zufällig“ begegnete. Jedenfalls nicht mehr, wenn man einmal mit diesem Atlas in der Hand durch die imaginäre Welt der rhythmischen Ordnungen gereist ist.

Zum Abschied (für heute) folge hier die Formel, die Hendler dem „Farkhari-Lied“ zuteilt:

Hendler Farkhari-Formel

(Von wegen Abschied: da geht mir ein Licht auf, und wieder sitze ich hier mit einem Riesenproblem. Ist es möglich, dass ein und dasselbe Lied in rhythmischer Hinsicht einmal mit dieser Formel und einmal mit jener zu charakterisieren ist?* — Aber darüber diskutiere ich ausschließlich mit Max, der beide Klangquellen kennt – und noch einige Zehntausend mehr…)

Hendler Liste Detail

* Vielleicht kann ich selbst die Frage beantworten: die präzise Formel ergibt sich nicht aus dem Lied, der Melodie, sondern aus der Begleitung, deren Rhythmus – je nach Begleiter – unterschiedlich gegliedert sein kann. Fest steht in diesem Fall eben nur die Formzahl 7.

Bayreuth: Tristan und Isolde

Merkzettel

Ich hatte von einem „Schwarzen Freitag“ gesprochen, ein bisschen Sarkasmus muss sein. Korrekterweise darf ich hinzufügen, dass es auch ein „Himmelblauer Samstag“ werden könnte. Die Uhrzeiten differieren. Mach ich den Tag zur Nacht, die Nacht zum Tage, man gebe nur acht, es passt ohne Frage.

HIER das eine, HIER das andere. Es ist beides EINS. Vermutlich.

Wagner Bayreuth groß 5403023_3d09e007bee4afbad0e5cab552375ba3_1280re0 Bild: BR/Stadt Bayreuth

„Steht aber doch immer schief darum…“ (Margarete in Goethes Faust.)

Freitag: ab 16:00 Uhr / BR Video Live-Stream direkt aus Bayreuth (ausschließlich in Deutschland). / Samstag: ab 20:15 Uhr 3sat Fernsehen.

Tristan BR Screenshot 2015-08-07 18.22.52(2)

Tristan Vor Liebestod Screenshot 2015-08-07 21.52.35 Vor und nach dem „Liebestod“

Tristan Liebestod Screenshot 2015-08-07 21.57.56 Tristan Liebestod 2 Screenshot 2015-08-07 21.57.59

In der Tat: sie lebt und geht ohne Widerstand mit IHM. Oder heißt das: nur ihr Körper?

Tristan Schluss Klavierauszug : was Richard dazu meint…

Das Paradiesthema kehrt zurück

Kein Tag wie jeder andere

Ich blättere die neue ZEIT durch, wie immer in der Reihenfolge FEUILLETON – WISSEN – und jetzt würde die Titelseite folgen, aber ich bleibe stecken bei WISSEN auf Seite 29 und sage mir: Schon dafür hätte sich der Preis von 4,70 € gelohnt: ein Gespräch mit Nigel Barley, dessen erstes Buch „Traumatische Tropen“ ich im Dezember 1990 von meinem Kollegen Fuhr zum Geburtstag erhielt. Nicht lange danach habe ich es zum Thema einer WDR-Sendung gemacht. Völlig unabhängig davon war meine Begeisterung für Bali, einsetzend lange vor der Anschaffung des Buches „Märchen aus Bali“ 1965, gipfelnd im Bali-Aufenthalt 1995, von Wolfgang Hamm und Ulrike Rießler vorbereitet; in Ubud erstand ich z.B. den Bildband „Perceptions of Paradise“ und die Monographie über Walter Spies, während ich ein Jahr vorher das Buch von Adrian Vickers verschlungen hatte: BALI – Ein Paradies wird erfunden. Und nun dies:

ZEIT: Nun erscheint von Ihnen ein neues Buch auf Deutsch Bali – Das letzte Paradies (…). Ist es das, eine Insel der Seligen?

Barley: Natürlich nicht, der Titel ist ironisch gemeint. Das Paradies ist immer anderswo, niemals hier und jetzt. Deshalb werden auch absolutistische und totalitäre Regime immer irgendwann unterminiert: weil sie das Paradies nicht erschaffen können.

Eine typische Barley-Antwort, – wer denkt schon bei der Vorstellung vom Paradies zuerst an ein solches Regime? Dahinter stecken mehrere Gedankensprünge, und unmittelbar anschließend folgt der nächste:

Kürzlich war ich auf einer Konferenz in der Schweiz, da ging es um die Idee der Utopie. Wir saßen also da, in diesem wundervollen Tagungshaus am See, die Blumen blühten, es war angenehm warm, ein sanfter Wind strich übers Land, die Vögel sangen, die Fischer jodelten über den See … und wir zermarterten uns die Köpfe und diskutierten verbissen die Frage, wo wohl das Paradies sei.

Quelle DIE ZEIT 30. Juli 2015 Seite 29 „Da stimmt doch was nicht“ Nigel Barley ist passionierter Ethnologe – aber genervt von seinen Fachkollegen. Warum genau? Ein Gespräch über Forscher auf Reisen und die Insel der Seligen.

BALI Barley Man kann den Anfang des Buches online lesen: HIER.

Bali Paradise  Bali Vickers BALI Walter Spies BALI Märchen Paradiese Edgerton

Ich überlege: wann hat das eigentlich in meinem Fall begonnen? Am Anfang stand das Jugendbuch „Mut Mafatu!“, die Geschichte eines Jungen, der Anerkennung sucht, die Insel Hikueru, die Südsee – und ein seriöser Anhang, der belehrend gemeint war, aber mir als ein Siegel der Wahrhaftigkeit erschien. Das war vermutlich etwa 1950. Und 1960, zu Beginn des Studiums in Berlin, war es der folgende Film, der mich umgehauen hat, kein Zufall natürlich, dass früher der Junge, jetzt das Mädchen die Titelfigur war.

Südsee Film 1955 Südsee Film 1955 2 Südsee Film 1955 3 Der obige Text leichter lesbar plus Fortsetzung:

Südsee 4 Text Südsee Film 1955 4

Welche Rolle spielte die Musik dabei (für mich)?

Continente perduto war 1955 einer der damals erfolgreichsten und einflußreichsten Dokumentarfilme, zudem der erste italienische Film überhaupt, der in Farbe und Cinemascope gedreht wurde und im 4-Kanal-Stereoton-Verfahren in die Kinos kam. Über mehrere Monate hinweg war die Filmcrew unter der Regie von Enrico Gras und Giorgio Moser im indonesischen Archipel unterwegs gewesen, um von dort eine Fülle an atemberaubenden Naturaufnahmen zurückzubringen und eine so nie zuvor auf der Leinwand gesehene exotische Welt voll fremdartiger Gebräuche und Rituale vor den Augen der Zuschauer auferstehen zu lassen, in der seelische Kraft und religiöser Kult die Triebfeder allen Handelns sind. Lavagnino, der zusammen mit dem Filmteam sechs Monate in Indonesien verbrachte, um dort die Folklore des Landes zu studieren, komponierte für diesen Film eine seiner herausragendsten Arbeiten: Eine außergewöhnlich faszinierende, abwechslungsreiche und sinnlich-exotische Musik, die durch ihre brillanten Themen, ihre mitreißende Rhythmik und ihre farbenprächtige Klangpalette begeistert. Ethnisches Lokalkolorit wird in eine abendländische sinfonische Tonsprache integriert, wobei Lavagnino als erster italienischer Filmkomponist zu dieser Zeit ganz besonders mit innovativen Ton- und Aufnahmetechniken aller Art experimentierte. Die Realisierung dieses CD-Projekts war nur möglich mit der Unterstützung der drei Töchter des Komponisten – Alessandra, Bianca und Iudica Lavagnino -, die uns die im Nachlaß sogar in Stereo erhaltene Masterband-Kopie des Scores für diese CD-Veröffentlichung freundlich zur Verfügung stellten. Diese CD erscheint in einer limitierten Edition von 500 Exemplaren.

Quelle siehe HIER.

Schwarz-Weiß-Malerei

Neger (Ernst & Unernst)

Der deutsche Name Neger stammt vom Begriff Näher ab,“ lese ich im Magazin der Süddeutschen Zeitung vom 24. Juli, „er hat nichts mit dem ethnischen Wort Neger (von negro: schwarz) zu tun. Aber die Kunden mochten sein Logo, und Ernst Neger behielt es auch bei, als er so bekannt war, dass er keines mehr brauchte, dank seines Fastnachtshits: Humba Täterä.“

Ich habe den Beitrag „Wer Böses dabei denkt“ (über geschwärzte Gesichter im Theater, den Sarotti-Mohr, das Logo der Firma Neger etc.) in das Buch „Unser Shakespeare“ von Frank Günther gelegt, Kapitel (Seite 94-118): „Othello, der POC von Venedig oder Pippi Langstrumpfs neuer Papa oder vorauseilender Nachruf auf ein bald unspielbares Stück“. Doch weiter im SZ-Magazin:

Als er das Lied 1964 zum ersten Mal sang, musste die Sendung Mainz, wie es singt und lacht um eine Stunde überziehen, die Leute wollten sich einfach nicht beruhigen. Humba schwang sich zur Fastnachtshymne auf, überall war es zu hören, selbst in Akrika, wo es, wie der Spiegel schrieb, allerdings missverstanden wurde: „Deutsche Entwicklungshelfer mussten Aufklärungsarbeit besonderer Art leisten. Die Eingeborenen hielten den Song im stampfenden Rhythmus für die deutsche Nationalhymne.“ Ob der Spiegel das wohl heute auch so schriebe?

Damals nahm niemand daran Anstoß, so wenig wie an Ernst Negers Logo, das jahrzehntelang über den Dächern der Stadt thronte.

Quelle Süddeutsche Zeitung Magazin: Wer Böses dabei denkt / Geschwärzte Gesichter im Theater, der Sarotti-Mohr, das Logo der Firma Neger: Was ist harmlose Tradition, was Alltagsrassismus? Eine Deutschlandreise / Von Thomas Schmoll und Lorenz Wagner. (S.16 f)

Zur Ehre des Spiegels sei gesagt, dass die betreffende Meldung damals (am 16.12.1968) anders lautete, nämlich so:

TONI HÄMMERLE, 53. Am Klappenschrank fielen dem blinden Telephonisten der Gießener Universität, der 1933 ein Staatsexamen als Musiklehrer bestanden hatte, Texte und Melodien zu Karnevals-Liedern ein. Die Fernsehsendung „Mainz wie es singt und lacht“ machte Hammerle-Lieder — wie „Hier am Rhein geht die Sonne nicht unter“ und „Mir hawwe immer noch Dorscht“ — zu Schlagern. Zum nationalen Schlachtruf in Fußballstadien und bei allen lauten Festivitäten wurde „Humba, humba täterä“. „Bild“ wußte über Hämmerles Erfolg gar zu berichten: „In Afrika hatten deutsche Entwicklungshelfer Mühe, Eingeborene im Busch davon zu überzeugen, daß ‚Humba humba täterä‘ nicht die deutsche Nationalhymne ist.“ Unter den Mainzer Amateur-Karnevalisten war Toni Hämmerle der Spitzenverdiener: Allein das „Humba“-Lied brachte ihm 60 000 Mark an Tantiemen ein.

Also: es war natürlich die Bild-Zeitung, die das aufgebracht hat. Aber rund 20 Jahre später weiß das selbst der Spiegel nicht mehr und schreibt im Nachruf für Ernst Neger (23.01.89):

Den unsterblichen Ruhm errang der Besitzer von 1000 blechernen Karnevals-Orden und einer Gutenberg-Plakette jedoch weder mit „Rucki-Zucki“ noch „Babberlababberlabab“, sondern seinem 64er-Hit „Humba, humba, täterä“, der eine enthemmte Fernsehnation in Hysterie versetzte. Deutsche Entwicklungshelfer in Afrika mußten anschließend Aufklärungsarbeit besonderer Art leisten: Die Eingeborenen hielten den Song im stampfenden Rhythmus für die deutsche Nationalhymne. Ernst Neger starb am vorvergangenen Sonntag in Mainz.

 Woher ich das weiß? Ich bin den Quellenangaben bei Wikipedia nachgegangen, siehe hier. Siehe dort unter „Einzelnachweise“. Auch eine Zeile drüber findet man Sehenswertes: „Typisches Humba-Ritual im Fußballstadion“. Aber wohlgemerkt: ich referiere nur und bin nicht für Schmerzensgeld zuständig.

Gebrandmarkte

Bildnotizen zu Kirchen in Lemgo 19. Juli 2015

Lemgo St Marien Chor  Lemgo St Marien Nebeneingang

Lemgo Jude mit Spitzhut St. Marien, Lemgo

Erläuterung auf einer beigefügten Schrifttafel: Diese Figur aus der Bauzeit der Kirche (um 1313) ist ein Zeugnis mittelalterlichen Antijudaismus. Mit dem thronenden Christus am rechten Wandpfeiler bilden beide Figuren zusammen die personifizierte Darstellung der jüdischen und christlichen Religion: Synagoge und Ecclesia. Die Synagoge ist in der Person eines Juden mit Spitzhut (mittelalterliches diskriminierendes Bekleidungsmerkmal für Juden) zu erkennen. Sie hält ein aufrecht stehendes Schwein in Händen. Damit verhöhnt die Darstellung das dem Juden heilige Gesetz, das Gott seinem Volk durch Moses gegeben hat. Das Schwein gehört zu den unreinen Tieren (3. Mose 11,7), das weder gegessen noch im toten Zustand angerührt werden darf.

(Der Rest des Textes ist identisch mit den entsprechende Absätzen auf der unten wiedergegebenen Tafel.)

Lemgo Säule Jude & Jesus  Lemgo Jesus & Juden

Lemgo Tafel Jesus, Juden Passion

So wurden aus den beschämenden Selbstzeugnissen einer verwirrten Theologie gewissermaßen Gedenksteine. Zu sehen in der sehenswerten Kirche St. Marien. Sobald man die andere, schon in der Außenansicht spektakuläre Kirche St.Nicolai betritt und sich an die mystische Beleuchtung des Innenraums gewöhnt hat, fällt der Blick bald auf den tiefschwarzen Stein mit dem quer durchgeschlagenen Riss, der zunächst kaum auffällt, wie durch Blitzschlag hineingebrannt: ein Kainsmal . GOTT WIRD ENDLICH MEIN HAUPT AUFRICHTEN UND MICH WIEDER ZU EHREN SETZEN / ANDREAS KOCH, 1647 – 1665 Pfarrer an St. Nicolai.

Was ist ihm widerfahren?

Pfarrer Andreas Koch Riss (Bitte anklicken)

Man kann es kaum entziffern, ganz unten stehen die grausamen Fakten:

Pfarrer Andreas Koch Bio

Er ist hingerichtet worden, weil er sich gegen die Hexenprozesse gewandt hat, und zwar als sogenannter „Teufelsbündner“. Ein „Sympathisant“ der Gebrandmarkten? Ganz so einfach ist die Sachlage nicht: er hat den Glauben seiner Zeit durchaus geteilt, sein Ziel war nicht die Auflösung des Hexenwahns, – er wollte nur mehr Gerechtigkeit in das Verfahren bringen.

Die Lektüre des lutherischen Theologen und Erfurter Professors Johann Matthäus Meyfarth wird später ausdrücklich erwähnt, doch hat er möglicherweise auch die „Cautio Criminalis“ von Friedrich Spee gekannt. Wie diese beiden Autoren bestritt Andreas Koch nicht die Existenz von Hexen oder die Möglichkeit zu Schadenzauber, doch sah er wie sie die Gefahr, daß durch ein fragwürdiges Prozeßverfahren Unschuldige ihr Leben verlören. Damit stand er repräsentativ für die Lemgoer Oberschicht, die in der Prozeßwelle 1653-1656 erstmals nicht mehr bereit war, Beschuldigungen gegen ihre Familienangehörigen fraglos zu akzeptieren, und sich mit allen juristischen Mitteln dagegen wehrte.

Quelle  siehe HIER  (www.historicum.net).  In den historischen Details auch nachzulesen bei Wikipedia (Artikel Andreas Koch).

Lemgo St. Nicolai Bus  Lemgo St Nicolai fern St. Nicolai

(Handyfotos: JR)

In diesem Zusammenhang habe ich mich eines Buches erinnert, das mein Bruder 1955 von Verwandten aus Greifswald zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte; ich las damals viel Historisches (angefangen mit Quo Vadis) und so auch dies, das sich nachhaltig einprägte:

Hexen Bernsteinhexe 1 Wilhelm Meinhold