Was soll denn daran unlösbar sein? Jeder Mensch hat Rhythmus.
Das Problem ist die Beschreibung, die Einordnung, die Verallgemeinerung. Ich kann durch zahllose Länder gereist sein, von Nord nach Süd, von West nach Ost, bergauf, bergab und querfeldein, aber sobald ich eine Karte anlegen soll, die für künftige Reisen und andere Menschen brauchbar ist, habe ich ein Problem. Ich habe keine Übersicht. Ein Atlas muss her, ein genaues Verzeichnis usw.; als Reisender bin ich heute natürlich in der glücklichen Lage, all dies in gedruckter Form vorzufinden und mir reich bebilderte Reisebeschreibungen, Skizzen, Hilfsmittel aller Art zuzulegen.
In der Musik aber gibt es wenige Ansätze zur Schaffung brauchbarer Atlanten, – der entscheidende Punkt: die Ungreifbarkeit der (nur) klingenden Areale -, noch weniger in der Unterabteilung Rhythmus, weil jeder zu wissen oder zu fühlen glaubt, was „Rhythmus“ ist. Und doch hat kaum einer mehr als eine Handvoll Rhythmen im Sinn. Dieses Buch ist der erste „Atlas“ seiner Art, das gigantische Unternehmen eines einzelnen Forschers, der um seine Einzigartigkeit weiß:
Dem Autor wäre es möglich, seitenweise über die Insuffizienz der Musikwissenschaft in Sachen Rhythmus zu schreiben … (S.119)
Die große Frage: wird er auch Leser finden, die ihn verstehen und sein Ordnungssystem gedanklich nachvollziehen, und die es dann auch mit den Ohren umzusetzen vermögen? Vorausgesetzt ist eine unstillbare Neugier, ein Wille das zu verstehen, von dem jeder sagt: da ist nichts zu verstehen, du musst es fühlen. Den Rhythmus, den hat man im Blut! Und fertig!
Es ist aber wie mit Sprachwissenschaft. Wer schon einmal etwas über Linguistik gehört hat, z.B. von Noam Chomsky, der wird nicht sagen: Es genügt, eine Sprache (oder mehrere) zu sprechen und zu verstehen. Alles andere ist doch Erbsenzählerei. Mitnichten, – selbst der Laie vergleicht Sprachen und Ausdrucksweisen. Denk-Stile.
Zweifellos werden viele Leute dieses Buch aufschlagen, durchblättern und sagen: 2 Drittel davon sind ungenießbar, bloße Listen (Seite 121 – 357). Die anderen aber wissen, dass es die unverzichtbaren Belege für die atemberaubende Stringenz des Textteils sind. Einziger Nachteil: auch diese Stringenz klingt nicht, und es gibt nicht das kleinste Notenbeispiel, nur diese Reihen aus römischer Eins, x und Punkt. Das vielleicht unerfüllbare Desiderat der Zukunft: eine riesige Datenband, die alle aufgelisteten Musikstücke und jeden erwähnten Rhythmus per Mausklick hörbar macht, d.h. greifbar und begreifbar.
www.allitera.de ISBN978-3-86906-770-4 Leseprobe incl. Vorwort
Aus absolut selbstbezogenen Gründen löse ich aus dem Vorwort (das vom WDR-Redakteur Bernd Hoffmann stammt) einen bestimmten Abschnitt heraus, womit auch betont sei, dass ich in Sachen dieser Buchempfehlung äußerst befangen bin:
Die Abteilung Volksmusik, von der hier die Rede ist, ging auf eine Vorform der 50er/60er Jahre zurück, die erst seit 1970 begann, konsequent über das „Areal“ der bearbeiteten deutschen Volks- und Chormusik hinauszuschauen. Mitte der 90er Jahre wurde sie konsequenterweise in Redaktion Musikkulturen umbenannt, als die sie heute noch existiert. Das vorliegende Buch wurde mir am 5. August überreicht, als ich bei meinem Mitarbeiter und Nachfolger (seit 2006) Dr. Werner Fuhr den wahrscheinlich letzten WDR-Beitrag meines Lebens produziert hatte (Sendetermin 13. Oktober 2015 Soundworld WDR 3 Thema Afghanistan 1974, Autor Bernhard Hanneken). Was danach aus unserem – so kann man wohl sagen – Lebenswerk wird, werden wir – aus dem angeblichen Ruhestand, in dem wir uns dann beide befinden – wohl noch eine Weile interessiert beobachten.
Ich werde mir einen eigenen Zugang zu diesem Buch schaffen, indem ich es mit Themen verbinde, die mich ohnehin wieder beschäftigen. Die afghanischen Rhythmen haben mich damals gehindert, meine Notationen fortzusetzen, die ich recht eifrig betrieben hatte. Ich war mir nicht sicher und vermisse auch jetzt die Behandlung eines wiederkehrenden Problems, das vielleicht gar keins ist: die „verzogenen“ Rhythmen, deren Charakteristikum darin liegt, den Elementarpuls an einer bestimmten Stelle zu dehnen oder zu stauchen. Musterbeispiel: der „bulgarische Rhythmus“ bei Bartók (Mikrokosmos IV): jeder Klavierlehrer hält seine Schüler an, die 7 Achtel alle gleich zu spielen 1 2 1 2 1 2 3 / 1 2 1 2 1 2 3 etc. und nicht etwa die letzte 123-Gruppe als Triole. Bartók selbst aber spielte sie tatsächlich minimal „zusammengefasst“! So hat er es bei den Volksmusikern gelernt!
Maximilian Hendler hat einige Stücke unserer Afghanistan-CD rhythmisch präzise bezeichnet; ich werde sie daraufhin untersuchen, eventuell unter Zuhilfenahme meiner geliebten Notenschrift. (Ich liebe sie trotz irreführender Suggestionen – die man einkalkulieren kann -, allein wegen ihrer heuristischen Funktion. Die ethnographischen Einwände sind mir bekannt.)
Hier also der Blick in Hendlers Liste; die Stücke, die mir vertraut sind, habe ich durch einen blauen Pfeil gekennzeichnet.
Es handelt sich um die Tracks 1, 2, [5],6, [7], 10, 11,17 der CD, die hier abgebildet ist. Tr. 5 „Farkhari-Lied“ steht auf der vorhergehenden Seite, Tr. 7 „Meine Geliebte geht im Garten“ folgt auf der nächsten Seite der Hendler-Liste.
9. August 2015
Es hat mich nicht losgelassen: der gestrige Tag begann mit afghanischen Reminiszenzen (Fotos sichten) und endete mit einem überlangen Fest unter Freunden und Nachbarn in der Wipperaue, wobei ich viel an Afghanistan gedacht habe. Aber erst heute kam ich auf die Idee, in alten Aktenordnern zu suchen (habe ich nicht damals Transkriptionen angefertigt? sozusagen als Vorübung für die Afghanistan-Reise 1974, also wahrscheinlich ab Ende 1973, die Blätter sind undatiert). Den stärksten Eindruck hatten im Vorfeld zwei Lyrichord-Schallplatten gemacht. Idee: hat Max Hendler sie auch untersucht? Natürlich! man schaue auf die Liste oben rechts unter Afghanistan-Tadschiken: 0722-B/6 „Ghichak and Zerbaghali“ – und am Ende der Zeile steht die Rhythmus-Formel!!! Formzahl 7 !!! Und genau dieses Stück habe ich damals notiert und habe es noch nicht als das „Farkhari-Lied“ erkannt, das mir in Mazar-e-Sherif so oft begegnen sollte: Ghichak bzw. Ghitchak (spr. Rittschack) ist das Streichinstrument, Zerbaghali (spr. Serbaraali) die Trommel. Der Ghitchakspieler ist es, der auch singt. Das große Notenblatt musste ich hier im Scan mittig teilen, man lese also in jeder Zeile vom linken Halbblatt aufs rechte. Achtung: in der Mitte ist eine winzige Verdopplung zurückgeblieben.
Immerhin, – das vermag die verpönte Notenschrift: ich habe das Lied auf Anhieb wiedererkannt.Und wer Noten lesen kann, wird es auch einigermaßen nachvollziehen können, wenn er die neuere Network-CD-Aufnahme Tr. 6 „Farkhari-Lied“ dagegenhält (bei Hendler unter Afghanistan-Badakhshan aufgelistet, weil die Sänger aus Badakhshan stammen). Die heutige Rhythmus-Problematik war mir damals durchaus nicht fremd, wie die selbstkritische Bemerkung zeigt, die ich hier noch zur besseren Lesbarkeit vergrößere:
Und zu guter Letzt folgt die Quellenangabe von der Rückseite des Notenblattes:
Ich glaube, allein Maximilian Hendler kann ermessen, welchen Anteil der vor Jahrzehnten beiseite gelegten Arbeit er mir nun mittels seines neuen Buches erneut auflädt, zudem mit der latenten Forderung, sie in einen neuen, weltweiten Zusammenhang zu stellen. Warum? Weil er sein Buch nun einmal als „Atlas der additiven Rhythmik“ bezeichnet hat, und da steht man ungern da mit einem Einzelrhythmus in der Hand und sagt: jaja, [2+2+3], den hätte ich schon mal, den kann mir keiner mehr wegdiskutieren.
Und man glaube nicht, dass es übersichtlicher wird, wenn wir nun auch die Melodie mit in die Betrachtung einbeziehen. Oder doch – zunächst schon:
Die bisherige Darstellung impliziert, dass sich der Beginn der Melodie mit der 1 einer Elementarzahl deckt. Diese Regel gilt allerdings nicht für alle Subareale der additiven Rhythmik in gleichem Ausmaß. Vor allem hinsichtlich der balkanischen und orientalischen Musik kann endlos darüber gestritten werden, ob das, was die Europäer eine „Melodie“ -eine horizontale, nachsingbare musikalische Einheit – nennen, eine melische Realisierung rhythmischer Formeln oder eine rhythmische Realisierung eines Maqams (= einer modalen Struktur) ist. De facto verhält es sich jedenfalls so, dass in dieser Großregion Modus und Rhythmus zusammentreten müssen, um eine als „Melodie“ zu empfindende Einheit zu ergeben. Ausnahmen von dieser Regel sind sehr selten.
Dieser Tatbestand ändert sich, wenn Afrika südlich der Sahara und Lateinamerika ins Auge gefasst werden.
Quelle Maximilian Hendler a.a.O. Seite 25 („Anmerkung 3: Wo ist die 1 ?“)
Man kann also nicht mehr umhin, weit mehr ins Auge zu fassen als das, was einem zuvor eher „zufällig“ begegnete. Jedenfalls nicht mehr, wenn man einmal mit diesem Atlas in der Hand durch die imaginäre Welt der rhythmischen Ordnungen gereist ist.
Zum Abschied (für heute) folge hier die Formel, die Hendler dem „Farkhari-Lied“ zuteilt:
(Von wegen Abschied: da geht mir ein Licht auf, und wieder sitze ich hier mit einem Riesenproblem. Ist es möglich, dass ein und dasselbe Lied in rhythmischer Hinsicht einmal mit dieser Formel und einmal mit jener zu charakterisieren ist?* — Aber darüber diskutiere ich ausschließlich mit Max, der beide Klangquellen kennt – und noch einige Zehntausend mehr…)
* Vielleicht kann ich selbst die Frage beantworten: die präzise Formel ergibt sich nicht aus dem Lied, der Melodie, sondern aus der Begleitung, deren Rhythmus – je nach Begleiter – unterschiedlich gegliedert sein kann. Fest steht in diesem Fall eben nur die Formzahl 7.