Archiv der Kategorie: Alte Musik

Mediterranes Licht oder dunkles Mittelalter?

Musikalische Sequenzen, unauslöschlich

Sequentia – die gesamte Aufnahme hier – nicht zu vergessen Barbara Thornton (1950-1998)

Maria Moramarco: CD Stella ariènte

Für mich bedeutet diese Musik: die Zeitspanne von 1976 bis 2021.

Sie wissen vielleicht: das Thema an sich ist hier nicht neu.

Ich denke zurück an die ersten Begegnungen (Benjamin Bagby 1977?), lange Gespräche, ca. 25 Fotos, die ich entwickeln und vergrößern ließ: Miniaturen aus den Cantigas de Santa Maria, die ich später Dr. Krings zeigte, der ausrief: „Ach was sind das für arme Menschen…“  (ich wunderte mich) „… die diese Bilder noch nicht kennen!“ Grünes Licht also für Sequentia. Eine erste WDR- Produktion wurde angesetzt, drei Cantigas im Römerkeller Köln – für die Abteilung Volksmusik (nicht Alte Musik). Denkwürdig: anwesend (und in einem Rondogesang) mitwirkend: Kevin Volans . (Er produzierte erste Sendungen für uns über Zulu-Musik, „Prinzessin Magogo“.) Zu unseren gemeinsamen Themen gehörte die arabisch-andalusische Musik, König Alfons der Weise von Kastilien und Leon, die Idee einer Begegnung mit arabischen Musikern, der Nachbau einer frühen spanisch-maurischen Laute (wirklich realisiert von einem Luthier in Brüssel). Es war die Zeit, als entsprechende Sendungen im WDR willkommen waren (ich wurde 1976 als Redakteur festangestellt, seit 1969 freier Mitarbeiter, beginnend mit der Sendung „Am Fuße des Libanon“).

Ali Sriti, Benjamin Bagby, Barbara Thornton, ach, wieviele tonale Landschaften in unterschiedlichstem Licht…

(Foto: Mauritz Ägypten April 2021)

Ali Sriti S.2

Mein Gott, was für eine Zeit, als man noch im Radio über „ein Viertelton erniedrigte Intervalle“  reden konnte! (1973 WDR-Aufnahmen in Tunis, siehe hier).

Schon wieder Bach

L. Kavakos und F. P. Zimmermann

Rheinische Post Düsseldorf 9. April 2022

Ich bin etwas spät dran. Das interessiert mich natürlich, bei aller Bewunderung für den Geiger Leonidas Kavakos habe ich mich von seinem Solissimo-Bach ganz vorsichtig distanziert (siehe hier). Jetzt aber musste ich mir eilends die von Frank Peter Zimmermann eingespielte CD bestellen (ich warte). Gegen inneren Widerstand werde ich sogar den Klang der Stradivaris vergleichen, obwohl ich die Provenienz der Geigen im Fall Bach für völlig unwichtig halte. Nicht der Ton entscheidet die Interpretation, sondern die Gesamtheit der Töne. Jedenfalls: von einem Duell zweier Stradivaris kann keine Rede sein! Immer wieder diese Sucht, eine Konfrontation zu konstruieren, wo es um bloßes Verstehen (Verständnis, ja, Einfühlung) ginge. In einer Rezension fände ich zunächst einmal angemessen, die Titel der Stücke bzw. die Bezeichnung als Sonata oder Partita ernstzunehmen, siehe gleich in den ersten oben wiedergegebenen Zeilen: in a-Moll geht es zweifellos um eine Sonate, in E-Dur dagegen zweifellos um eine Partita. Einfach zu erkennen: mit Fuga = Sonata, mit Tänzen = Partita. In d-Moll (von Allemanda bis Ciaccona) lauter Tanzformen, also korrekt „Partita“ oder sogar „Partia“, wie es bei Bach steht. Soviel Zeit muss sein. Auch wenn man als Geiger oft etwas salopp von Bachs „Solosonaten“ spricht und damit die „Sonaten und Partiten“ meint oder – mit Bachs Worten – alle „Sei Solo“ …

Zum Reinhören → jpc hier

Zum direkten Vergleich (Kavakos) → → → jpc hier

Bewerten Sie nicht, registrieren Sie nur: kann man bei soviel Hall-Anteil (Kavakos) überhaupt den Klang einer Geige beurteilen? Je nach Raum-Anteil verändert er sich – zumindest subjektiv – für das hörende Ohr enorm. Es kann nur also um Tempowahl, Phrasierung u.dgl. gehen. Abphrasierung (A-moll-Fuge) der Themen-Einsätze, eingestreute Atempausen oder striktes  Tempo (Beat)? Modellierung der Dynamik?

Allerdings, – ein fairer Vergleich ist auf diese Weise kaum möglich, da die kleinen Kostproben nicht die gleichen Ausschnitte wiedergeben: bei Zimmermann immer die Anfänge, bei Kavakos jeweils mitten im Stück. Vor allem aber: Kavakos hat die Geige einen Ton tiefer eingestimmt („alte Stimmung“), d.h. seine E-dur-Partita hören wir im Anschluss an Zimmermann in D-dur. Im übrigen sind seine „Kostproben“ technisch leicht übersteuert (einfach schlecht kopiert).

Endlich:

Donnerstag 12.5.22, 18 Uhr:  Die Version mit Frank Peter Zimmermann ist angekommen, und die Wirkung ist frappierend. Ich beginne mit E-dur. Tonlich (und aufnahmetechnisch) so zurückgenommen, dass man es kaum glauben will. Ein E-dur-Preludio, fast möchte man sagen: durchweg im Pianobereich, nirgendwo die virtuose Siegerpose, – hier stehe ich mit meiner Stradivari und zeig es euch! -,  stattdessen ein Glanz von innen, ein Vexierspiel von Akkorden und Läufen, überall durchsichtig, man ist verblüfft, wenn es (leider) schon vorbei ist. Die Loure um so lieblicher, überquellend von Liebenswürdigkeit und Grazie, ein Tanz, den Bach nur wenige Male in seinem Leben komponiert hat, vielleicht weil nur die Franzosen ihn erfüllen konnten, und er, Bach, an anderer Stelle wohl nur noch in der Französischen Suite G-dur, – zweimal einzigartig. Gewöhnungsbedürftig dagegen für mich: die Wiederholungsteile mit ihren variierenden Protuberanzen, warum nur? Ja, er kann das auch, wie die historisch Informierten, und vielleicht will man es eines Tages auch nicht mehr entbehren. Ich werde es wohl im Zusammenhang noch oft hören. Und mit unausweichlichem Vergnügen.

Eine andere Überraschung sei hier schon angedeutete: ein Booklettext, den es zu lesen lohnt, ich weiß nicht, wo ich das schon mal erlebt habe: keine Mystifizierung und keine Plattitüden, Signifikantes zum Hörverhalten, auch wenn man glaubt, die Kompositionstechniken seit langem zu kennen, selten wird es so präzise, einfach und so neu gesagt:

Es ist dieses Ineinandergreifen der Dimensionen der Melodik, der Rhythmik, der Harmonik und der Kontrapunktik, welche den Sei Soli spürbar Ausgewogenheit, Vielschichtigkeit und strukturelle Offenheit gewähren. Am deutlichsten tritt diese Verknüpfung der komplementären Dimensionen in den Fugen der drei Sonaten hervor. Dabei offenbart sich ein wesentlicher Grundzug des gesamten Bach’schen Komponierens. Seine subtile Balance zwischen den diversen Komponenten des Klangsatzes führt dazu, dass Töne, welche auf der einen Ebene bloß schmückende Funktion besitzen, auf einer anderen durchaus zu unverzichtbaren Elementen werden, dass also Strukturelles und Ornamentales in ein komplexes dialektisches Verhältnis zueinander treten.

Genau so ist es (und so wird es auch in der dritten Sonate sein, der in C-dur, die uns noch auf einer weiteren CD bevorsteht, mit der großartigsten Fuge, die je geschrieben wurde). Diese CD beginnt mit dem überwältigenden A-moll-Satz der Trauer – „Grave“ – der dem Adagio in G-moll, dem Portal der 6 Werke, so merkwürdig ähnlich ist – mit den drei zur Fuge überleitenden Schlusstakten, überzeugend, wenn auch mit der konventionellen Gestalt des Sexten-Trillers, der zu einem Bogen-Vibrato einlädt. Die Fuge mit dreimal präsentiertem Thema, dreimal mit einer Kunstpause vorweg, als gelte es Matthesons Wort des Staunens zu illustrieren:

Wer sollte wohl dencken, daß diese acht kurtze Noten (…) so fruchtbar wären, einen Contrapunctus [=Fuge] von mehr, als einem gantzen Bogen [= fast 4 Seiten], ohne sonderbarer Ausdehnung, gantz natürlich hervorzubringen?

Tatsächlich spielt FPZ diese 7 Minuten lange Fuge mit einer faszinierenden Natürlichkeit, im stetig dahingleitenden Tempo, mit winzigen agogischen Anpassungen an die Gliederungskadenzen der Großform. Ein Wunder, gerade wenn man etwas ahnt von den Griff-Problemen der linken Hand, verbunden mit der Schwierigkeit, die Brechungen der vierstimmigen Akkorde bogentechnisch elegant zu meistern. Ein Wunder ist auch der leichter überschaubare dritte Satz, das Andante, ein Traum, dessen makellose melodische Linie durch einen gleichmäßig getupften „Bass“ begleitet und getragen wird, die Illusion der zwei oder sogar drei Stimmen auf dem eng begrenzten Raum des Melodieinstruments, das ist vollkommen, der Raum öffnet sich. Das abschließende Allegro durcheilt ihn in alle Richtungen, lotet ihn aus, nach Höhe und Breite und in den Diagonalen; trotzdem kein Virtuosenstück, schon die feinen Echowirkungen signalisieren Zeit und freie Entfaltung. Wie die Fuge, die auch durch solche stehenden Echo-Takte, durch ausgespannte Dreiklangsgirlanden, und immer wieder durch die gleichförmig gestalteten Sequenzen der Zwischenspiele für weite, formbildende Ausblicke sorgt.

Die Ciaconna

Die Wirkung ist enorm, was eigentlich erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass man diese Wirkung seit ungefähr 60 Jahren kennt (auch wenn ich in den Anfängen glaubte, es sei so ähnlich wie mit der Vitali-Chaconne). Sobald ich heute darüber nachdenke, fällt mir immer als erstes Janine Jansen ein, – und ich habe der Neigung widerstanden, jetzt ihre Aufnahme „zum Vergleich“ zu hören. Es kann nicht darum gehen, wie ergriffen ich bin und wo am meisten. Ich werde mich hier auf ein paar Besonderheiten konzentrieren und ansonsten genau diese Zimmermann-Aufnahme als unüberbietbar in Erinnerung behalten. Zunächst aber habe ich nicht genau erkennen können, ob er den Sarabanden-Rhythmus überall mit Doppelt-Punktierung spielt, oder ein Mittelding wählt, am Anfang schärfer punktierend als – vom Dur-Teil geläutert –  am Ende. Was diesen Abschnitt so wunderbar macht, ist die Tatsache, dass Zimmermann hier einfach nichts macht, außer schön spielen. Wie weich er Akkorde relisiert, wenn es von der Zwei- zur Dreistimmigkeit übergeht, und wie er in dem darauffolgenden 16tel- Abschnitt die Fanfaren-Töne herausarbeitet, in einer milden Steigerung, zuerst wie aus der Ferne, dann immer mächtiger. Irgendwie liegt es in der Logik des Aufbaus, im Arpeggio-Teil, der in die Wiederkehr des tragischen Tonfalls von D-Moll mündet, alle artistischen Ambitionen zu entfesseln und auch noch ornamentale Blitzlichter einzubauen, es wird mich bei wiederholtem Hören gewiss mehr begeistern. Übrigens auch die geringfügige, aber suggestive, ja zwingende Temposteigerung im letzten Teil vor der abschließenden Themen-Apotheose – es ist überwältigend – gerade darin auch die Idee, es nicht zu weit zu treiben, auf dem Cis der verminderten Septakkordes im drittletzten Takt ein Piano-„Memento“ zu setzen, keinen Schlusstriller zu ergänzen, sondern eine leere Quinte zu präsentieren, dieselbe wir vorher im Ausklang des Dur-Themas. Und ein Schlusston, der die Verdopplung des Tones D nicht benutzt, um die Stradivari aufblühen zu lassen… Unspektakulär wie in Bachs Handschrift. Mehr kann nicht gesagt werden, und es ist deshalb auch noch nicht ALLES gesagt.

Ob es wirklich etwas zu bedeuten hat oder nicht: Man sieht unwillkürlich den hintergründigen Zusammenhang des verminderten Cis-Akkordes in der dritten Zeile mit dem am Ende der sechsten Zeile:  ………………..  ⇓

(Fortsetzung folgt)

Themen vereinfachen

Ernste oder sogar schwere Musik

Wenn man – wie ich – viele Jahre als Journalist gearbeitet hat, der Musik zu vermitteln versuchte, also solche, die einer Vermittlung bedurfte, hat viele Vorurteile zu bedenken. Zum Beispiel, dass es Leute gibt, die sich allzuleicht unterschätzt fühlen. Dann darf man durchblicken lassen: ich selber hab’s nötig, ich übe selbst und will niemanden belehren! Auch nicht, wenn ich unterstelle, dass die allzuviele denken: Musik hat nichts mit Denken zu tun, sie gefällt einem oder sie gefällt einem nicht. Niemand würde einräumen: ich habe nie zuhören gelernt. Da kann man noch so sehr beteuern, dass es bei Musik nicht viel anders sei als bei einer Sprache. Wenn jemand mir sagt: ich liebe den Klang der portugiesischen Sprache, und ich bitte darum, mir eine Fado-Strophe zu übersetzen, so wird man mir sofort genau das entgegenhalten, – was ich auch einwenden würde, wenn es um Musik geht – das Verständnis liegt nicht auf der Hand und kommt erst recht nicht „aus dem Bauch“! Der Gehörgang ist wie ein Nadelöhr. Da genügt allerdings kein (Leit-)Faden, man muss die Worte kennen, auch die Grammatik und die Redewendungen. Und das klingt schon verdächtig nach Arbeit! Womit Musik angeblich nichts zu tun hat. Ist Hören denn keine Tätigkeit? Singen, Klavierspielen, Noten lernen, – verbraucht alldies keine Energien? (Man wirbt neuerdings gerade bei Klassik mit dem Versprechen von Entspannung. Die Seele baumeln lassen! Im Ernst!) Übrigens: ich spreche nicht von Pädagogik, sondern von Lernprozessen erwachsener Menschen. Mündigen Menschen, die bereit sind zu denken. Im ganz normalen Leben.

Sieht so ein Denker aus? Wissen Sie, wer da Modell gesessen hat? Der „französische Preisboxer und Ringer Jean Baud, der meist im Rotlichtmilieu auftrat.“ (Wikipedia) Was hat sich Rodin dabei gedacht?

Also: wenn ich es den Adressaten zu einfach mache mit der Musik, sind sie auch beleidigt: Wenn ich z.B. nichts von indischer Mystik und tiefen meditativen Erfahrungen erzählen kann, sondern sage: zunächst mal musst du den einen unveränderlichen Grundton wahrnehmen, „für wahr“ nehmen und genau so akzeptieren, wie den ebenen Fußboden im Tanzsaal, das ist die Voraussetzung alles dessen, was an Wundern geschieht. Nein, du kannst nicht mit dem Wunder beginnen. Am besten, du verzichtest ganz darauf. Du brauchst nur den einen Ton, und irgendwann irgendwo, in weiter Ferne, gibt es einen zweiten, ein weiteres Wunder. Aber der eine Ton ist schwer genug, ihn zu singen oder zu spielen, ihn zu gestalten und zu ertragen.

Die Leute fühlen sich nicht ernst genommen. Wie die Kinder, – wenn sie laufen gelernt haben, – sie wollen nach kurzer Zeit nicht mehr dafür gelobt werden, dass sie laufen können. Es ist langweilig. Sie wollen einfach irgendwohin.

Ich denke viel an meine Eltern, eine typische Alterserscheinung, nicht wahr? Aber das geht anderen auch so, die viel jünger sind als ich. Ich lese z.B. ein Buch der Musik mit dem Titel „Flammen“ , es betrifft die Zeit von 1900 bis 1918, in der mein Vater heranwuchs; und ein anderes, „Liebe in Zeiten des Hasses“ , 1929 bis 1939, da lernte er meine 13 Jahre jüngere (spätere) Mutter kennen und lieben. Zum Glück hatte er seine Kapellmeisterlaufbahn aufgegeben und ein solides Studium absolviert, das ihn zum Studienassessor machte, ein respektables Wort, das nur wenige Menschen behalten konnten.

Später gab es einen Familienmythos, warum er nicht weiter als Dirigent reüssierte: in Stralsund, Lübeck oder Bielefeld, 20er Jahre, damals – erzählte meine Mutter – kam der Tonfilm auf, das ruinierte die Laufbahn. Der Witz ist nur: wenn man zurückdenkt, – revidiert – , findet man überall solche Mythen, private und kollektive.

Eine bekannte Wissenschaftlerin, Mai Thi Nguyen-Kim, Chemikerin von Haus aus, die für ihre erhellenden journalistischen Arbeiten ausgezeichnet wurde, sagte einmal,

„dass die ganze Pandemie dem Vertrauen und dem Verständnis in die Wissenschaft eher geschadet hat als genützt“. Der grelle Scheinwerfer der Aufmerksamkeit habe bei vielen Menschen nur die Illusion erzeugt, etwas zu verstehen: Man glaube, man kenne sich aus, tue es aber nicht, sagte Nguyen-Kim. „Das ist noch gefährlicher, als wenn man wenigstens weiß, mit Wissenschaft habe ich nichts zu tun.“

Wie spricht die Wissenschaft? briefly and succinctly („kurz und bündig“)

DIE ZEIT (s.u.)

Quelle: hier Wikipedia Fauci

Warum also?

DIE ZEIT 21.04.22 Seite 31: Was Experten lernen müssen Ihr Wissen ist gefragter denn je, doch sie dringen nicht durch. Deshalb sollten sie anders kommunizieren als bisher / Von Maximilian Probst und Ulrich Schnabel

Hinter der optimistischen Rede von der Vereinfachung steckt – das entnehme ich diesem ZEIT-Artikel –

die alte, idealistische Hypothese, dass es zur Förderung der Vernunft nur entsprechende Erklärungen brauche, dass sich der »zwanglose Zwang des besseren Arguments« (Jürgen Habermas) am Ende wie von selbst Gehör verschaffe. Doch diese Annahme ist naiv. Denn ausgerechnet die Wissenschaft selbst hat in den vergangenen Jahren ein ums andere Mal belegt, dass Menschen ihre Urteile und Ansichten von der Welt gar nicht auf der Basis einer gesicherten Faktenlage und guter Argumente bilden. Statt an der Vernunft orientieren sie sich lieber an ihrem Umfeld, an dem, was ihre moralischen oder religiösen Überzeugungen nahelegen, oder schlicht an ihrem »Bauchgefühl«. Wer also mehr Wissenschaftskommunikation fordert, sollte sich zuerst einma mit der Sozialpsychologie beschäftigen.

Ich bin in Sorge, dass Sie mir angesichts so einfacher Tatsachenbehauptungen (und länglicher Fachworte) schon nicht mehr zuhören, daher nur noch der Verweis auf die in der ZEIT angegebenen Forschungen (beginnend mit den Sozialpsychologen Albert Hastorf und Hadley Cantril am Beispiel eines legendären Footballspiels aus dem Jahre 1951).

Mein persönliches Beispiel des Scheiterns ist der Philosoph Hegel (nicht er!!! – das hätten Sie vielleicht der Einfachheit halber gehofft, nicht er scheiterte, sondern ich an ihm).

Als ich gestern gegen 17.30 h im Taxi fuhr, um mein Auto aus der Werkstatt am andern Ende der Stadt abzuholen, drehte der Fahrer das Radio lauter: ich dachte, es sei was Türkisches, las aber auf dem Display RSG (Radio Solingen) Shakira „Underneath your Cloathes“ und unterließ ein weiteres Gespräch, weil ich nicht wusste, ob er den Titel kennt und deshalb lauter gestellt hatte. Oder nur, weil unser Thema nichts hergab. Aus irgendeinem Grund suchte ich jedenfalls abends Shakira auf youtube, genauer: ich wollte wissen, aus welcher Sicht der Song gendertechnisch gemeint war, ich wollte es mir nicht zu einfach machen. Aber doch, es war ganz einfach. Über 72 Millionen Aufrufe, so viele Menschen können nicht irren, oder? Ich erinnere mich an eine Talkshow, in der ein kluger Mann – wenn auch als Laie – über Musik , speziell über Wagner sprach, und ich war erschüttert. (Wenn das so geht, dann darf ich auch über Hegel reden!)

Noch etwas entnehme ich dem oben angeführten ZEIT-Artikel:

Entscheidend für die richtige Kommunikation ist auch die Unterscheidung des »schnellen« und des »langsamen Denkens«, die wir dem Kognitionspsychologen Daniel Kahnemann verdanken. Das schnelle Denksystem ist intuitiv, automatisch und gefühlsgesteuert, das andere hingegen rational, gründlich und eher anstrengend. Wissenschaftler apellieren fast ausnahmslos an das zweite, »langsame« Denksystem; schließlich entspricht dies genau ihrer Methodik mit Messungen, Theorien und Diskussionen, aus denen sich allmählich ein Konsens herausschält.

Im Alltag hingegen agieren die meisten Menschen im schnellen Denkmodus. Weil wir oft zu wenig Zeit haben, um alle Informationen sorgfältig abzuwägen, verlassen wir uns auf Heuristiken, gedankliche Faustregeln: Aussage, die wir zuvor schon einmal gehört haben, halten wir für glaubhafter als neue (weshalb oft wiederholte Fake News wirken); wir wählen Nachrichten unbewusst so aus, dass sie unsere vorgefassten Meinungen bestätigen – aber halten uns bei all dem selbst für vollkommen objektiv und unbeeinflusst.

Es gibt noch einiges an Stoff, was sich aus dem Artikel lernen lässt, z.B. über das Gegenmodell des „echten Dialogs“, doch ich knüpfe an die Schwierigkeit mit Hegel an, bzw. an unseren Solinger Zeitgenossen, der in der Tat ein Meister der klaren Sprache ist, und vielleicht deshalb auch so ratlos reagiert, wenn es um emotional komplexere Musik geht.

Richard David Precht, der öffentlich zugibt, er sei mit Hegel nie warm geworden, wirft den zeitgenössischen Philosophen vor, sie betrieben bei Hegel eine „Altbausanierung des Geistes“. „Es gibt in Deutschland nur eine Handvoll Philosophen, die sich intensiv mit KI [sc. Künstlicher Intelligenz] beschäftigen, und ungefähr sieben bis achtmal so viele, die sich mit Hegel beschäftigen.“ Nun ist es wenig verwunderlich, dass ein Verbote-Enthusiast wie Precht mit kritisch-dialektischem Denken und emphatischem Freiheitsbewusstsein vom Schlage eines Hegel wenig anfangen kann. Dennoch hat er in einem Punkt recht, zumindest was die deutsche Hegelianer-Szene angeht. In der Tat wird dort oft philosophische Altbausanierung betrieben.

In diesem Abschnitt gab es einen kleinen Internethinweis, der realisiert werden kann:

https://www.youtube.com/watch?v=T0EfC3ocAdI HIER

Es ist übrigens kein Digital- oder KI-Muffel, der so schreibt, wie eben zitiert. Die zweite Hälfte seines schmalen, aber höchst anregenden Buches dreht sich um die Antinomie künstlicher Vernunft, Big Data und Überwachungskapitalismus, – hier und da steige ich aus, aber man kann immer wieder aufs neue Anlauf nehmen und sich eines wachsenden Durchblicks erfreuen. Ich glaube, auch den Versuch meines Artikels „Herr und Knecht“ könnte ich heute ganz anders fassen. Dank Alexander Schubert.

Übrigens habe ich den Verdacht, dass Richard David Precht sich nicht um ein angemessenes Hegel-Verständnis bemüht hat, – aber ich besitze weder seine Geschichte der Philosophie, noch habe ich vor sie zu lesen, es sieht mir zu einfach aus, – obwohl ich ihn, wenn ich ihn reden höre, durchaus überzeugend finde – aber meine Hochachtung vor Hegel beruht auf anderen Erfahrungen, die ich etwa bei Adorno (Musik!) „gespürt“ habe: ich weiß, dass es nicht um gute Worte und „common sense“ geht. Und  wenn ich den süffigen Ausdruck „Altbausanierung des Geistes“ höre, weiß ich, dass man bei Precht nicht an der richtigen Adresse ist. Allerdings bin ich auch von den Hegel-Philosophen etwas enttäuscht. Sie helfen mir nicht, wenn ich zum wiederholten Male ratlos in der „Phänomenologie des Geistes “ blättere, weil ich im ersten Teil steckengeblieben bin, und dann stoße ich zufällig auf das Kapitel von der „Schädellehre“ und glaube zu verstehen, wovon die Rede ist und will es nicht glauben:

Und warum hilft mir da niemand, wie im Fall Lavater / Goethe ? Das war 1774 und etwas später, mit Hegel sind wir am Anfang des 19. Jahrhunderts, wir können also nicht die heute allgemein präsente physiologische Wissenschaft voraussetzen. Aber eine Vorwarnung vonseiten der Hegelianer wäre doch angemessen: Zwar war Hegel ein gewaltiger Denker, aber trotzdem kein Stellvertreter des wissenschaftlichen Weltgeistes. Bei Vieweg (siehe im Blog hier) sehe ich den quasi zufälligen Hinweis auf „unangemessen breite Darstellungen“, neben „dunklen und unausgereiften Passagen“, etwa im Fall des ›metaphysischen Epirismus‹ in der Naturforschung (Vieweg S.265):

Auch biographische Episoden nehmen Einfluss wie der Besuch des Schädellehrers Gall in Weimar und Jena sowie die Präsenz von Froerup, eines Adepten der ›Schädellehre‹. Mitunter gingen Hegel die Pferde durch, etwa in der peinlichen Anspielung auf Novalis‘ Erkranken an der Schwindsucht.

Wie kann es sein, dass ich eher zufällig bei einem Hegelianer auf Seite 215 auf den erlösenden Satz zur Qualität der Schädellehre (Phrenologie) stoße???

Unter dem Lemma [Stichwort] der »beobachtenden Vernunft« diskutiert Hegel nicht allein die Perspektive der modernen Naturwissenschaften, die zwar weiß, dass es ihre Aktivität ist, die die Befragung der Natur ermöglicht, diese allerdings als etwas bloß Vorhandenes begreift. Vielmehr diskutiert er auch obsolete Positionen wir die Phrenologie, die mit ihrer grotesken Verwechslung geistiger Eigenarten mit einer Typologie der Physiognomie von Schädeln deutlich macht, dass auf der Ebene der Beobachtung des Naturgeschehens kein angemesssenes Verständnis unserer Rationalität entwickelt werden kann. Die Gestalten praktischer Vernunft, die Hegel dann im Folgenden diskutiert, sind von diesem Einwand befreit. Allerdings gelingt es ihnen nicht, widerspruchsfrei zu einem konkreteren Gehalt des Handelns vorzudringen [usw.usw.]

Na also, mit wieviel mehr Freude folge ich diesem Autor, der freimütig – wenn auch quasi im Vorübergehen – die Defizite benennt, die man als Laie einem solchen, anscheinend [oder scheinbar] allwissenden Vater der modernen Philosophie nicht unterstellen mag. Nur Mut!

Quelle Daniel Martin Feige: Die Natur des Menschen / Eine dialektische Anthropologie / Suhrkamp Verlag Berlin 2022. [Zitat Seite 215]

Womit ich nicht suggerieren möchte, dass dieses Buch leicht zu lesen ist. Wenn ich dem Autor gerecht werden wollte, müsste ich diesen Beitrag ins Ungemessene erweitern, um zunächst einen anderen Essay zu referieren, der in dem Band „Gibt es Musik?“ steht: „Zur Dialektik der postkolonialen Kritik“. Was eine schöne Gelegenheit ergäbe, die Brücke zur Epidemiologie zurückzuschlagen, die oben im ZEIT-Artikel mit Anthony Fauci avisiert wurde. Hier geht es um den Musikbegriff und die Tatsache, dass es ihn nicht zu allen Zeiten und in allen Kulturen gegeben hat, was uns nicht hindern kann, ihn zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen. Denn auch der Begriff des Bakteriums ist in einer interkulturellen Betrachtung nicht schon dadurch diskreditiert, „dass er erst zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten kulturellen Kontext auftaucht.“

Ich wende mich stattdessen abschließend dem Begriff „Kalbfleisch“ zu, der am Anfang und am Ende eines journalistisch gedachten Einführungstextes assoziiert wird und mir als Beispiel der Tendenz zur Vereinfachung einer komplexen musikalischen Thematik dienen kann. Bachs „Kunst der Fuge“. Die hier schon behandelte Version von Reinhard Febel.

Der Clou: er schlachtet es gar nicht. Aber was tut er dann?

Und nochmals abschließend zitiere ich zur CD II Tr. 3 (Kurztext von Andreas Groethuisen):

bei Koroliov (s.u.) CD II Tr.6 u 7

Und – wie Kolneder in seiner komplexesten Arbeit eine neu gedachte Fugen-Version einmal zu einfach sah:

Quelle Walter Kolneder Die Kunst der Fuge Mythen des 20. Jahrhunderts Teil I, Heinrichshofen Verlag Wilhelmshaven1977

Nach all den Bemerkungen, abschließend und wieder neu beginnend, erlaube ich mir eine weitere zu meiner eigenen Hörpraxis (eine Übung): ich nehme mir eine andere Klavierfassung der „Kunst der Fuge“ und höre zunächst dieses „Original“, Stück für Stück, dazu jeweils die „Übermalung“ von Reinhard Febel (s.a. Hören hier), parallel sozusagen. Und danach füge ich noch eine letzte Bemerkung an (sonst kann ich mich nicht vom Thema trennen).

Evgeni Koroliov TACET hier

Meine letzte Bemerkung (folgt, liegt noch auf meinem Nachttisch)

Man könnte meinen, zu dieser Musik gehört immer der Ehrgeiz, drei (oder sogar vier) Stimmen gleichzeitig hören zu müssen, ein dreifach geflochtenes, endloses Band. Wobei ich im Moment an den Bestseller „Gödel, Escher, Bach“ gedacht habe, und an die tönende Aufnahme, die von kleinen Pausen zwischen den Sätzen und Tempowechseln durchsetzt ist, von Ausdünnung und Verdickung des Tonsatzes, von den vielfachen Erscheinungsweisen des Themas, – während meine Aufmerksamkeit anders gebündelt oder zerstreut wird, wenn ich die Noten durchblättere, deren Anblick mir etwas bedeutet, obwohl sie einen realen Verlauf wirklich nicht im geringsten ersetzen können.

Ich kann mich aber auch von den meisten Aufgaben befreien und nur alle anderen, neuen Parameter wahrnehmen, während mich zugleich ein imaginärer Strom umfasst und fortträgt, in dem mir nicht die kleinste Welle unbekannt ist.

Sagen Sie nicht: das war vermutlich kurz vorm Einschlafen, nein, nie war ich wacher als in diesem Augenblick.

Matthäuspassion in der Kritik

Das Musterbeispiel

… einer schlechten Rezension. Unbegreiflich eigentlich, dass dergleichen in einer großen Tageszeitung durchgeht. Da wird der Eindruck erweckt, es gehe um eine Neuaufnahme, nämlich die im Mittelpunkt abgebildete, in Wirklichkeit gilt ihr nur ein Bruchteil des Textes. Am meisten ist von Gillesberger die Rede, der nun wirklich einem glücklich überwundenen Zeitalter der Bach-Interpretation angehört.

Was hat die Zeit der frühen Wiederentdeckung Bachs, die ganze historische Ahnungslosigkeit jener Wendezeit (Respekt für Zelter, Goethe und andere große Geister!) mit der heutigen Zeit der Gesamtfassungen zu tun? Steht etwa Hans Gillesberger für die alte unbefangene Zeit der großen Gefühle und der kurzen Geduld? Und gibt es tatsächlich kein anderes diskutables Aufführungsereignis der vergangenen 60 Jahre als John Neumeyers Ballettfassung? Nichts von Ton Koopmann, J.E.Gardiner, René Jacobs, Peter Dijkstra? Und wenn man neue Interpretationen prinzipiell pars pro toto behandeln will, – warum diese dumme Rede von der angeblich „schwarzen Pädagogik“ des Bass-Rezitativs, das sich auf Bibelworte bezieht? Samt der anschließenden Gamben- Arie, wobei suggeriert wird, dass diese irgendwo auch mal von einem Knaben oder Kind gesungen worden sein könnte. Da wird in kryptischen Anspielungen eine nicht vorhandene Kennerschaft vorgespiegelt. Es ist ein Bass, und muss so sein.

Die beiden zitierten Texte haben offensichtlich mit den Stichworten des Evangelisten zu tun, wo vom „Kreuzigen“ die Rede ist und davon, dass die Leute einen Mann namens Simon ZWANGEN, das Kreuz zu tragen, was dann – im Kommentar – auf jedermann, jede/n von uns projiziert wird: „Ja! freilich, will in uns das Fleisch und Blut gezwungen sein, je mehr es unsrer Seele gut, je herber geht es ein“. Und das soll nur ein gestandener Bass singen dürfen und kein Kind, weil sich sonst die Gemeinde nicht identifizieren kann? Die Begründung ist absurd. Was für ein kindliches Denken! Tatsächlich ist es ja eine Bass-Partie, und der Rhythmus der Solo-Gambe in der nachfolgenden Arie spricht von Schlägen des Rohrs, von der Geißelung, die Jesus erlitten hat (s. vorvoriges Rezitativ). Ein Kind steht gar nicht zur Debatte, obwohl allen bekannt ist, dass wir sämtlich Kinder Gottes sind, erst recht Jesus selbst. Der übrigens auch kein „gestandener Bass“ gewesen sein müsste, obwohl seine Christus-Worte grundsätzlich dem Bass zugeteilt sind. – Wenn es heißt, dass von den „zween falschen Zeugen“ einer Falsettist singt (was erstens Bach nicht vorschreibt und zweitens schlechtes Deutsch ist), dann soll das gewiss nicht signalisieren, dass er „ein falscher Sopran“ ist, wie der Rezensent meint. Er oder sie ist Alto, wie es wohl in der Partitur steht.

Und noch ein anderes Detail, das hier zur Schlüsselszene erklärt wird (wobei zu bedenken ist, dass die Passionsgeschicht vor allem aus Schlüsselszenen besteht):

„Herr, bin ich’s?“ Das sind 5 schnelle Frage-Takte, die von der darauf folgenden Antwort des Chorals leben: „Ich bin’s, ich sollte büßen“. Soll man glauben, dass irgendein Chor der Welt oder einzelne Chorsolisten diese Frage jemals „herausbrüllen“ durften? Und dass nur in einer ängstlich verschüchterten Interpretation „der Schrecken seine tiefe Wirkung“ entfalten kann, eine Wirkung, die für jedes empathisch mitfühlende, mitbüßende Herz gewiss erst im Choral zutagetritt.

Da ist einerseits die vorgespiegelte Sensibilität der Detailkenntnis, andererseit ein unglaublich pauschales Denken: wer vergleicht denn schon Bach mit Schütz, wenn es um eine Matthäus-Passion geht!? Was für eine Taktlosigkeit! Was für ein Sprachverständnis, was für eine Spiegelfechterei, hier zwischen dem gesprochenen und dem vertonten Wortklang zu unterscheiden. Nichtmuttersprachler! Was für ein Dilettantismus, was für ein jämmerlicher Versuch, den Dilettanten zu imponieren! Und solch ein Schreiberling spricht von Einspielungen vergangener Jahrzehnte als einem Wettbewerb um „den originalsten Instrumentalklang oder die plakativste Dramatik, bis hin zum musikalischen Schmierentheater“.  Das Wort „Gehirnwäsche“ scheint ernst gemeint. Und da soll eine neue Unaufgeregtheit als Tugend ausgerufen werden??? Sind denn Blitz und Donner jetzt endgültig in Wolken verschwunden? Ich hoffe nicht. Und werde mir heute Nacht die „Pygmalion“-Aufnahme anhören. Hoffentlich nicht ohne die zugehörige Erschütterung, die mir durchaus ein bisschen wie Aufgeregtheit vorkommen darf. Es wäre nur angemessen.

Mit einer verkappten Unverschämtheit geht die Rezension zuende:

Und doch dienen alle kunstvollen Mittel hier nur einem Zweck: der Erhebung des Menschen, wie man das damals pathetisch sagte, durch die Kunst.

… Erhebung des Menschen??? Hybris statt Demut? Bach jedenfalls hat „als Finis und Endursache“ aller Musik immer „Gottes Ehre“ hervorgehoben und dann erst „die Recreation des Gemüts“. Sonst sei es ein „teuflisches Geplärr und Geleyer“. Aber vermutlich will der Rezensent nur eine zeitgemäße Anspielung unterbringen, – und will gleichzeitig nichts gesagt haben:

In Zeiten, in denen gute Kunst allerdings nur von guten Menschen hervorgebracht werden kann, wird das schwieriger. Gut, dass wir von Bachs Privatleben so gut wie nichts wissen.

*     *     *

A propos Gillesberger: Harnoncourt soll sich angeblich an dessen Stelle aufs Cover der CD-Fassung katapultiert haben? Rufmord. Mir schien, jener hat die Chorpartien einstudiert, dieser den Concentus Musicus geleitet. Wer hat vorn gestanden? Nun stehen sie wohl beide auf dem Cover, und es ist klar, welcher Name nach so vielen Jahren aus Sicht der Firma attraktiver war. Die optische Aufteilung entspricht halt der gefühlten Realität. Und da sollte man einfach nochmal gründlich recherchieren, wer von beiden die respektablere Lebensleistung präsentieren kann. Gerade im Blick auf Bach. Wie dem auch sei: man spürt eine latente Demagogik. Mit einer Korrektur beginnen könnte man z.B. hier. Aber es lohnt sich auch, eine Reihe von Aufnahmen durchzuschauen, in denen ein Chor mitwirkt, dessen Leiter einmal die Gesamtleitung innehat (z.B. Tölzer Knabenchor: Gerhard Schmidt-Gaden), während sie ein anderes Mal bei jemand anderem liegt (Gustav Leonhardt), ohne dass man eine listige Amtserschleichung argwöhnen muss. (Beispiele ganz unten)

Es folgt die Kostprobe einer Promo-Aufnahme mit „Pygmalion“ und Raphaël Pichon („Sind Blitze, sind Donner“):

Andere Ausschnitte gibt es bei dem Journalisten Manuel Brug, der es allerdings nicht einmal schafft – pars pro toto – den Namen des Bass-Solisten (Christian Immler, nicht Irmler!) in einer vorproduzierten Radiosendung korrekt auszusprechen, hier (bei 4:24)…

Beispiele einiger CD-Titel (soeben – fast wahllos – abfotografiert)

P.S. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass es mir nicht um Kritikerschelte überhaupt geht; eine gründliche Rezension ist für musikverständige Menschen eine nicht zu verachtende Entscheidungshilfe. Als sehr positives Beispiel kann die Besprechung zweier Neuaufnahmen – darunter ebenfalls die von Raphaël Pichon – gelten, ich gebe das Handyfoto wieder, das mir ein Freund zugeschickt hat. Ich merke mir den Namen des Kritikers und werde bei Gelegenheit gern die FAZ bevorzugen, wenn ich musikalischen Rat suche: Gerald Felber. Hier ist der Artikel – wie ich hoffe – abrufbar, zudem mit schönen Links versehen. Mustergültig! Ansonsten hier die etwas mühsamer lesbare Nachhilfe-Kopie für alle Fälle:

Zur Diskussion (bzw. Nach-Denken):

Nach der Lektüre einer Kritik (20.03.) in der Rheinischen Post Düsseldorf –

Johannes-Passion neu Gardiner, nachzuhören bis 10. Juli hier

Les Passions

Zu den Quellen

HIER weiterblättern… oder auch hier (auf deutsch, wie folgt:)

Anlass heute: die CD von Andreas Gilger, sein flexibles Spiel, die Mikro-Nuancen zwischen zwei Zählzeiten, die traumhaften Tempoabstufungen zwischen den Tanzsätzen, die sensible Verzögerung einzelner Akzente, die bezaubernden Fiorituren, das suggestive Tempo rubato der beiden Préludes (Tr. 1 und 29), die vom Künstler zielsicher intonierte Feinstimmung und überhaupt – der einfach wunderschöne Klang seines Instrumentes: einer Vaudry-Kopie von Matthias Griewisch. All dies hat mich beglückt, seit ich die Aufnahmen auf dem Handy mit Kopfhörern Track für Track verfolgte, ohne irgendetwas sonst darüber zu wissen. Es sollte eigentlich nur eine Hörübung sein. Ein Zeitvertreib, siehe hier. (Dank an JMR!)

Aber abgesehen von der Musik, deren Interpretation fasziniert – höchstes Lob für die konzise Gestaltung des Booklets: es bietet inhaltlich alles, was man an Rüstzeug braucht, auch wenn man noch nicht mit der Musik in Versailles um Ludwig XIV. vertraut ist. Oder auch von Rhetorik und deren Bedeutung für die Musik weniger gehört hat als von weitgespannten Melodiebögen und romantischer Ausdruckskunst. Man muss die Quellen, denen ich oben nachgegangen bin, nicht studiert haben – es genügt fürs erste dieses schmale, schön gegliederte und bebilderte Booklet.

mehr lesen: hier

ZITAT

Diese emotionale Verbindung zum Publikum versuche ich durch das Studium historischer Quellen und Befolgung ihrer Anweisungen aufzubauen. Die meisten musikalisch Kreativen sind keine mystischen Genies, sondern Normalsterbliche mit Emotionen, die sie mit ihrem Publikum kommunizieren wollen. Nicht, indem sie über ihre Gefühle sprechen, sondern sie beim Publikum direkt auslösen. Da Kunstschaffende des 17. Jahrhunderts ihre Werke als Werkzeuge schufen, um Affekte in anderen auszulösen, erscheint es mir nur logisch, herauszufinden, wie sie sich die Verwendung dieser Werkzeuge vorstellten. Offensichtliche Anhaltspunkte dazu sind historische Quellen zum Musizieren. Um dafür ein umfassendes Verständnis zu erlangen, muss allerdings in den Bereich der Rhetorik vorgedrungen werden. „Rhetorik“ ist ein Schlagwort in der Alten Musik, wobei nur wenige eine klare Vorstellung des Begriffs haben, geschweige denn davon, wie der Begriff im Barock verstanden wurde. Ja, den meisten ist klar, dass „Rhetorik“ die Kunst der Überzeugung mittels sorgfältig ausgewählter Wörter bezeichnet. Die Autoren des Barocks gehen allerdings deutlich weiter und beziehen die Ausführung des Texts, also Gestik, Mimik, Stimmmodulation etc. mit ein. Quasi alle Quellen halten die Ausführung sogar für wichtiger, als die tatsächliche Wortwahl. […]

Beim Studium der Quellen zu öffentlichem Reden, Deklamationen und Schauspiel wird schnell klar, dass Gesten üblicherweise viel größer waren, die Stimme flexibler gestaltet wurde, und grundlegende Wandlungen im Charakter innerhalb eines Abschnittes, Monologs, etc., häufiger auftraten als heutzutage. Im ersten Moment scheint solch ein pompöser Stil modernen Geschmäckern hoffnungslos übertrieben. Aber wie man von einem Stummfilm berührt wird, wenn man die erste Konfrontation des fremden Schauspielstils überwunden hat, so bin ich davon überzeugt, dass Barockmusik in einem uns fremden Stil vorgetragen wird. Es mag verziehen werden, wenn man die Übertragung rhetorischer Prinzipien auf Musik zunächst als weit hergeholt empfindet, doch etliche historische Quellen ziehen Parallelen und Vergleiche zwischen Rhetorik und Musik. Damit wird offenkundig die Annahme widerlegt, dass Musik – sogar die, die auf Tanzformen basiert – ausschließlich unter der Tyrannei eines unerbittlichen Metrums aufzuführen sei, oder dass Zurückhaltung das herrschende Prinzip musikalischer Aufführungen des späten 17. Jahrhunderts war. Im Gegenteil: Wenn wir Zeichnungen und Gemälde le Bruns mit den verhaltenen Aufführungen vergleichen, die in der Alten Musik über Jahrzehnte usus waren, entdecken wir eine Inkongruenz, welche die Musizierweise, die ich und etliche Kolleg:innen propagieren, zu beseitigen sucht. Le Brun verlangt, dass die Affekte in all ihrer Schönheit, all ihrer Weichheit, all ihrer Gewalt gemalt werden. […]

Text: Andreas Gilger (aus dem Booklet, rote Markierungen JR)

Es beginnt mit einer erstaunlichen Reise, 13 Sätze in G-dur, deren Strukturen das Ohr angenehm beschäftigen können, wie die geometrische Gartenanlage des Schlossparks draußen das vergnügte Auge. Und es liegt nicht unbedingt auf der Hand, darin nach den Emotionen zu suchen, die von den beigegebenen Portraits aus Le Bruns Feder insinuiert werden: „Haine ou Jalousie“, „Veneration“ und „l’Effroy“, tatsächlich sind dies die Extreme, die der gleichmäßige Klang des Cembalos eher verschleiert als bloßlegt. Ähnlich wie die Etikette der höfischen Konversation, sie walten subkutan und vielleicht ganz offen in den Theateraufführungen, die in höfischen Causerien und Plaudereien von ferne reflektiert wurden. Man fühle nur den Übergang von G-dur nach D-moll (Track 13 nach 14), um zu ahnen, was eine Tonart bedeutet, in deren Rahmen all diese Nuancen eingebettet sind. (Man lese auch den interessanten Lebenslauf des Komponisten Henry Dumont oder du Mont, der – aus Lüttich und Maastricht stammend – den „Generalbass“ in die französische Musik eingeführt haben soll).

Vielleicht greift man sich auch mal die Chaconne Tr. 21 (Jean-Nicolas Geoffroy) heraus, um sie wie das Mienenspiel einer erzählenden Person zu studieren. Um sich danach dem rührenden Gesicht der „Allemande la Rare“ zuzuwenden (Tr.22), anschließend auch der koketten Courante usw. – man wird sich den Namen Jacques Champion de Chambonnières merken wollen, des Cembalisten, den man seinerzeit lobte  für „…die Schönheit seiner Werke, den schönen Anschlag, die Leichtigkeit und Geläufigkeit der Hände zusammen mit einem sehr feinen Ohr, so dass man sagen kann, dass dieses Instrument seinen letzten (größten) Meister gefunden hat.“ (Mersenne). Nein, nicht den letzten…

Hervorzuheben ist auch das viersätzige Kleinod von Louis Couperin,Tr. 29 bis 33 mit dem phantastischen Prélude, den resoluten „Rückungen“ am Ende der Allemande und der ebenso wild entschlossenen Passacaille, Zielpunkt der langen, bilderreichen Reise dieser CD.

Wer aber war Le Brun? Siehe Wikipedia HIER

Mehr vom Cembalo erfahren?

Eher speziell für mich als vielleicht für andere, die vorwiegend mit dem bloßen Gehör arbeiten oder überhaupt die Musik nicht als Arbeitsfeld betrachten, füge ich zwei Seiten aus einem musikanalytischen Werk bei, das mich mit meinen Schwächen konfrontiert hat, – denke ich jedenfalls. Sie beziehen sich hier noch nicht so auf Beethoven, wie die Seiten-Überschrift ankündigt. Und mich bewegt unterschwellig beim Hören dieser CD ohnehin die (kaum fühlbare) Nähe zu Bach (Französische Suiten), bzw. ihre Position zwischen Monteverdi und Bach:

Quelle Folker Froebe: Motivisch-thematische Analyse – Ludwig van Beethovens Klaviersonate op. 10 Nr. 1 / ins: Musikalische Analyse / Begriffe, Geschichten, Methoden / Herausgegeben von Felix Diergarten / Laaber-Verlag 2014 (S.95-140)

EILT  Mehr aus der Welt der französischen Rhetorik: Molière  EILT

HIER („eilt“ , weil nur noch bis  3. Mai 2022 abrufbar) Stop: HIER allerdings noch bis 1. Juni 2022

Anlässlich des 400. Jahrestages von Molières Taufe zeigt der Film einen Autor, Ensembleleiter und Schauspieler, der treu ergeben die Vergnügungen Ludwigs XIV. organisierte und gleichzeitig in seinen Stücken große Radikalität an den Tag legte, der sich auf der Bühne ebenso wohlfühlte wie in den Salons, der strategisch dachte und dabei frei war, der durch sein Genie und seine Komplexität fasziniert. Molière erweist sich als Erfinder eines Theaters, das seit beinahe vier Jahrhunderten eine unerschöpfliche Quelle von Inspiration und Bewunderung ist. (aus dem ARTE Pressetext)

ab 28:00 Le Brun, Le Vau, Le Nôtre, Schloss Vaux-le-Vicomte 1661

Unvergessen der Film „Molière“ (1978) von Ariane Mnouchkine

Rekapitulieren:

Detail aus dem Kommentar-Heft:

Christian Schneider – unvergessen

Die Oboe und TIBIA

Ein Nachruf auf Christian Schneider in TIBIA

Am 20. Juni 2021 ist der Oboist und Professor an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und ehemaliger Mitherausgeber der TIBIA, Prof. Christian Schneider, verstorben. Mit ihm verlieren wir einen der prägendsten Hochschulpädagogen für Oboe der letzten Jahrzehnte, einen renommierten Musiker, einen leidenschaftlichen Sammler und Kenner ethnischer Oboeninstrumente, einen akribischen Forscher, einen feinfühligen und großherzigen Menschen.

Christian Schneider wurde 1942 in einer Musikerfamilie geboren: Sein Vater Michael Schneider war gefragter Konzertorganist und Hochschullehrer, seine Mutter und sein Großvater hatten Klavier und seine Großmutter Gesang studiert. Christian Schneider selbst lernte zunächst Geige, musste aber bald feststellen, dass seine Hand dafür zu groß und sein fünfter Finger zu kurz waren: So wechselte er im Alter von 15 Jahren zur Oboe, die ihm ein Nachbar in die Hand gab — und hatte auf diesem nahezu zufälligen Weg sein Instrument gefunden: Bis ins Alter hinein begannen seine Augen bei einem schönen Oboenton zu glänzen, dessen Nähe zur menschlichen Stimme ihn von Beginn an faszinierte. Zum Studium zog es Christian Schneider ins geteilte Berlin, wo er an der Hochschule der Künste (heute UdK) Oboe bei Karl Steins, Solo-Oboist der Berliner Philharmoniker unter Furtwängler und dann Karajan, sowie Musikwissenschaften an der FU studierte. Im Anschluss an sein Studium wurde Christian Schneider Solo-Oboist zunächst der Bochumer Symphoniker und von 1972–1992 der Düsseldorfer Symphoniker/Deutsche Oper am Rhein.

Auch außerhalb des Orchestergrabens war er als Oboist aktiv, unter anderem in gemeinsamen Konzerttourneen mit seinem Vater, bei zahlreichen Einspielungen für verschiedene Plattenfirmen — und in den ersten Ensembles, die sich der Historischen Aufführungspraxis verschrieben hatten: Gut erinnere ich seine Erzählungen von seinem ersten Auftritt mit dem Collegium Aureum, für den er wohl recht kurzfristig angefragt worden war und also nur einige wenige Wochen hatte, um sich auf einer wohl „scheußlichen“ Kopie einer Barockoboe zurechtzufinden… Es folgten Engagements bei der Capella Coloniensis, der Camerata Instrumentale und der Hamburger Telemann-Gesellschaft, und auch wenn er seine Tätigkeit als Barockoboist schließlich einstellte und seinen spielerischen Fokus wieder voll auf die moderne Oboe richtete, blieb er der „Szene“ und ihren Protagonisten stets überaus freundschaftlich und wohlwollend verbunden: Dies belegt auch seine Tätigkeit als Mitherausgeber der TIBIA, für die er zahlreiche Fachartikel zu oboengeschichtlichen Themen sowie Musikerporträts verfasste (s. u.).

Überhaupt war es Christian Schneider eine Herzensangelegenheit, seine Erfahrungen und sein Wissen mit anderen zu teilen und an die jungen Generationen weiterzugeben: Parallel zu seinen musikalischen Aktivitäten unterrichtete er zunächst als Lehrbeauftragter und ab 1992 als ordentlicher Professor in der Nachfolge Helmut Huckes die Oboenklasse an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und bildete dort eine Vielzahl junger Oboisten aus, die bis heute prominente Stellen an Hochschulen und in führenden Orchestern wie dem Gürzenich Orchester Köln oder dem Bayerischen Staatsorchester bekleiden. Als wacher Zuhörer und einfühlsames Gegenüber widmete er sich mit größter Aufmerksamkeit seinen Studenten und neben seinen hervorragenden fachlichen Fähigkeiten war es diese menschliche Feinfühligkeit und Offenheit, die ihn zu einem einzigartigen Pädagogen machten: Er motivierte seine Studenten dazu, ihren individuellen Weg zu finden und zu gehen und unterstützte sie darin nach Kräften. Beispielsweise war er derjenige, der mir als Schülerin, von meiner Begeisterung für die Blockflöte und die Alte Musik wissend, eine Barockoboe samt Rohr in die Hand drückte („Probier’ doch mal“) und den Kontakt zu seinem Freund Alfredo Bernardini herstellte: Eine Starthilfe und Unterstützung, für die ich ewig dankbar bin.

Auch in internationalen Meisterkursen in Europa, Japan und den USA ging Christian Schneider seiner Leidenschaft fürs Unterrichten nach. In bester Erinnerung sind auch die Sommerkurse in der Nähe seines Hauses in Südfrankreich, die stets mit Besuchen auf Rohrholzplantagen der Firma Rigotti verbunden wurden.

Eine weitere große Leidenschaft hatte Christian Schneider für Oboen der Traditionellen Musik: Unvergessen bleibt die Atmosphäre in seinem Arbeitszimmer in einer schönen Düsseldorfer Altbauwohnung, in welchem neben Büchern hunderte Oboen aus allen Ecken der Welt an den Wänden vom Boden bis unter die hohen Decken aufgereiht standen: ein einmaliger Anblick. Was im Jahr 1974 mit einem Geschenk, einem Volksinstrument aus Afghanistan, begonnen hatte, wurde zu einer regelrechten Sammelmanie, stets verbunden mit akribischer Forschung. Reiselust für abenteuerliche Reisen mit seiner Frau in die entlegensten Winkel Asiens, Kontaktaufbau und -pflege zu Spezialisten, größte Achtung vor den Traditionen fremder Kulturen und eine unglaubliche Begeisterung für die unterschiedlichsten Oboenklänge waren der Nährboden für diese einzigartige Instrumentensammlung, die immer wieder auch in Ausstellungen präsentiert wurde. Nach seinem Ruhestand im Jahr 2007 widmete sich Christian Schneider mit besonderer Aufmerksamkeit der Dokumentation seiner Sammlung; eine mühevolle Arbeit, die durch gesundheitliche Probleme zunehmend erschwert wurde. Dank der unendlichen Unterstützung durch seine Frau liegt nun im Privatdruck der Band Der Magische Klang — Eine Reise in die Welt der traditionellen Oboeninstrumente vor, der in seiner so liebevollen und in jeglicher Hinsicht hochwertigen Gestaltung ein wunderbares Zeugnis dieser einzigartigen Leidenschaft darstellt. Die Sammlung selbst ist inzwischen als Teil der Ethnologischen Abteilung der Staatlichen Museen zu Berlin an Christian Schneiders Studienort zurückgekehrt.

Die Welt der Oboisten, die Welt der Hochschullehrer, die Welt der Instrumentensammler, das Team der TIBIA trauert um einen ihrer bedeutendsten Protagonisten und ist dankbar für viele Jahre des gemeinsamen Musizierens, der intensiven Ausbildung, der bereichernden Gespräche, der guten Zusammenarbeit und der klugen Ratschläge. Auf den Bühnen, in den Hochschulen und in der Forschung rund um die Oboen dieser Welt wird sein Schaffen noch lange nachklingen.

Clara Blessing (Quelle des Textes und der unten folgenden Liste: www.moeck.com/tibia/ Portal für Holzbläser)

abrufbar HIER

oben: Köthener Bachfesttage 2018, Eröffnungskonzert | Midori Seiler, Clara Blessing, Köthener BachCollektiv (Vimeo Folkert Uhde u.a. hier)

Beiträge von Christian Schneider in der Zeitschrift Tibia (in chronologischer Folge):

Biographisches zu Clara Blessing, die den Nachruf auf ihren Lehrer Christian Schneider geschrieben hat. Sie gehört heute schon zu den herausragenden Erscheinungen der jungen Generation, die das Spiel der historisch adäquaten Instrumente nicht als exotische Sonderleistung betrachtet, sondern als selbstverständliches Ausdrucksmittel, wie man im obigen Vimeo überzeugend erleben kann. Weiteres auf der Website (mit Klangbeispielen) : hier.

Im folgenden die früheste Aufnahme, die mir von Christian bekannt ist (mit moderner Oboe):

.    .    .    .    . .    .    .    .    .

15 Jahre später 

oben: Rundschau 26. November 1986

unten: Christians letztes Werk. (Das Foto im Epilog zeigt ihn mit „historischer“ Oboe.)

Erhältlich über Clara Blessing hier.

Kavakos mit Bach

„Sei Solo“ – die Solo-Sonaten und Partiten – neu

weiter zum folgenden Link

HIER ↵ Leonidas Kavakos im Podcast

Stichworte, die dem Gang der Erläuterungen folgen, ohne eine genau Übersetzung zu liefern. Es ist lediglich meine Erinnerungsstütze. (JR)

Zuerst allgemein über Behandlung der Violine als Solo-Instrument, melodisch, symphonisch, bei Beethoven, Brahms. Immer die Geige als singende Stimme. Viel später, im 20. Instrument, Komponisten wie Ysaye, der Szigeti mit Bach-Partitas gehört hatte, schrieb selbst 6 Solosonaten. Oder später Bartók, eins der größten Meisterwerke dieses Genres, am nächsten bei Bach. Reger, Prokofieff. [Beisp. H-moll Partita]  L.K. hörte eines Tages in Italien bei einem Sammler, Kinderarzt, die Aufnahme von Sigiswald Kuijken, was ihn „umhaute“. Absolut anderer Klang, die tiefe Stimmung, akustisch: es transformiert das Instrument, beseitigt alle Romantizismen, die wir gewöhnlich anwenden. Andere Frequenzen, weniger Druck auf den Saiten, dem Steg, dem Instrument. Dadurch für mich: mehr Raum für Polyphonie. 10:50. Die Saiten sind flexibler. Kuijken, mit Barockbogen. Ich liebte das so, ich hörte auf, Bach zu spielen… weil: denken denken denken. Ich muss üben, üben , üben. Von vorne anfangen. 11:50. Dass es mich wirklich berührt. Das war ein sehr langer Prozess. 1990, 1991 war es, als ich stoppte mit Bach. Ich begann erst wieder … jetzt … vor 4 Jahren. Nicht, dass ich es nicht mehr tun konnte, es ist wie die Erde zu verlassen, einen anderen Planeten erreichen, absorbieren etc. sich wieder der Musik nähern, Barockbogen! ich liebte es, wie das Instrument reagiert in der tieferen Region, ich probierte die Darmsaiten, allmählich formte ich einen neuen Weg für mich, wie auch immer. Neue Wege der Poyphonie entdeckend. 13.00. Bisher: wenn man zu einem Vierton-Akkord kommt, nimmt man die Aufteilung 2 +2 Töne. Beim Drei-Ton-Akkord gibt es zwei Möglichkeiten, entweder alle Töne zugleich, oder – das ist lustig, worüber ich viel nachgedacht habe -, man nimmt 2 plus 2, (Ton1+2 und Ton 2+3). Was kann man anders machen? Jetzt Blick ins Faksimile von Bachs Hand: die Akkordnoten sind einzeln mit Hälsen versehen! er schreibt 4 einzelne Noten. Das heißt für mich: jede Note ist eine eigene Geschichte, eine einzelne Präsenz. 14:40. Niemals 2+2. Es kann sein 1+1+1+1. etc Das eröffnete mir eine völlig neue Welt, diese Musik zu spielen! Ab 16:25 über Fuge. Ich schaue auf die Noten wie auf Akteure eines Theaterspiels. 19:51 Beisp. g-moll-Fuge 20:14 „The Fugue …“ Das Wort Fuga – to leave, to escape, – keiner weiß warum. Wäre die allererste Frage an Bach. Warum das Wort Fuga? Für mich – säkulare Musik – das Preludio zu 3. Partita – exakt dieselbe Musik wie in Sinfonia der Kantate [nicht19 sondern] 29, „Wir danken dir, Gott“ . mit Orchester, mit Bass. Man weiß also, was Bach innerlich hört, wenn er eine Musik ohne Bass schreibt…22:30 geschrieben, kurz nachdem seine Frau gestorben war, der Titel „Sei solo“ which means „you are on your own“ [???] 22:54 und wir haben die Fuge, we say „fugitive“ 23:00 genau wie im mod. Griechisch „eefüjä“, wenn jemand weggeht. Ich nehme es metaphysisch. 23:20 Das Motiv, das von Stimme zu Stimme geht, ich interpretieren es als verschiedene Inkarnationen des Lebens. Dasselbe auf verschiedenen Ebenen. Eine Reise durch verschiedene Ebenen. Der Schock für mich ist der letzte Akkord der C-dur-Fuge. Eine ganz spezifische Form (beschreibt die großen Abschnitte samt Dacapo). Es endet mit dem C-dur-Akkord, aber er fügt hinzu als Spitze des Akkords ein g, die Dominante. 24:45. Für mich weine riesige Frage, – was ist die Rolle dieses Tones? [L.K. betont mehrfach das Wort Dominante, obwohl der Ton g ja nicht in seiner Dominantfunktion erscheint, sondern als Bestandteil des Tonika-Akkords, wenn auch in ungewöhnlicher Lage.Seine Interpretation dieses Phänomens:] dass die Seele wiederkehrt („the soul returns“). 25:15. Das mag ein bisschen zuviel [reininterpretiert sein] , aber das kommt von Boris Moravieff, der das Buch schrieb: über esoterisches Christentum („esoteric chistianism“). Er spricht über den Abstieg innerhalb einer Oktave („descending octave“) in der Schöpfung (?), er präsentiert die C-Skala der „Creation“ und gibt die verschiedenen Stufen, von C zu H – zu A – zu G – zu F … also absteigend in der Oktave der „Creation“, und er sagt, dass unser Level, unsere Stufe, unser C,  in der Welt beginnt bei der kosmischen Dominante, dem kosmischen G. 25:59 (Ende bei 30.00).

Hier breche ich ab, L.K. findet diesen „Wissenschaftler“ phantastisch. Er hat offenbar noch nie von Kepler gehört und all den musikbezogenen Kosmos-Theorien, die darauf basierten, und begeistert sich, weil es ihm neu ist. Er kennt zum Glück nicht J.E. Berendt, nicht Harry Hahn mit seinem „Symbol und Glaube“ und der ganzen unerquicklichen Notenzählerei, er kennt offenbar auch nicht Helga Thönes großangelegten Versuch einer mystischen Deutung der Bachschen Solissimo-Werke, nur die Fama betr. ein Epitaph für Anna Magdalena. Für mich lauter sehr zweifelhafte Wege, die Bachsche musikalische Welt „dingfest“ zu machen. Ich stelle anheim, weitere Informationen in den nachfolgenden Links zu suchen.

Boris Mouravieff HIER oder Hier

Aber unbeschadet aller Vorbehalte bleibt die Tatsache, dass alles, was Leonidas Kavakos bisher als Geiger vorgelegt hat, absolut faszinierend ist. Seine Beethoven-Interpretationen sind ohne Vergleich, und der Ernst seines Bach-Unternehmens gebietet, alles was jetzt an Musik zu hören ist, als solche zu deuten und zwar ausschließlich als solche – alles andere ist sekundär.

Ich warte sehnsüchtig auf die realen CDs, die ich bestellt habe, sobald ich davon wusste.

Allte Einzeltitel anspielen bei jpc hier (Im folgenden Youtube bricht die g-Fuge bei 2:46 ab.)

Übrigens spielt er hier nicht mit Barockbogen, benutzt auch keine Darmsaiten, zumindest an der E-Saite (wohl auch an der A-Saite) ist ein Feinstimmer zu sehen, also Stahl. Zudem auch in Normalstimmung, nicht einen Ton tiefer (wie auf der CD). Dies ist keine Kritik, es handelt sich hier ja auch um eine Konzert- und Livesituation…

16.Febr. 2022 Die CD war heute in der Post!

Erste Frage: warum diese Reihenfolge und nicht die von Bach vorgegebene? Vielleicht, damit das glänzende Preludio am Anfang steht und die riesige Ciaccona am Ende? Oder wegen der Dreiklänge in der Tonartenreihenfolge? E C A / G H D ? Die Dominante GHD (von C-dur) – als höheres Zeichen – muss ich bei Mouravieff nachlesen? Nein! Lieber nur hören …

Zweite (beiläufige) Frage: welchen Ton spielt er als „Bass“ in der Mitte von Takt 3 des g-Adagios? Kavakos spielt das korrekte ES, das nicht in Bachs Handschrift steht…

Dritte (beiläufige ) Frage: wie führt er den Abschluss des Grave der Sonata II aus? Er spielt in der Tat einen (irrsinnig schwer zu greifenden) Doppeltriller in Sexten. Warum hat ihn niemand informiert, dass ein Bogen-Vibrato (auch hier) gemeint sein könnte? Wie traumhaft und mühelos hätte dieser Übergang zur Fuge klingen können!

Dritte Frage: die Brechung der Akkorde – große Kunst, z.B. im Schlussakkor G-moll, wo am Ende das B minimal länger oder bevorzugt klingt, oder im C-Adagio Takt 42, wo vom dreistimmigen Akkord H-As-D zuerst der Ton As (bleibend), dann H (unten), dann D (oben) zu hören ist, man versteht warum, möchte aber sagen „zuviel der Bogenkunst“. Letzter Akkord der großen C-dur-Fuge: Zeitlupenbrechung, und sehr spät der vierte hohe Ton G, auch so lang, dass die Absicht herausragt.

Vierte Frage: Zeitverlust durch allzu sorgfältige Brechung der Akkorde, man kann nicht weiterzählen, muss ganze Zählzeiten addieren, musikalisch nicht unbedingt notwendige Verzögerungen. Vermutlich ist auch deshalb das Tempo der A-moll-Fuge relativ ruhig, statt beschwingt; die schwersten Griffe (links) wirken federleicht. Bewundernswert, aber auch diese Fuge wirkt bei aller Phantasie im Einzelnen etwas lang, sie tanzt nicht.

Fünfte Frage: Verzierungen – das ist so üblich geworden und auch erlaubt. Aber plötzlich sind Sätze, die selber schon Verzierungen sind (Doubles), stark „überverziert“, als gebe es einen Wettbewerb im Auffüllen des Textes; mich stört es geradezu in der letzten Zeile der Ciaccona. Dafür ist der letzte Ton D (doppelt) ein Kunstwerk für sich, gerade zu ein Verweis auf die Ewigkeit. Ich denke heimlich ans Klavier, genauer: an Busonis Bearbeitung…

Ein kleines Beispiel: das Präludium der E-dur-Partita. An einer einzigen Stelle setzt Kavakos eine Variante ein, in Takt 37, – eine triolische. Warum in diesem Takt und nirgendwo sonst? Weil das Stück, so wie es komponiert ist, keiner übermütigen Zusatztöne bedarf. Also: warum hier? Und nicht schon im Takt davor. Bach hat eigentlich nichts vergessen oder anheimgestellt, wie man an den Bindungen in den darauffolgenden Takten sieht.

Man weiß, dass dem Pädagogen Bach diese Ausfüllung von Terzgängen geläufig ist, und so schreibt er sie einem Faksimile seiner Invention 1 konsequent aus (für Schüler). Aber warum braucht man sie hier, inmitten des Sechzehntel-Perpetuum?

Faksimile 1723 Invention 1

Um es kurz zu machen, als Fazit würde ich nur noch sagen: das Ganze – als Interpretationsleistung – ist einfach überragend. Fast vollkommen. Warum mich die Ciaccona weniger ergriffen hat, mir auch, leicht enttäuschend, kürzer vorkommt – sagen wir: im Vergleich zu Janine Janssen -, weiß ich nicht. Mir fehlt ein wenig das Pathos. Meist finde ich die eigenen kritischen Bemerkungen zugleich peinlich kleinkrämerisch. Und ich will nicht gelten lassen, dass man die Bewältigung barock-geigerischer Hürden besonders hervorhebt (ich möchte phrasenweise vergleichen mit Isabelle Faust oder der viel früheren Rachel Podger).

Es gibt viele Kleinigkeiten, über die man streiten könnte. Für mich sind viele ornamentale Veränderungen unnötige Stolpersteine, keine relaxed eleganten Varianten. Ich stolpere, wenn allzuviele größere Intervalle durch tirata-ähnliche Läufe ausgefült werden. Z.B. in den Wiederholungen der so fein austarierten Corrente. Brauche ich denn soviel zusätzliche Kurzweil? Makellos das nachfolgende Presto, und überragend die Sarabande, – abgesehen von glücklicherweise winzigen Stolpersteinen, einem einzelnen Lauf in Takt 10 (ebenso im drittletzten Takt), auch zusätzlichen Vorhalten. Jeder (sanft) gebrochene Akkord ein Erlebnis, z.B. der Schluss-Dreiklang H-Fis-H : Grundton allein und die Quinte dazu, diese wie ein Vorschlag zur Oktave, beide zusammen ausgehalten, nahtlos das obere H allein, sehr leise und recht lang. Überall große Geigenkunst. Vielleicht etwas zu groß?

Ich denke an den eigenwilligen jungen Thomas Zehetmair, unvergesslich, wie er im C-dur-Adagio Takt 12 hineinfuhr wie eine Furie, obwohl es als Dynamik nicht dasteht, – aber doch als „Figur“. Und die Antwort steht in Takt 33. Es hieß, da habe ihn Harnoncourt persönlich inspiriert.

Der Booklet-Text stammt von Tully Potter, der tatsächlich das Buch von Helga Thöne favorisiert. Die Überschrift „You are alone“ bzw. „Du bist allein“ (als Übersetzung von „Sei Solo“) kommt wohl von ihr; meines Wissens hat Christian Tetzlaff das als erster im Booklet seiner ersten Aufnahme propagiert. Ich kann verstehen, dass im Kavakos-Booklet die frühe Gesamtaufnahme von Grumiaux besonders hervorgehoben wird, nicht jedoch, dass die von Szeryng, der für die geigende Generation der 60er Jahre ganz neue Maßstäbe setzte, keine Erwähnung wert ist. Zum Ausgleich völlig daneben die Einschätzung der Bach-Interpretation des späten Menuhin. Undsoweiter – da fehlt im Text einfach etwas Kompetenz, die im biographischen Feld liegen mag.

Zum Wort „Fuge“, das Kavakos in seiner oben behandelten Einführung etwas mystifiziert, – als sei die Fuge ein Ausdrucksmittel zum Thema Abschied -, eine kurze Information:

Der Begriff Fuge ist inhaltlich durch die unendliche Vielfalt der Bachschen Fugen „bestimmt“, ist „von Haus aus“ aber eher eine bloße Technik als die Vorgabe eines Affektes (Abschied).

In den 60er Jahren machte ich mir die folgende, leicht greifbare Frühgeschichte des Wortes Fuge zueigen, die dem Buch eines Autors entstammt, den ich heute allerdings ungern konsultiere, auch wenn er ideologiefrei wissenschaftlich recherchiert. Im übrigen verweise ich auf das enzyklopäische Lexikon MGG, mit dem es heute eigentlich jedem Musiker leicht geworden ist, sich jederzeit vorurteilsfrei zu informieren und vielleicht sogar eigene etymologische Versuche zurückzustellen.

 

Quelle

Joseph Müller-Blattau: Geschichte der Fuge (dritte, erweiterte Auflage) Bärenreiter Kassel Basel etc. 1963

MGG Musik in Geschichte und Gegenwart (neu 1995 Sachteil Band 3) Stichwort FUGE Autor: Emil Platen

Bachs Lamentoformel

Ein Vortrag von Wilibald Gurlitt 1950

Nicht zu verwechseln mit Cornelius, dem Neffen: Erinnerung also an Wilibald Gurlitt . Er nannte es nicht Lamento-Formel, das kam erst viel später auf. Aber hätte ich davon schon in den 50er Jahren gewusst (wäre mein Leben anders verlaufen), nein, so wollte ich es nicht sagen.  Aber ich kannte es doch schon früh von Bachs Invention  f-moll, „O Haupt voll Blut und Wunden“ und – von Carl Orff (Die Kluge „Oh, hätt ich meiner Tochter nur geglaubt„.)

Aber da es schon längst auf eine Formel gebracht worden war, hätte ich vielleicht auch schon früher auf den arabischen Maqam Kurdi kommen können, statt erst 1967. Oder zu einer Obsession wie in der Sendereihe von der „Reise des Ohrs“, und dort am 23. Mai 1987:

Immerhin war ich Anfang der 50er Jahre schon mit Kara ben Nemsi durchs wilde Kurdistan gereist. Ich kann genau sagen wie: wenn man heute von der Autobahnabfahrt Exter nach Bad Oeynhausen fährt, die gewundene Detmolder Straße hinab, dann kommt man in Lohe zu der Abbiegung eines breiten, heute asphaltierten Weges, der zur Rossittener Straße führt oder selbst schon so heißt, und genau dort, an der Ecke rechts, gab es einen Schreibwarenladen mit Leihbücherei und darin jede Menge Lesestoff, ja, und ich begann dann, im Haus Nr. 171 arabische Sätze abzuschreiben, die ich später vielleicht sogar bei meiner Orienttournee 1967 hätte anwenden können, wenn man mich rechtzeitig in der Aussprache unterwiesen hätte. So aber ist das Wissen meiner Kindheit untergegangen, und nach Selbsteinschätzung nahm es erst in Bielefeld festere Formen an, als ich die kleine Chronik der Anna Magdalena Bach in die Finger bekam, womöglich gleichzeitig mit „Quo vadis“ und „Die Kreuzritter“ von Sienkiewicz.

Bach-Forschung 1950

Und jetzt also 1950, Leipzig, Bach-Tagung, mit einer Reihe illustrer Referenten…

und alles in Licht und Schatten getaucht (aus meinem Scanner):

Quelle Bericht über die wissenschaftliche Bachtagung Leipzig 23. bis 26. Juli 1950 / Im Auftrag des Bach-Ausschusses 1950 / Herausgegeben von Walther Vetter und Ernst Herrmann Meyer / Bearbeitet von Hans Heinrich Eggebrecht ( C.F.Peters Leipzig

Finsteres Mittelalter?

Eine Sternennacht – hellhörig

Quelle Peter Gülke: Mönche Bürger Minnesänger / Musik in der Gesellschaft des europäischen Mittelalters / Koehler & Amelang Leipzig 1975

Quen Boa Dona Querra

„So ist es mit der Erinnerung. Mit ihr leuchten wir hinunter in die Vergangenheit.“ Motto des Buches von Gombrich.

Quelle Ernst H. Gombrich: Eine kurze Weltgeschichte für junge Leser / Dumont Köln 1985, 2005

Quelle Imanuel Geiss: Geschichte im Überblick / Daten und Zusammenhänge der Weltgeschichte rororo Sachbuch Rowohlt Reinbeck bei Hamburg 1986

Gülke a.a.O.

Lauter Zitate, die Lust machen: zu lesen, aber auch zu hören. Und wer die Karten anschaut, findet Wizlaf wie auch Rügen (Rygen), und gleich unterhalb: Greifswald, meinen Geburtsort.

Damals gab es plötzlich eine neue Leitlinie (das kam von Benjamin Bagby oder Barbara Thornton), man musste Peter Dronke (dtv 1977) gelesen haben. Ich besorgte mir im Handumdrehen das Taschenbuch und – verpasste die Erleuchtung, obwohl mich schon das Kapitel vom „Tagelied“ hätte elektrisieren müssen („Tristan“!), ganz abgesehen von den „Jarchas“ (s.o. Cantigas El Sabio) und den beigegebenen Melodien im Schlussteil. Heute befeuert jede Seite mein Interesse, – nach wieviel Jahrzehnten? Warum erst heute?

Natürlich denke ich heute nicht nur an Pompeji, sondern auch an Paestum, an alles, was die alten Zeiten aus der Versteinerung löst, belebend, wie Mozart (hier). Aber wie dieser bedarf es der geistigen Arbeit. Auch um zwischendurch der dämpfenden, lähmenden Gedanken Herr zu werden. Haben diese alten Relikte überhaupt einen Wert???  Hat meine Zeit einen Wert?

Zunächst Peter Dronke, dann zum wiederholten Male: Heinz Schlaffer, ein absolut notwendiges Denkstück (s.a. hier):

Quelle Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur dtv Deutscher Taschenbuch Verlag München 2003 ISBN 978-3-423-34022-9

Und nun zu Dänemark CD I: Man muss sich darüber im Klaren sein – diese CDs legt man nicht auf und schwimmt im Vergnügen. Jedes Detail des Boooklets gehört dazu, vor allem auch die gesungenen Texte mit ihren schönen Übersetzungen, die einem vermitteln, wie man in diesen frühen Zeiten dachte, wie die politischen Verhältnisse einflossen, wie man Stellung nahm. Alles was heute durch die Medien geschieht. Ist es Ironie, Naivität, Mitleid, Agression? Lesen Sie die Texte, bevor Sie die Melodien und den Vortrag beurteilen. Vergrößern Sie sich die hier in Kopie wiedergegebenen Kommentare. Sie können alle Tracks passend anspielen oder durchgehend im Hintergrund hören: hier.

Die vollständigen Gesangstexte aber sind nur im Booklet zu haben. Hier also zunächst die lesegerecht gemachte, jedoch mit meinen Unterstreichungen verzierte Einführung:

Forts. s.u.

Einen Gesang über „die tenschen morder“ (Tr.7) von Meister Rumelant schreibe ich in deutscher Prosa ab (übersetzt von Holger Runow in „Rumelant von Sachsen, Edition-Übersetzung-Kommentar“ , Berlin / New York 2011 Hermaea N.F. 121):

 Die dänischen Mörder sind die besten. Niemand ist so geschickt, wenn es um Königsmord geht. Sie morden gerne und verstehen sich gut darauf. Den besten Mord soll man loben. Im Norden Jütlands, da wurde der schändliche Mord begangen. Sie weckten ihren König unsanft auf dem Bett, in dem er schlief. Mit sechsundfünfzig tiefen Wunden erstachen sie ihn, den stolzen Krieger. Tapfere Krieger sind es wohl, die es mit ihren Händen taten, das sieht man ihnen an. Ihre Farbe und ihr Benehmen sind dahin, ihr Sinn hat sich gewandelt. Diejenigen, die es mit ihnen zusammen geplant haben, wissen keinen anderen Rat. Sie wollen nun dem jungen König beistehen. Sie beteuern ihre Unschuld und berufen sich auf ihr dänisches Recht. Aber nein, es wird anders ausgehen. – Ihr Mörder, schaut euch eure Mordtat an: Welchen Fundus an mörderischen Sünden hortet ihr in eurer Kammer! Seht, euer König war euer Knecht; ihn, der euch Herrschaft und Recht gab, habt ihr ermordet. Dafür seid ihr für immer geächtet, fern von aller Gnade und Freude. Der Mord verwehrt euch alles Heil. Man macht das Kreuz über euch und erschlägt euch wie die Heiden.

Fortsetzung der Booklet-Einführung (am Rande die passenden Tracknummern):

(in Arbeit, Fortsetzung folgt)

Stimmung! Raum! Klang!

Das Hören selbst hören

Ich komme zurück auf die CD „Discovery of Passion“ und nehme den schon besprochenen Track 9 als Beispiel. „Hor che’l ciel e la terra“, ein Monteverdi-Madrigal, im Original für 6 Stimmen, – schwer zu akzeptieren, dass statt des  emotionalen Ineinandergreifens der menschlichen Stimmen eine flinke Blockflöte mit ihren Läufen über dem ruhigen Continuo brilliert. Hat sie noch mit dem Ausdruck des Textes zu tun? Wohl nicht, Erinnerung an das vokale Vorbild wirkt eher störend, der Augenblick gilt, der ungeschützt herausragende hohe Ton, die lerchenhaften Kapriolen, das rhythmische Beben des Atems. Und das alte Vorurteil, die Flöte stimmt nicht ganz, hier und da, es sind nur Einzeltöne, sie sind offenbar so gewollt oder wenigstens akzeptiert, und ich bin im Zweifel, ob es nicht nur mein Ohr ist, das sie anders erwartet. Unzulässigerweise. Wie kann ich herausfinden, was objektiv gilt. Cello und Cembalo beginnen, der harmonische Rahmen ist eindeutig, und wenn die Flöte dazukommt, scheint der erste hohe Ton zu tief, und erst in der Folge fügt sich alles harmonisch zusammen, auch wenn die Flöte zurückkehrt zum Ausgangston und sogar darüber hinausgeht. Die Modulationen, – alles wunderschön, bis zur Kadenz bei 1:08. Man badet in den Klängen. Die darauffolgenden Tupfer (ich denke an den Text: „veglio, penso, ardo, piango!“) sehr fein artikuliert, in der Tonlänge kalkuliert, bei 2:14 denke ich wieder an den Text („e chi mi sface“ ) und fühle den Schmerz im Beben der Vierergruppen – und dann kommt der Halt bei 2:49, die hohe Terz des darunterliegenden Akkordes, was ist damit? … sie steht im Raum und ist tief… 2:52 darf ich das fühlen und monieren? Oder mich an die kleinen Tücken der Physik erinnern, die auch wieder zu den Ausdrucksmitteln der Musik gehören?

Wie oft haben wir uns im WDR darüber ereifert, wenn ein Kollege, der die „Aufführungspraxis“ hasste, seine englischen Lieblingsfeinde verbal abstrafte („da stimmt kein Ton!“), und ich vermutete, das ihn die Abwesenheit des Vibratos irreführte: vielmehr, er kennt gutes Geigenspiel nur mit starkem Vibrato, er hat sich an die Schärfung des Tones, die sich aus dem Vibratoausschlag ergibt, derart gewöhnt, dass er den bloßen Ton, den vibratofreien, als unrein empfindet. Allerdings: wenn man das formuliert, wird der andere es mit Empörung zurückweisen, denn sein Ohr ist ihm heilig und unfehlbar wie der Papst.

Ich will an dieser Stelle keineswegs eine Kritik der CD festmachen, die mir ein riesiges Vergnügen bereitet hat. In diesem Artikel ist sie mir jedoch auch Anlass, einem schwierigen Thema der alten Musik, der Kammermusik, gerade der aus Streichern und Bläsern zusammengesetzten Ensemblemusik nachzugehen: es sind ja schon Leute darüber verzweifelt. Streicher stimmen permanent nach, vergleichen die C-Saite des Cellos mit der E-Saite der Geige, verabreden, dass die unterste Quint etwas enger eingestimmt wird. Und wenn ein Klavier mitwirkt, diskutiert man anders als wenn ein Cembalo dabei ist, das einer bevorzugten barocken Stimmung angepasst ist. Intonation ist keine Privatsache, und wer sich auf entsprechende Lehrgänge einlässt, wird reich beschenkt. Ich würde behaupten: das hat zwar mit Physik zu tun, aber man wird auch musikalischer. Als Orientierung über die Vielfalt der Thematik geben ich die Inhaltsübersichten der beiden Hefte, die mir zur Verfügung stehen, beide im Verlag Bärenreiter:

Hemann 1981 Geller 1997

Am E-dur-Dreiklang in der Kreutzer-Etüde Nr. 9 übe ich, den Weg zum obersten Flageolet-Ton zu kontrollieren; damit man nicht zu hoch ankommt. In der letzten Sechzehntelgruppe wahlweise  auch schon mit Flageolets auf e und h, überhaupt dort in der 7. Lage verweilen (+ Sprung) und einfach – spielen.

Der entscheidende Punkt (wie immer): man muss sich motivieren. Ein Beispiel in eigener Sache: der Anblick von Tonleitern ödet mich an, aber die folgende Seite aus Hemann hatte von vornherein mehrere Sympathiepunkte: sie bestätigten die Urstudien von Flesch, die Schradieck-Übungen, die mir seit Jahrzehnten vertraut sind, und in der Anmerkung das Problem mit den höchsten Flageolettönen. Das zieht mich an, und ich bleibe „am Ball“ bzw. im Spiel. Grete Wehmeyers Wort von der „Kerkerhaft am Klavier“ – um es im Stil eines ehemaligen Vorgesetzten zu benennen – ist nicht „zielführend“.

Kann man Intonation heute auch online trainieren?

https://de.wikipedia.org/wiki/Streckung_(Musik) hier

Intonation und historische Stimmungen (Andreas Puhani):

https://musikanalyse.net/tutorials/stimmungen/ hier

BEETHOVEN IX. (Thema Raum)

Die beiden Beethovenaufführungen sind nur dank eines Zufalls in diesen Artikel gelangt: die Genfer Aufführung hat mich als erste durch den Raumeindruck fasziniert, mir schien, dass die Stimmen des Orchesters besser denn je aus dem Gesamttext herauszulesen waren. Ich wollte eigentlich die Sinfonie gar nicht als Ganzes hören und stieg beim langsamen Satz eine, konnte dann aber beim Übergang zum Chor-Finale, das ich früher immer etwas gefürchtet habe, nicht aufhören. Der „Rest“ war gewaltig, ekstatisch, der Bass ein glaubwürdiger Redner und Rufer, der Chor keine geballte Masse an der Grenze zur Hysterie, man war nicht das ferne Publikum, sondern in den Raum mit einbezogen, angesogen, eine riesige Zahl von Sympathisanten und Empathisten, „Millionen“ in der Tat, wie es in Musik und Text behauptet wird.

Weiterhin (immerhin noch bis 1.1.22 abrufbar?):

GENF https://www.arte.tv/de/videos/097958-000-A/ludwig-van-beethoven-die-neunte/ ab 2:12 hier

Vorbei (nur bis 30. Dezember verfügbar – warum? ein Weihnachtswerk?)

WIEN https://www.arte.tv/de/videos/094540-001-A/beethoven-symphonie-nr-9/ ab 3:00 hier