Die Oboe und TIBIA
Ein Nachruf auf Christian Schneider in TIBIA
Am 20. Juni 2021 ist der Oboist und Professor an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und ehemaliger Mitherausgeber der TIBIA, Prof. Christian Schneider, verstorben. Mit ihm verlieren wir einen der prägendsten Hochschulpädagogen für Oboe der letzten Jahrzehnte, einen renommierten Musiker, einen leidenschaftlichen Sammler und Kenner ethnischer Oboeninstrumente, einen akribischen Forscher, einen feinfühligen und großherzigen Menschen.
Christian Schneider wurde 1942 in einer Musikerfamilie geboren: Sein Vater Michael Schneider war gefragter Konzertorganist und Hochschullehrer, seine Mutter und sein Großvater hatten Klavier und seine Großmutter Gesang studiert. Christian Schneider selbst lernte zunächst Geige, musste aber bald feststellen, dass seine Hand dafür zu groß und sein fünfter Finger zu kurz waren: So wechselte er im Alter von 15 Jahren zur Oboe, die ihm ein Nachbar in die Hand gab — und hatte auf diesem nahezu zufälligen Weg sein Instrument gefunden: Bis ins Alter hinein begannen seine Augen bei einem schönen Oboenton zu glänzen, dessen Nähe zur menschlichen Stimme ihn von Beginn an faszinierte. Zum Studium zog es Christian Schneider ins geteilte Berlin, wo er an der Hochschule der Künste (heute UdK) Oboe bei Karl Steins, Solo-Oboist der Berliner Philharmoniker unter Furtwängler und dann Karajan, sowie Musikwissenschaften an der FU studierte. Im Anschluss an sein Studium wurde Christian Schneider Solo-Oboist zunächst der Bochumer Symphoniker und von 1972–1992 der Düsseldorfer Symphoniker/Deutsche Oper am Rhein.
Auch außerhalb des Orchestergrabens war er als Oboist aktiv, unter anderem in gemeinsamen Konzerttourneen mit seinem Vater, bei zahlreichen Einspielungen für verschiedene Plattenfirmen — und in den ersten Ensembles, die sich der Historischen Aufführungspraxis verschrieben hatten: Gut erinnere ich seine Erzählungen von seinem ersten Auftritt mit dem Collegium Aureum, für den er wohl recht kurzfristig angefragt worden war und also nur einige wenige Wochen hatte, um sich auf einer wohl „scheußlichen“ Kopie einer Barockoboe zurechtzufinden… Es folgten Engagements bei der Capella Coloniensis, der Camerata Instrumentale und der Hamburger Telemann-Gesellschaft, und auch wenn er seine Tätigkeit als Barockoboist schließlich einstellte und seinen spielerischen Fokus wieder voll auf die moderne Oboe richtete, blieb er der „Szene“ und ihren Protagonisten stets überaus freundschaftlich und wohlwollend verbunden: Dies belegt auch seine Tätigkeit als Mitherausgeber der TIBIA, für die er zahlreiche Fachartikel zu oboengeschichtlichen Themen sowie Musikerporträts verfasste (s. u.).
Überhaupt war es Christian Schneider eine Herzensangelegenheit, seine Erfahrungen und sein Wissen mit anderen zu teilen und an die jungen Generationen weiterzugeben: Parallel zu seinen musikalischen Aktivitäten unterrichtete er zunächst als Lehrbeauftragter und ab 1992 als ordentlicher Professor in der Nachfolge Helmut Huckes die Oboenklasse an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und bildete dort eine Vielzahl junger Oboisten aus, die bis heute prominente Stellen an Hochschulen und in führenden Orchestern wie dem Gürzenich Orchester Köln oder dem Bayerischen Staatsorchester bekleiden. Als wacher Zuhörer und einfühlsames Gegenüber widmete er sich mit größter Aufmerksamkeit seinen Studenten und neben seinen hervorragenden fachlichen Fähigkeiten war es diese menschliche Feinfühligkeit und Offenheit, die ihn zu einem einzigartigen Pädagogen machten: Er motivierte seine Studenten dazu, ihren individuellen Weg zu finden und zu gehen und unterstützte sie darin nach Kräften. Beispielsweise war er derjenige, der mir als Schülerin, von meiner Begeisterung für die Blockflöte und die Alte Musik wissend, eine Barockoboe samt Rohr in die Hand drückte („Probier’ doch mal“) und den Kontakt zu seinem Freund Alfredo Bernardini herstellte: Eine Starthilfe und Unterstützung, für die ich ewig dankbar bin.
Auch in internationalen Meisterkursen in Europa, Japan und den USA ging Christian Schneider seiner Leidenschaft fürs Unterrichten nach. In bester Erinnerung sind auch die Sommerkurse in der Nähe seines Hauses in Südfrankreich, die stets mit Besuchen auf Rohrholzplantagen der Firma Rigotti verbunden wurden.
Eine weitere große Leidenschaft hatte Christian Schneider für Oboen der Traditionellen Musik: Unvergessen bleibt die Atmosphäre in seinem Arbeitszimmer in einer schönen Düsseldorfer Altbauwohnung, in welchem neben Büchern hunderte Oboen aus allen Ecken der Welt an den Wänden vom Boden bis unter die hohen Decken aufgereiht standen: ein einmaliger Anblick. Was im Jahr 1974 mit einem Geschenk, einem Volksinstrument aus Afghanistan, begonnen hatte, wurde zu einer regelrechten Sammelmanie, stets verbunden mit akribischer Forschung. Reiselust für abenteuerliche Reisen mit seiner Frau in die entlegensten Winkel Asiens, Kontaktaufbau und -pflege zu Spezialisten, größte Achtung vor den Traditionen fremder Kulturen und eine unglaubliche Begeisterung für die unterschiedlichsten Oboenklänge waren der Nährboden für diese einzigartige Instrumentensammlung, die immer wieder auch in Ausstellungen präsentiert wurde. Nach seinem Ruhestand im Jahr 2007 widmete sich Christian Schneider mit besonderer Aufmerksamkeit der Dokumentation seiner Sammlung; eine mühevolle Arbeit, die durch gesundheitliche Probleme zunehmend erschwert wurde. Dank der unendlichen Unterstützung durch seine Frau liegt nun im Privatdruck der Band Der Magische Klang — Eine Reise in die Welt der traditionellen Oboeninstrumente vor, der in seiner so liebevollen und in jeglicher Hinsicht hochwertigen Gestaltung ein wunderbares Zeugnis dieser einzigartigen Leidenschaft darstellt. Die Sammlung selbst ist inzwischen als Teil der Ethnologischen Abteilung der Staatlichen Museen zu Berlin an Christian Schneiders Studienort zurückgekehrt.
Die Welt der Oboisten, die Welt der Hochschullehrer, die Welt der Instrumentensammler, das Team der TIBIA trauert um einen ihrer bedeutendsten Protagonisten und ist dankbar für viele Jahre des gemeinsamen Musizierens, der intensiven Ausbildung, der bereichernden Gespräche, der guten Zusammenarbeit und der klugen Ratschläge. Auf den Bühnen, in den Hochschulen und in der Forschung rund um die Oboen dieser Welt wird sein Schaffen noch lange nachklingen.
Clara Blessing (Quelle des Textes und der unten folgenden Liste: www.moeck.com/tibia/ Portal für Holzbläser)
abrufbar HIER
oben: Köthener Bachfesttage 2018, Eröffnungskonzert | Midori Seiler, Clara Blessing, Köthener BachCollektiv (Vimeo Folkert Uhde u.a. hier)
Beiträge von Christian Schneider in der Zeitschrift Tibia (in chronologischer Folge):
- – Hans Deinzer. Ein Porträt, in: Tibia 1/1983, S. 269–271
- – Die Pflege der Oboe und Ratschläge für kleinere Reparaturen, in: Tibia 3/1983, S. 421–427
- – Zur Frage des „Stimmlochpflockes”, in: Tibia 2/1985, S. 366–368
- – Oboeninstrumente der Volksmusik. Versuch der Ein- und Zuordnung einer Sammlung, Teil I, in: Tibia 1/1986, S. 7–13; Teil II, in: Tibia 2/1986, S. 88–102
- – Spanische Instrumente in Brüssel, in: Tibia 2/1986, S. 123–124
- – Karl Steins. Ein Porträt, in: Tibia 3/1986, S. 192–196
- – Patente, in: Tibia 4/1986, S. 277
- – Léon Goossens zum 90. Geburtstag, in: Tibia 3/1987, S. 508–510
- – Beate Zelinski/David Smeyers. Ein Porträt, in: Tibia 1/1988, S. 23–26
- – Ein Besuch im Moskauer Instrumentenmuseum, in: Tibia 3/1987, S. 519–521
- – William Waterhouse. Ein Porträt, in: Tibia 3/1988, S. 197–201
- – Rekordverdächtig, in: Tibia 2/1989, S. 440
- – Hohes Holz. Oboeninstrumente der Sammlungen Karl Ventzke und Gunther Joppig. Eine Ausstellung in Düren, später München, in: Tibia 2/1989, S. 440–441
- – Helmut Winschermann. Ein Porträt, in: Tibia 1/1990, S. 35–41
- – IDRS – Jahreskongreß in Manchester, in: Tibia 1/1990,S. 52–53
- – Evelyn Rothwell. Ein Porträt, in: Tibia 4/1990, S. 288–293
- – Franz Klein. Ein Porträt, in: Tibia 1/1992, S. 39–45
- – Das musikalische Album der Jenny Vény, in: Tibia 3/1992, S. 208–214
- – Die Permanentatmung auf der Oboe, in: Tibia 1/1993, S. 352–354
- – Bruce Haynes. Ein Porträt, in: Tibia 4/1994, S. 277–279
- – Lothar Faber. Ein Porträt, in: Tibia 1/1997, S. 347–352
- – Didaktik für die Barockoboe, in: Tibia 2/1997, S. 443–444
- – Zur Entstehung des Oboenkonzertes von Bohuslav Martinu, in: Tibia 4/1997, S. 575–577
- – Musik für Oboe und Orgel – Bestandsaufnahme der originalen Literatur, in: Tibia 4/1997, S. 585–590
- – Die traditionellen Holzblasinstrumente der Schneider im Kathmandu-Tal, in: Tibia 1/1998, S. 33–40
- – Musik für Oboe und Orgel – Bestandsaufnahme der originalen Literatur. Ein Nachtrag zu dem gleichnamigen Aufsatz aus TIBIA IV/97, S. 585–590, in: Tibia 3/1999, S. 549–551
- – Fritz Flemming (1873–1947) – Wegbereiter der französischen Oboe in Deutschland, in: Tibia 1/2002, S. 19–28
- – Han de Vries. Ein Porträt, in: Tibia 4/2002, S. 250–259
- – Überraschung in Hanoi: Die Musikinstrumentensammlung im vietnamesischen musikwissenschaftlichen Institut, in: Tibia 3/2003, S. 507–508
- – Paul Wieprecht und die Wiederentdeckung der Oboe d’amore in Deutschland, in: Tibia 4/2003, S. 579–584
- – Lothar Koch 1935-2003, in: Tibia 4/2003, S. 591
- – Die Musikinstrumentensammlung im Royal College of Music, London, in: Tibia 1/2004, S. 37–39
- – Nachruf auf Jiri Tancibudek, in: Tibia 3/2004, S. 201
- – Alfredo Bernadini. Ein Porträt, in: Tibia 2/2005, S. 417–426
- – Lady Evelyn Barbirolli (1911 – 2008), in: Tibia 3/2008, S. 210–211
- – William Waterhouse (18.02.1931 – 05.11.2007), in: Tibia 3/2008, S. 212
- – Karl Steins (1919–2009), in: Tibia 3/2009, S. 516
- – Außergewöhnliche Hilfsbereitschaft: Sammler auf der Suche nach Raritäten in China, zwei Begegnungen, in: Tibia 3/2013, S. 517–519
Biographisches zu Clara Blessing, die den Nachruf auf ihren Lehrer Christian Schneider geschrieben hat. Sie gehört heute schon zu den herausragenden Erscheinungen der jungen Generation, die das Spiel der historisch adäquaten Instrumente nicht als exotische Sonderleistung betrachtet, sondern als selbstverständliches Ausdrucksmittel, wie man im obigen Vimeo überzeugend erleben kann. Weiteres auf der Website (mit Klangbeispielen) : hier.
Im folgenden die früheste Aufnahme, die mir von Christian bekannt ist (mit moderner Oboe):
oben: Rundschau 26. November 1986
unten: Christians letztes Werk. (Das Foto im Epilog zeigt ihn mit „historischer“ Oboe.)
Erhältlich über Clara Blessing hier.