Archiv für den Monat: Mai 2016

Erwin Bodky NEU!

Bodky neu

Bodky Inhalt a  Bodky Inhalt b

Erwin Bodkys erstes Buch „Der Vortrag alter Klaviermusik“ (Max Hesses Verlag , Berlin 1932) war schon erstaunlich genug. Nach seiner Vertreibung aus Berlin und 25 Jahren weiterer Forschung brachte er 1960 in den USA dieses umfangreiche neue Buch heraus, das zum Standardwerk wurde. Originalausgabe „The Interpretation of Bach’s Keyboard Works“ Harvard Univdersity Press Cambridge, Massachusetts 1960. Die Übertragung von Maidy Wilke erschien 1970 bei Hans Schneider Tutzing. (Vgl. auch Artikel Erwin Bodky ALT).

Es entbehrt nicht der unfreiwilligen Ironie, wenn im Geleitwort des Verlages hervorgehoben wird, dass Hans Joachim Moser (der als NSDAP-Mitglied dem Regime jahrelang ideologisch zugearbeitet hat) „für viele Jahre mit dem Verfasser als Kollege an der Akademie der Tonkunst in Berlin freundschaftlich verbunden“ war. Siehe auch Mosers Biographie hier.

Reiselektüre auf der Fahrt nach Freiburg und zurück. Bodky zitiert Moser mindestens 9 mal und meistens mit positiver Einschätzung… Aber auch Moser hatte seinen (jüdischen) Kollegen Bodky im 1935 veröffentlichten Bach-Buch durchaus wohlwollend zitiert:

Bodky bei Moser

Bahn SG Krozingen & zurück

In Fritz Neumeyers Reich

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(Handy-Fotos JR aus der Bad Krozinger Sammlung)

Auch die Bibliothek, die sich in den Bücherschränken von Neumeyer-Junghanns-Tracey angesammelt hat, ist gewaltig. Ein Buch von Erwin Bodky habe ich allerdings vermisst. Ich glaube, das lag auf einer anderen Traditionslinie. Aber die meisten dieser Linien, auch meine, führen zurück nach Berlin, wo mit Curt Sachs und seinen Kollegen alles begann, nicht zuletzt die Musikethnologie, wenn nicht die NS-Zeit der frühen Berliner Blüte alsbald ein Ende bereitet hätte. (Ab 1930 war Marius Schneider Assistent bei Curt Sachs und Erich Moritz von Hornbostel gewesen, ich lernte bei ihm ab 1967 in Köln „Vergleichende Musikwissenschaft“ und schloss mein Studium 1971 bei seinem Nachfolger Josef Kuckertz ab, der 1980 wiederum nach Berlin, an den frühen Ort der musikhistorisch-ethnologischen Initiativen, wechselte.)

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Wieder nur ein paar Töne von Bach

Gustav Leonhardt erläutert in der Sendung „Reiziger in Muziek“ (Sendedatum vermutlich 2001) – pars pro toto – ein Detail beim Vortrag der Sarabande aus der Französischen Suite II. Genau genommen die Länge des Tones e“ in Relation zur nächsten Umgebung. Gewiss – ein Sechzehntel, jeder sieht es. Aber am Cembalo verändert es seinen Wert auf irrationale Weise…

Leonhardt Screenshot 2016-05-27 22.29.24 Hier zum Video und dort auf 21:30 gehen!

Franz Suite Leonhardt

Ab 23:24 schön: weniger reden („praten“) als spielen! Bei 24:19 falsches Notenbild (andere Sarabande), 25:16 rechte Seite o.k. Sarabande, eine Melodiestimme, 2 begleitende Stimmen, für das ganze Stück, auf 2 Manuale zu verteilen, so dass die Melodie stärker ist (es geht auch anders), 25:58 während er beginnt zu spielen: wieder falsches Notenbild (bitte auf das hier oben gegebene Beispiel schauen), Melodietöne 1-6 innerhalb der Harmonie… warten vor dem hohen Ton = neue Harmonie (der Vorschlag c ist offenbar ein unauthentischer Zusatz), Durchgang mit dem harmoniefremden Ton d (über dem Bass-Es) auf Zählzeit 2: linke Hand ganz lang gehalten, rechte Hand beweglich, nicht genau vertikal zusammen „kloppen“, keine Attacke auf dem Ton d, – weicher wird es dadurch, dass man den vorherigen Ton es“ noch weiterklingen lässt, während das d schon angeschlagen wird, 2 Versionen ab 27:57 – bei den ersten beiden Schlägen weiß man noch nicht, dass es ein dreiteiliger Takt ist, das Warten auf dem dritten Schlag bewirkt jetzt, dass die 1 im nächsten Takt bedeutungsvoller wird. Spannung auf 1 wird gehalten.

29:25 korrektes Notenbild – ohne die kleinen Zusatzzeichen meiner Henle-Ausgabe: sie stammen übrigens aus anderen abschriftlich überlieferten Versionen des Bach-Kreises. Merkwürdigerweise spielt Leonhardt aus einer didaktischen Ausgabe (Tempoangabe „Andante“ ist natürlich Zusatz des Herausgebers), und die auf der linken Seite eingeklebte Sarabande g-moll (siehe 24:22) hat er aus BWV 823, dem Fragment einer Suite in f-moll, umgeschrieben, wohl zu Vergleichszwecken.

Anhörenswert auch vorher (ab 16:46 bis 17:54 Bach im Vergleich zu anderen Komponisten „so organisch“), wenn Leonhardt von seinem Experiment erzählt , 3 Takte aus einem Werk herauszuschneiden und die „Probanden“ um Rekonstruktion zu bitten. Es ist unmöglich, – anders als bei Händel zum Beispiel. „Bach ist ein Mirakel!“

***

Zu melodisch freien Gestaltung

Er zitiert Carl Dahlhaus: Man kann sich die Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts sehr gut ohne Bach vorstellen, – aber die des 19. Jahrhunderts nicht.

Ab 23:04 über metrische Verschiebung zwischen der linken und der rechten Hand. Hören Sie Klavierspiel um 1930: da wird alles arpeggiert… notiert übereinander und doch nicht gleichzeitig angeschlagen… Frühzeit des 20.Jahrhunderts im Namen einer sachlichen Interpretation … Tempo, Phrasierung, Artikulation … „Goldberg“: über vorgegebener Bass-Progression möglichste Vielfalt … 26:40

Und ein paar chromatisch absteigende Töne von Jan Pieterszoon Sweelinck

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HIER ab 38:18 Ton Koopman 1982  Länge 9:45 (bis 48:03)

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HIER Seite A ab 13:00 Fritz Neumeyer 1962 Länge 8:27

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Man vergleiche die beiden Interpretationen hinsichtlich des Tempos und der Agogik: linke und rechte Hand – auf den Punkt genau zusammen? oder in der Vertikalen verzogen? Gibt es Beschleunigung oder Verzögerung?

Man muss nicht glauben, dass das Rubato oder das mit agogischer Freiheit behandelte Tempo eine Erfindung der späteren Zeit sei, in der man es genauer zu benennen und zu notieren suchte. Es ist ein menschliches Grundbedürfnis ebenso wie lebendige Deklamation oder die Wahl zwischen motorischer oder tänzerischer Rhythmik. Ich werde demnächst auch an einem ausführlichen Beispiel zeigen, wie intensiv man dieses Problem (?) der Vortragsart in der indischen Musik sieht und handhabt.

Paul Badura-Skoda zitiert, wie Carl Philipp Emanuel Bach das Rubato in aller Ausführlichkeit behandelt, und fügt hinzu, dass es so für Vater Bach genauso wie für Chopin anwendbar sei:

Hierher gehört auch das Tempo rubato. In der Andeutung desselebn haben die Figuren bald mehrere, bald weniger Noten als die Eintheilung des Tactes erlaubet. Man kann dadurch einen Theil des Tactes, einen ganzen, auch mehrere Tacte, so zu sagen verziehen. … Wenn die Ausführung so ist, daß man mit der einen hand wider den Tact zu spielen scheintindem die andere aufs pünctlichste alle Tacttheile anschläget: so hat man gethan, was man hat thun sollen. Nur sehr selten kommen alsdenn die Stimmen z u g l e i c h im Anschlagen … E gehört zur richtigen Ausführung dieses Tempo’s viele Urtheils-Kraft und ganz besonders viel Empfindung. Wer beydes hat, dem wird es nicht s chwer fallen, mit aller Freyheit, die nicht den geringsten Zwang verträgt, seinen Vortrag einzurichten, … Hingegen wird bey aller Mühe, ohne honlängliche Empfindung nichts rechts ausrichten können werden. Sobald man sich mit seiner Ober-Stimme sclavisch an den Tact bindet, so verliert dies Tempo sein Wesentliches, weil alle übrigen Stimmen aufs strengste nach dem Tacte ausgeführt werden müssen. Außer dem Clavier-Spieler können alle Sänger und Instrumentalisten, w e n n  s i e  b e g l e i t e t  w e r de n, dieses Tempo viel leichter anbringen als der erstere, zumal, wenn er sich allein begleiten muß … In meinen Clavier-Sachen findet man viele Proben von diesem Tempo. Die Eintheilung und Andeutung davon ist so gut, als es seyn konnte, ausgedrückt. Wer Meister in der Ausführung dieses Tempo’s ist, bindet sich nicht allezeit an die hingesetzten Zahlen 5, 7, 11 usw. Er macht zuweilen mehrere, zuweylen weniger Noten, nachdem er aufgeräumt ist, aber allerzeit mit der gehörigen Freyheit.

Carl Philipp Emanuel Bach: Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen / Dritte Auflage (S. 99 f., Zusatz zu S. 129 der ersten Auflage). Hier zitiert nach:

Quelle Paul Badura-Skoda: BACH Interpretation / Laaber Verlag 1990 / Seite 75 f

(Fortsetzung folgt)

Gamander oder Gundermann

Was ist das, was ich eben aus dem Garten mitbrachte?

Gamander Ehrrenpreis

Es ist kein Veilchen, das ist klar. Mit allen Wurzeln höb ich es aus… Nein, nur ein landläufiges Unkraut. (Unkraut? Kenne ich nicht…) Vielleicht ein Vergissmeinnicht? Wäre das nicht eher dies:

Vergissmeinnicht (bitte anklicken, wegen der Blüten)

Sie sehen: ich habe entdeckt, dass man Blümchen einfach scannen kann. Wovon Goethe, als er im Walde so vor sich hin ging, noch keine Ahnung hatte… Und wenn ich jetzt nachschlage (auch sein Gedicht Gefunden) und bei Wikipedia fündig werde, interessiert mich jeder Satz über das Pflänzchen. Aber welches von beiden? Schauen Sie selbst, hier!

Vgl. auch meine triumphale Benennung des „Stinkenden Storchschnabels“ am Anfang dieses Blogeintrags über Trappeto hier.

Heute könnte ich behaupten, dass der Storchschnabel (nicht der eben genannte, sondern der schlechthin) meine Lieblingsblume ist, – wenn es nicht so viele Arten gäbe, dass eine Differenzierung unausweichlich wäre. Ich werde mit Wikipedia beginnen und dann vor die eigene Haustüre schauen…

Storchschnabel

Koinzidenz

Die Zeitschrift LANDLUST (Mai/Juni 2016) widmet dem Gundermann, vor allem weil er dekorativ und – in allen seinen Teilen (jedenfalls Blüten und Blättern) – essbar ist, einen schön bebilderten Artikel:

Gundermann Landlust

Und heute (Heft Juli/August 2016) eine vorsichtige Korrektur: der Gundermann ist im Übermaß giftig – von Ziegen auf der Weide gefressen. In „menschlicher“ Dosierung nicht. Zudem lernt man, den Gundermann vom Günsel zu unterscheiden: die rundlichen Blätter sind das Indiz. „Gundermann hat fast kreisrunde, gekerbte Blätter. Günsel hat eiförmiges, glänzendes Laub; die Blüten sitzen sehr viel dichter.“ Ajuga reptans und Glechoma hederacea.

Wäre das nicht ein guter Einstieg in die Botanik? Einfach genauer hinzusehen?

Nachtrag 12. April 2018

Habe ich damals nun wirklich vergessen zu recherchieren, was es mit Gamander Ehrenpreis auf sich hat? Unverzeihlich, hier ist das Kraut…

Peinlich, reingefallen! Den Link hatte ich schon oben gesetzt, aber nicht dazugeschrieben, dass Gamander-Ehrenpreis identisch ist mit dem Wilden Vergissmeinnicht…

Und dieses ist nicht zu verwechseln mit dem – Vergissmeinnicht, wobei in diesem Link besonders der Absatz Etymologie zu beachten ist:

Allerdings sei der Name „Vergissmeinnicht“ früher eher für die Pflanzenart Veronica chamaedrys („Gamander-Ehrenpreis“) verwendet worden. Grund hierfür war die rasche Vergänglichkeit der Blüten und ihr leichtes Abbrechen, was mit der den Männern nachgesagten Treulosigkeit verglichen wurde. Andersherum wird gleichsam überliefert, dass die Blüten die Frau an ihren Geliebten und ihre versprochene Treue erinnern sollte. Vergissmeinnichte und Ehrenpreise wurden in früherer Zeit auch „Männertreu“ genannt (heute heißt die Pflanzenart Lobelia erinus so). Andere Volksnamen sind „Froschäuglein“ und „Katzenauge“, wobei Letzteres wiederum eher den Ehrenpreis meint.

Quelle Wikipedia zu Vergissmeinnicht (s.o.)

Aber fragen Sie mich all dies nicht, wenn ich gerade keinen Laptop zur Hand habe…

Archipel Cembalo

Ein Weg zur Erkundung: Paris 2014

Ist es wirklich ein Archipel, der vor dem Kontinent der Klaviere liegt?

Bach Paris 2014 Screenshot 2016-05-24 09.07.40

L’INTÉGRALE DE L’ŒUVRE POUR CLAVECIN DE BACH, JOUÉE PAR LES MEILLEURS CLAVECINISTES SUR DES INSTRUMENTS ISSUS EN GRANDE PARTIE DE LA COLLECTION DU MUSÉE DE LA MUSIQUE. UN ÉVÉNEMENT.

HIER

Ich komme auf diesen Weg durch den Hinweis in einem Gespräch, das Robert Hill mit „Musik&Ästhetik“ geführt hat (Heft 73 Januar 2015): „Quo vadis, ‚Alte Musik‘?“ Er beschäftigt sich mit der Frage, wieviel Agogik im Cembalospiel angemessen ist, und vermutet, „dass die Unabdingbarkeit der Agogik im Cembalospiel zwangsläufig zu einer fundamentalen Konfrontation mit den heute immer noch maßgeblichen Spielregeln der Neoklassik führt.“ Und weiter:

Durch seine Spielart gibt jeder Cembalist Antwort auf die Frage, wie konform seine Vorstellungen mit den orthodoxen Stilmaßstäben des vergangenen Jahrhunderts läuft. Einen historischen Überblick über diesen doch sehr heiklen Aspekt des Cembalospiels kann sich jeder durch einen halbstündigen Streifzug von Aufnahmen professioneller Cembalisten auf YouTube leicht verschaffen.

Ganz so leicht ist es doch nicht, da die in der Anmerkung angegebene Youtube-Adresse nicht funktioniert. Richtig ist die Bemerkung: „Diese Videos sind unter herausragenden technischen Bedingungen entstanden und verschaffen dadurch gute Vergleichsmöglichkeiten zwischen den Interpretationen.“ Zugegeben: mich hat auch der Hinweis gereizt, dass das in einer halben Stunde zu bewältigen ist. Nun werde ich Tage damit verbringen… Zunächst muss eine Namensliste her:

Jean-Luc Ho / Céline Frisch / Andreas Staier / Béatrice Martin / Aurélien Delage / Benjamin Alard / Blandine Rannou / Kenneth Weiss / Violaine Cochard / Davitt Moroney / Christine Schornsheim / Rinaldo Alessandrini / Olivier Baumont /

(Fortsetzung folgt)

Wo liegt Trappeto?

In Solingen-Ohligs!

Solingen-Trappeto Screenshot 2016-05-22 22.43.49 Screenshot (anklicken, lesen!)

Dies ist ein Projekt, an dem mich die mediale Form der Präsentation ebenso interessiert wie das Thema, das für mich zunächst eine sonderbare Beziehung zu Goethe hat. Wie man anhand des Links hier leicht verstehen kann. Andererseits fasziniert es mich, ins Medium einzutauchen, um in meinem Wohnort, in den Straßen, die ich täglich per Fahrrad durchmesse, wieder aufzutauchen. Ich bin hier zu Hause und erkunde nun probeweise Trappeto in Sizilien. Vielleicht bin ich eines Tages leibhaftig dort, um Goethes Urpflanze innerlich anzuschauen, auf die er schwerlich in meinem Wildgarten gekommen wäre, sagen wir in Gestalt des Ruprechtskrautes, auch genannt: „Stinkender Storchschnabel“. Selbst ER brauchte die Gärten des Südens! Wie mir dieser nahezu sinnfreie Gedankensprung gefällt!!!

Ruprechtskraut

Kürzlich nach 33 Jahren von mir erstmalig benannt… Quelle: BLV Bestimmungsbuch Farbige Pflanzenwelt / Th.Schauer & C.Caspari / BLV Verlagsgesellschaft München 1983 (S.64)

Doch zurück zur Sache.

Mit der oben apostrophierten Sendung sollte man sich beschäftigen, schon aus Neugier am Medium, hier ist der Link.

Besondere Überraschung: ganz am Ende erwartet uns eine ausgewachsene Radiosendung von 28 Minuten. Danke, DeutschlandradioKultur!

Trappeto Radio Screenshot 2016-05-23 09.15.13 Screenshot

Und weiter zur Autorin Michaela Böhm und ihren spannenden multimedialen Projekten hier.

Dank für den Hinweis an JMR.

P.S. 30.11.2016 Es geht weiter:

trappeto-im-st-161130

Klavier-Koinzidenz bei Kwast 1921

Fritz Neumeyer

Bei meinen Studien zum Werdegang des „Vaters“ der historischen Aufführungspraxis, den alle Kollegen „Onkel Fritz“ nannten (siehe auch bei Wikipedia hier), stieß ich auf die folgende Eintragung:

Neumeyer 1921 bitte anklicken!

Quelle Fritz Neumeyer: Wege zur Alten Musik Hg. Jürgen Böhme / Stationen und Dokumente / Röhrig Universitätsverlag St. Ingbert 1996 (Seite 36)

Natürlich war mir längst klar, dass er nur anderthalb Jahre vor meinem Vater geboren ist (7. Dez. 1901), aber das heißt ja noch lange nicht, dass sie voneinander gewusst haben, wenn der eine aus Saarbrücken stammt, der andere aus Belgard (Hinterpommern). Und doch, sie müssen sich sogar begegnet sein, auf halbem Weg (in Berlin), sie hatten sogar das gleiche Berufsziel und studierten am gleichen Ort bei denselben Professoren!

Artur bei Kwast Artur bei Kwast Medaille Artur ca 1925

Die Fotografie ist nicht datiert, wahrscheinlich war mein Vater zu dieser Zeit schon älter und brauchte ein Foto für die Bewerbungen als Kapellmeister. Ich will die beiden Künstler gar nicht vergleichen, sie sind beide keine Dirigenten geworden. Unter der Bescheinigung steht der Name des Direktors Alexander von Fielitz (siehe bei Wikipedia hier), und James Kwast war damals ein berühmter Lehrer (siehe bei Wikipedia hier).

Wer weiß, ob es nicht trotz gleicher Ziele eine unüberwindliche Schranke gab: nie im Leben hätte mein Vater „geistliche Gesänge“ oder gar Marienlieder komponiert…

Beide haben unter dem Theaterdienst ihrer Kapellmeisterzeit gelitten, Neumeyer hat sich der Alten Musik zugewandt, mein Vater hat ab 1930 noch ein zweites Studium durchgezogen: Schulmusik. Er brauchte Sicherheit, denn – zu meinem (sowie meiner Brüder, Kinder und Enkel) Glück – war eines klar: er wollte eine Familie gründen. Neumeyer blieb Junggeselle und machte seine Ersatz-Familie, die er ausdrücklich so benannte, zum Lebensthema: seine Clavier-Sammlung.

Neumeyer aus Saarbrücken am 28. September 1924:

Morgen fängt der Dienst am Theater an. Das ganze „Musikleben“ in seiner Sinnlosigkeit ist mir mehr und mehr zuwider. Ausnutzen lasse ich mich nicht mehr. Von 10 bis 1 Proben, was darüber ist, gegen Bezahlung, auch der Bühnendienst.

Der letzte Theatervertrag meines Vaters in Stralsund vom 24. September 1928:

Artur Stralsund Vertrag1929 a Artur Stralsund Vertrag b 1929

(Interessant auch die nachfolgenden 6 Seiten mit „Kleingedrucktem“…) Weiteres zum Theater Stralsund hier. Die Verbindung meines Vaters zur Alten Musik zeigt ein Programm seines späteren Berliner Klavierlehrers Prof. Erwin Bodky (der bald nach dem Juni-Konzert 1933 nicht mehr lehren durfte!):

Bodky 1932  Bodky 1933

Bodkys Buch Der Vortrag alter Klaviermusik, Berlin Hesse, 1932 (Max Hesses Handbücher. 95.) stand zeitlebens im Bücherschrank meines Vaters. Ich habe es Mitte der 50er Jahre gelesen. Bemerkenswert, dass Prof. Dr. Robert Hill, seit 1990 Lehrer für historische Aufführungspraxis an der Freiburger Musikhochschule, schon 1982 den Erwin Bodky Award erhalten hatte.

Interessant, dass der Pianist, der im Programm von 1932 vor meinem Vater die Skrjabin-Sonate gespielt hat, Hans Rutz, Ende der 50er Jahre Abteilungsleiter Oper und Symphonie im WDR Köln war. Während der Interpret der Biblischen Sonate von Kuhnau, Helmut Banning, 1938 über den Thomaskantor Johann Friedrich Doles promovierte und auch als Komponist wie als Organist erfolgreich war.

Ebenfalls interessant könnte die folgende Information zur Gegenwart sein:

Krozingen Screenshot 2016-05-21 11.28.20 s.a. hier

Pressetext:

Fritz Neumeyer gilt vielen als Vater der historischen Aufführungspraxis, da er ernst gemacht hat mit den Originalinstrumenten, also vor allem mit den Tasteninstrumenten, für die die alte Musik geschrieben worden ist. Er hat ein halbes Jahrhundert überschaut und beeinflusst. Aber was in den Generationen nach ihm geschah, hätte ihn sicher nicht wenig verwundert, vor allem was an rhythmisch-agogischer Freiheit gewagt wurde, und ganz besonders: im Tempo.

Am Ende ging es nicht allein um die historisch korrekte Verortung der Werke, um den Klang, um Erforschung und Amalgamierung der Ornamentik, sondern auch um die Befreiung von „Inkrustationen“. In der Alten Musik sollte man durchaus den Atem unserer Zeit spüren, und zunächst klang es ja schon moderner, wenn man den tieferen Stimmton wählte, den Geigenbogen anders fasste und Darmsaiten verwendete, die entspannter und obertonreicher klangen, auf Vibrato verzichtete, das zunehmend als „uncool“ empfunden wurde. Auf dem Cembalo begann man Bachs Fingersätze einzuüben, was neue Ideen generierte, die durchaus mit der „Inegalität“ der Finger zu tun hatten.

Als Ensemble-Mitglied plädierte „Onkel Fritz“ gern für einen natürlichen Zugang zur Musik, er neigte nicht zur Exzentrik, zur Selbstinszenierung, zur Verblüffung des Auditoriums. Aber wenn man seine feinsinnigen Marien-Kompositionen und die Bearbeitungen lothringischer Volkslieder kennt, weiß man, dass er zwar ein sanfter Revolutionär war, der aber auch den Gestus des wilden Lindenschmieds umzusetzen wusste. (JR)

Nachtrag 24. Mai 2016 

Heute morgen Vierhändig-Probe Mozart C-dur KV 521 und Orgel-Walze KV 608 mit Konrad Burr, den ich seit 1966 kenne. Neumeyer-Schüler. Er brachte die folgende Schallplatte mit:

Neumeyer & Konrad mit Ristenpart (bitte anklicken)

Endgeiler Journalismus

„Doofe Frage: Aber was denken Sie, während Sie Beethoven spielen?“ 

Levit Uslar ZEIT Schlagzeile

Angenommen, es geht um den Anfang der Waldstein-Sonate, die repetierten Achtel, warum einen das umhaut (den Moritz jedenfalls), dann meint Igor:

Weil er einfach so unglaublich geil ist. Weil er so aberwitzig abgeht. Weil er so bebt. Es ist ein Erdbeben. Herzschlag dreihundert. Es ist pures Leben. Du kannst auf dem Klavier kein Vibrato erzeugen, das geht nicht, du schlägst den Ton an, der Hammer berührt die Saite, Punkt, der Ton verklingt. Wie entsteht ein Vibrato, wie kriegt man das Klavier zum Vibrieren? Es ist ein endgeiler Anfang.

Es gibt Unsinn, der vielleicht Sinn ergibt, wenn man hinzurechnet, dass eben das Herz überfließt. Mit Vibrato hat der Anfang ja nun wirklich nichts zu tun, aber da zugleich vom Erdbeben, Herzschlag, vom puren Leben die Rede ist, könnte man es so hinnehmen. Aber wie lange? Und ohne Musik?

Ich finde durchaus, dass man dieses Interview lesen sollte. Schon um zu erfahren, wie jemand einem bekanntlich sehr guten Beethoven-Pianisten 32 Fragen über Beethovens 32 Sonaten stellen kann, ohne dass dabei etwas Triftiges zum Vorschein kommt. Nicht jeder Pianist muss wie Alfred Brendel reflektieren können. Aber Levit hätte Anspruch auf einen Gesprächspartner, der nicht einfach nur alle Sonaten verbal abgeklappert haben will. Die Sprachnot selbst angesichts der Musik könnte Thema sein, doch hier hilft niemand, der den Musiker nur auf falsche Fährten lockt.

Ich sage: Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht über die Hammerklaviersonate nachdenke. Woran das liegt? Da könnte ich mich jetzt hinsetzen und ein Buch darüber schreiben.

Bitte nicht! Vor allem soll er Mode-Musik-Meinungsmacher meiden und weiterhin spielen, nichts als spielen! Egal, was er sich dabei denkt…

Was passiert in meinem Kopf, wenn ich spiele? Ich sehe immer Menschen. Immer. Und immer andere Menschen. Ob ich sie kenne, weniger oder mehr mag oder liebe: Ich bin menschenfixiert.

Gut. Aber nicht mit ihnen reden!!! Und nichts aufschreiben, und die auch nichts aufschreiben lassen! Es ist besser sich auf das zu beschränken, was längst gesagt wurde:

Je häufiger ich eine Sonate spiele, je mehr ich damit arbeite, desto weniger verstehe ich sie, desto mehr entfernt sie sich von mir, desto glücklicher werde ich damit, und desto öfter will ich sie spielen.

Soweit Igor Levit. Aber …

Quelle DIE ZEIT 19. Mai 2016 Seite 41 Es ist so unheimlich geil/ 2020 ist Beethoven-Jahr, der 250. Geburtstag des Komponisten. Der deutsch-russische Pianist Igor Levit, als Virtuose gefeiert, bereitet sich schon jetzt auf das große Jubiläumsjahr vor. Moritz von Uslar stellt ihm 32 Fragen zu Beethovens 32 Klaviersonaten.

Aber … ist das nicht ein Satz von Karl Kraus? „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.“ Nur das Glück fehlt hier noch. Oder ist es die Zeit? Oder die Reife? Und dann schlage ich die Radio-Zeitung auf und erinnere mich ruckartig, dass mysteriöse Aussagen in der Werbung für klassische Musik Hochkonjunktur haben, weil sie doch so superrätselhaft ist. Das ist einfach der Preis der Event-Publicity. Und das gilt auch für mich: Je weniger ich eine Sache zu verstehen vorgebe, desto eher vertrauen mir die Leute, die auch nichts davon verstehen. Danke! Ich scherze nur! Ich weiß wirklich nix. Ich bin nur geil auf Musik.

Bronfman Beethoven Foto (Ausschnitt) WDR/Imago

Den Geiger Arzberger nicht vergessen!

Das Leipziger Streichquartett damals:

Leipziger Str-quartett 1

Leipziger Str-quartett 2

Leipziger Str-quartett Foto

Fabelhafte Haydn-Aufnahmen, diese vom 13.-14. Januar 2014

Meldung in Musik heute :

Stefan Arzberger verlässt Leipziger Streichquartett

07. Dezember 2015 – 12:19 Uhr

New York/Leipzig – Das Leipziger Streichquartett hat eines seiner Mitglieder und die GbR einen Gesellschafter verloren. Der seit Monaten in New York City unter Verdacht des Mordversuchs festsitzende Geiger Stefan Arzberger scheidet aus. Das schleppende Verfahren der US-Justiz zwinge ihn dazu, wie er der Deutschen Presse-Agentur am Montag per E-Mail mitteilte. Er wolle seinen Kollegen Planungssicherheit und eine sichere Zukunft ermöglichen. Der Künstler war Ende März während einer Tournee festgenommen worden. Ihm wird vorgeworfen, eine Amerikanerin fast erwürgt zu haben. Arzberger weist die Vorwürfe zurück.

Stefan Arzberger JETZT (ZDF-Sendung gestern)

Arzberger Screenshot 2016-05-18 21.46.25

Bittte das Video anschauen, das in der Mediathek abzurufen ist: HIER 

Nächste Anhörung: 31. Mai 12.00 Uhr (so benannt in 27:38 des Filmes).

Nachtrag 31. Mai 2016

In der Tat: er wird nicht vergessen. Selbst im Solinger Tageblatt gibt es einen großen Bericht:

Arzberger ST Bericht

Am Ende ein Hinweis auf die Website support-for-arzberger.com/de – auch hier anzuklicken.

Nachtrag 1. Juli 2016

Arzberger frei

Auch dies ein Bericht im Solinger Tageblatt, der bestätigt, dass der „Fall“ nun wirklich die breite Öffentlichkeit erreicht hat. Genaueres erfährt man wahrscheinlich in dem vor diesem Nachtrag gegebenen Link. Der psychische Schaden, den die Justiz angerichtet hat, ist damit nicht aus der Welt geschafft. Aber meine Berichterstattung ist hiermit beendet.

***

Erst kürzlich habe ich bemerkt, dass der Herausgeber des Bärenreiter-Taschenbuches „Ludwig van Beethoven – Die Streichquartette“ 20079 , Matthias Moosdorf, der Cellist des Leipziger Streichquartetts ist (und war), und zwar zu einer Zeit, als der Primarius noch Andreas Seidel hieß (bis 2008); ab 2015 Conrad Muck, in der Zwischenzeit – wie bekannt – Stefan Arzberger. Ob es eine „Zwischenzeit“ war, bleibt eine schwierige Frage.

Das Büchlein enthält eine kleine DVD mit der Großen Fuge op. 133 als „Ein musikalischer Bilderrausch“, den ich hier vermerke, weil mich alle Versuche der Visualisierung von Musik, die dem direkteren Verständnis dienen sollen, interessieren. Siehe auch unter dem Stichwort „Konzert, Performance, Ritual“ hier.

Nachtrag 19.10.2021

Jahre sind vergangen, – zu Matthias Moosdorf gebe ich inzwischen – wohl oder übel – den Wikipedia-Link ein: hier !

Zu Stefan Arzberger einen ausführlichen ZEIT-Artikel von Christine Lemke-Matwey aus dem Dezember 2016 hier , sowie einen darauf bezogenen Podcast von Sabine Rückert und Andreas Sentker, 2. November 2020, hier.

Heute neu!

Der versprochene Text zum Nachlesen (und etwas zum Nachhören)

Solinger Klaviertrio-Konzert Moderation JR 8.Mai 2016 – neuerdings angehängt hier

Ein kleiner Zusatz im Text Mendelssohn, der der Fortsetzung bedarf, – hier !

Dies nur vorläufig zur Erinnerung für mich selbst. Für kurze Zeit. Mal sehn.

***

Aber – gerade zurück von der Bank und vom gegenüberliegenden Bahnhof – kann ich auch die dort neu erworbenen Nachrichten nicht aussparen: DER SPIEGEL und die Süddeutsche Zeitung. Daniil Trifonow interessiert mich, seit ich ihn im Fernsehen mit dem Geiger Kavakos erlebt habe. Und jetzt in den letzten Tagen: wie er Schumann spielt (siehe hier). Das Interview im Spiegel ist sehr lesenswert. Ich gebe zunächst nur einen Satz wieder, den ich aus privaten Gründen sofort unterschreiben will. (Der einschlägige Blog-Leser weiß warum!) Bitteschön:

„Da jeder Ton zählt, fällt es auch leicht, sich ihn zu merken.“ (Daniil Trifonow im Spiegel)

Als nächstes wäre der Essay von Slavoj Žižek über Transgender zu nennen, dann der Artikel über Zahlenkunde, mit dem Lockruf einer „Weltformel“ und der Überschrift „Befreundete Kurven“, zur Abschreckung schaue man http://www.lmfdb.org/.

Süddeutsche Zeitung: durchaus das Gespräch mit Udo Lindenberg. „Hoch im Norden“ usw. hatte ich 1974 mit beim Spanien-Urlaub in Calpe, dazu viel Heinrich Schütz mit den Regensburgern („Er weidet mich auf einer grünen Aue“), – für mich ist das jetzt alles spanisch gefärbt. Lindenberg: „Und ganz wichtig sind übrigens die Liedermacher der damaligen Zeit gewesen, Hannes Wader, Degenhardt. Es gab gemeinsame Auftritte, die ersten Polit-Dinger, Liedermacher-Kongresse.“ S.a. hier.

Dann: „Der Wahn vom gesunden Essen“ Von Kathrin Burger. Seite 16. „Doch warum werden vormals gelobte Lebensmittel wie etwa Kuhmilch plötzlich als Bedrohung wahrgenommen? Woher kommen diese Vergiftungsfantasien? ‚Über das Essen wird heute die soziale und kulturelle Identität abgeleitet“, sagt Klotter. Also: Weil ich anders esse, zum Beispiel vegan, bin ich Fleischessern und sogar Vegetariern moralisch überlegen.“ Ich wüsste gern das Datum (1962?), wann ich schlagartig aufgehört habe, vegetarisch zu essen und nicht mehr Hagebuttenmehl, Brennesselpulver, milchsaures Gemüse mit in die Mensa zu schleppen. Motiv: mich nicht mehr durch die Ernährungsart von anderen unterscheiden zu wollen.

Vor allem aber: der Vorbericht von Jens Bisky zu dem heute beginnenden Hegel-Kongress in Bochum. „Wie haben Sie das gemacht, Herr Philosoph?“

Und was man da liest, klingt ähnlich unbedingt, wie das, was man von Daniil Trifonow erfährt. (Gestern nach dem Konzert in der Raketenstation sprach ein ergriffener Leiter des Museumsvereins noch ein paar Grußworte, die in den Ruf mündeten: „Ändert euer Leben!“ Ob es Absicht oder Versehen war, diese Variation auf den Rilke/Sloterdijk-Imperativ?)

Ich muss ausführlicher zitieren, – wenn ich nur erst ausreichend Zeit mit den Instrumenten verbracht habe …

(Fortsetzung folgt)

Wer sich mit den Werken (…) Hegels nicht beschäftigen will, dem steht ein großes Repertoire vorgefertigter Ausreden zur Verfügung. Da schlummert das verschmutzte Etikett vom „preußischen Staatsphilosophen“, obwohl die Republikaner, Radikalen und Revolutionäre des 19. Jahrhundert oft in Hegels Schule gegangen sind, bevor sie ihr, nicht immer zu ihrem Vorteil, entliefen; da lauert die seit Jahrzehnten modische Kritik am „Systemzwang“, als ließe die Wahrheit sich erkennen, ohne aufs Ganze zu gehen; da meldet sich auch die Bescheidenheit, in unserer Zeit könne man doch so nicht mehr philosophieren. Ach.

Die Urteile, Vorurteile und Ausreden widersprechen dem Eindruck unvoreingenommener Lektüreversuche. Hier meldet sich eine Philosophie, die mehr will als ein Gärtlein bestellen, an dem man nur selbst und zwei Nachbarn Vergnügen haben. Hier wird das Denken weder fader Unmittelbarkeit noch leeren Abstraktionen überantwortet. Alles ist Bewegung, gerichtet, mit Fortschritten, aber nicht zum Stillstand kommend. Schon deswegen bedarf es einiger Anstrengung, Hegels Gedankengang zu folgen, das muss man trainieren.

Es gebe „kaum ein philosophisches Werk, dessen Zugänglichkeit so von einer gediegenen Lesefertigkeit abhängt wie das Hegels“, schreibt Pirmin Stekeler-Weithof in einem Aufsatz mit dem schönen Titel „Hegel wieder heimisch machen“.

Quelle Süddeutsche Zeitung 17. Mai 2016 Seite 12 / Wie haben Sie das gemacht, Herr Philosoph? Ein internationaler Kongress würdigt in Bochum die Akademie-Ausgabe der Werke Georg Wilhelm Friedrich Hegels. Aber noch fehlen wichtige Bände. Von Jens Bisky.

Wichtig ist, dass er nochmal auf Pirmin Stekeler-Weithof aufmerksam macht (dessen Name auch erst geübt sein will), „der vor zwei Jahren einen dialogischen Kommentar zur ‚Phänomenologie des Geistes‘ veröffentlicht hat.“ Dazu siehe hier und hier.

Und am Ende des Artikels steht ein mutiger, ja, beinah drohender Satz:

Um den Versuch, Hegel zu verstehen, kommt, wer unsere Welt begreifen will, nicht umhin. Wer darauf verzichtet, zahlt einen hohen Preis.

Das hat nicht einmal unser letzter Klassenlehrer in der Oberprima – ein Nietzsche-Verehrer par excellence – uns zu sagen gewagt. Vielleicht mit Rücksicht auf Nietzsche.

Aber hier – und im heutigen Alter – sitzt es! Und man hat das Gefühl, nachsitzen zu müssen.

***

Am Tag danach liest sich alles anders. Auch Daniil Trifonow.

Nach der geduldigeren Lektüre des Žižek-Artikels möchte ich die Transgender-Frage für mich ruhen lassen (froh und dankbar, dass immerhin der Schandfleck §175 verschwunden sein wird, der während unserer Schulzeit noch in vieler Hinsicht – auch für Unbetroffene – eine verheerende Rolle spielte), wenn sie sich tatsächlich in erster Linie als ein Toiletten- oder gar Mülltrennungsproblem darstellt. Ich denke zwanghaft an einen gezeichneten Witz (von Robert Gernhardt?), in dem der Knochenmann eine Toilette sucht, wo er heimlich eine Zigarette rauchen kann. Und er findet zwischen den Türen D und H tatsächlich den Buchstaben T für Tod auf einer mittleren Tür, hinter der er verschwindet. Und alsbald quillt Rauch hervor. – Mein Fehler: ich kann nicht ernst bleiben. Am Ende wird es sogar Pflicht, sich auf der Suche nach Einmaligkeit eine nie dagewesene Geschlechtlichkeit zu suchen. (Nein, ich habe nichts gegen Conchita, aber gegen ihren Nachnamen habe ich ein Vorurteil.)

***

Daniil Trifonow. Im Grunde sagt er (oder fragen ihn die SPIEGEL-Leute) nichts Wesentliches über Musik, nur über Technik. Die Namen, die er nennt – abgesehen von den Bach-Kantaten, die er angeblich sämtlich als eine Art regelmäßiger Morgen-Übung gehört hat – zeugen durchweg nicht von einem neuen Blick in die Realitäten der Musik: Rachmaninow (und die orthodoxe Kirche), Schnittke, Messiaen (mit Turangalila), Prokofiew. Das stufenweise Üben (zuerst die Noten aufschlagen, dann das Stück vom Blatt spielen, dann loslegen), mein Gott, auch diese modische Lehre von „awareness“ und den „Zeitzonen“, also: dass mir soeben Vergangenes, unmittelbar Gegenwärtiges und Bevorstehendes im Kopf präsent sind, gleichzeitig, ja, was soll uns das sagen? Es ist – gelinde gesagt – nichtssagend. Noch nichtssagender, ausweichender und irreführender die abschließende Aussage über Musik und Politik:

Die Kunst ist in solchen Zeiten eines der wichtigsten Mittel zur Verständigung zwischen Völkern und Kulturen. Wenn wir in Russland Musik aus anderen Ländern hören oder wenn im Ausland russische Musik gehört wird, verstehen wir alle uns besser. Die Musik ist eine Brücke. Sie ist ein Stück Ewigkeit jenseits aller Schlagzeilen und Ereignisse.

Völker und Kulturen? Mit diesen Platitüden endet das Interview. Und dann folgt noch der Hinweis auf ein Privatkonzert, ein Video: die Gavotte aus dem Ballett „Cinderella“ von Prokofiew HIER, nur für den SPIEGEL…

Etwas weniger tiefgründig vielleicht hier ?

Zumindest hätten wir damit eine echte Brücke geschlagen, zwischen Klavier und Geige.

Raketenstation scharf einstellen

So kann es doch nicht bleiben:

Hombroich Pfingstmontag

Die Werke sind uns nicht unbekannt, aber reicht das, um im Konzert ganz bei der Sache zu bleiben?

Anton Webern: Fünf Sätze für Streichquartett op. 5 mit dem Alban-Berg-Quartett hier.

Wo steht bei Adorno – bezogen auf Anton Webern – das Wort „Der Rest ist Schweigen“ (Shakespeare)? Hat er wirklich einmal geglaubt, mit Weberns Moment-Formen  sei das Ende der Musikgeschichte erreicht? Op. 5 dauert „immerhin“ noch 10 Minuten…

Adorno:

Der Begriff des musikalischen Sinns ist nicht so fraglos, daß er stets den Text eindeutig durchwaltete. Während jede Musik der Tradition, zu der auch Schönberg und Webern noch zählen, als notwendig erscheint, ist diese Notwendigkeit nicht die der Kausalität der Dingwelt und nicht die der diskursiven Logik, sondern hat einen Aspekt des ästhetischen Scheins. Ihn meint Nietzsche mit dem Satz, im Kunstwerk könne alles auch anders sein – während es doch so klingen muß, als ob es nicht anders sein könnte. Bei vielen Werken des Wiener Klassizismus lassen, neben den einmal gefundenen, andere Lösungen sich vorstellen, von denen es schwer fiele zu sagen, ob sie minder richtig sind.

Quelle Theodor W. Adorno: Der getreue Korrepetitor (1963) Seite 150

Schönberg betrachtet in der Tat die Zwölftontechnik in der Komponierpraxis als bloße Vorformung des Materials. Er „komponiert“ mit den Zwölftonreihen; er schaltet mit ihnen überlegen, doch auch, als ob nichts geschehen wäre. Dabei ergeben sich ständige Konflikte zwischen der Beschaffenheit des Materials und der ihm auferlegten Verfahrensweise. Weberns späte Musik zeigt das kritische Bewußtsein dieser Konflikte. Sein Ziel ist es, den Anspruch der Reihen mit dem des Werkes zur Deckung zu bringen. Er strebt danach, die Lücke zwischen regelhaft disponiertem Material und frei schaltender Komposition auszufüllen. Das aber bedeutet in der Tat den eingreifendsten Verzicht: Komponieren stellt das Dasein der Komposition selber in Frage. Schönberg vergewaltigt die Reihe. Er komponiert Zwölftonmusik, als ob es keine Zwölftontechnik gäbe. Webern realisiert die Zwölftontechnik und komponiert nicht mehr: Schweigen ist der Rest seiner Meisterschaft. Im Gegensatz der beiden ist die Unversöhnlichkeit der Widersprüche Musik geworden, in welche die Zwölftonmusik unvermeidlich sich verstrickt. Der späte Webern verbietet sich die Prägung musikalischer Gestalten. Diese werden bereits als dem Reihenwesen äußerlich empfunden. Seine letzten Arbeiten sind die in Noten übersetzten Schemata der Reihen.

Quelle Theodor W. Adorno: Philosophie der Neuen Musik (1958) Seite 106

Maurice Ravel: Streichquartett (Quatuor à cordes) mit dem Hagen Quartett: Satz 1 / 8:00

Zur Form: 1.Thema (Anfang), 2.Thema ab 2:07, Durchführung ab 2:37, Reprise ab 4:36 (rit 7:04)

Satz 2 / 6:27

Ravel II Noten

ZITAT Thomas Kabisch:

Im zweiten Satz wird Satztechnik zum Movens des Tonsatzes. Zwei Gedanken stehen zunächst in unvermitteltem Kontrast gegeneinander (fast könnte man von zwei Musikarten sprechen): ein Pizzikato-Thema, das wie eine in Unordnung geratene, etwas chaotische Gitarre klingt (T.1), ein gesangliches Thema in differenzierter Satzweise mit fundierendem Baß und die Harmonie ausführenden Mittelstimmen (T.13).

Das gesangliche Thema Takt 13 ist nicht unmittelbare Erfindung, sondern Ergebnis einer Entwicklung, die im ersten Gedanken wurzelt und einen einzelnen Ton zum Gegenstand hat. Die Tonrepetition auf e‘ im Innern der Takte 1ff. entsteht durch die alternierende Verschränkung von Tief- bzw. Hochton der beiden Mittelstimmen. In Takt 8/9 wird die Repetition gespreizt über zwei, dann drei Oktaven und erzeugt so den Raum, der den Eintritt des zweiten Gedankens verlangt. Der Triller der 1. Violine macht die Öffnung deutlich und ist Vorbereitung für Oberstimme wie für die Mittelstimmen des zweiten Gedankens (T.13).

Quelle MGG (neu) „Ravel“ Personenteil Bd. 13 Sp. 1352 (Thomas Kabisch)

Satz 3 / 9:03  Vorweg: Bitte beginnen Sie erst bei 1:53 bis 2:15 ! (Blickkontakt Cello-Viola) und darüber hinaus bis 3:55 ! Sie können nicht aufhören! Gehen Sie zurück, fangen Sie von vorn an! All dies gehört vielleicht zu den schönsten Momenten, die man in der Kammermusik erleben kann! So war es Odysseus bei den Sirenen zumute. Hören Sie später auch den Schluss des Satzes mehrmals, beobachten Sie den Gestus der Interpreten. So überträgt sich Konzentration.

Satz 4 / 7:06 (ab 4:56 Beifall)

Ravel Titel Quatuor Ravel Quatuor

Interessant der Hinweis bei Arbie Orenstein (Reclam Stuttgart 1978 S.170), dass Ravels Werk (1902-03), obwohl „eine eigenständige, reife Leistung“, dem Streichquartett (1893) von Debussy nachgebildet sei.

Robert Schumann Klavierquintett op. 44 mit Daniil Trifonow und dem Ariel Quartet (Beginn bei 1:32) Satz 1 ab 1:32 bis 8:21 // Satz 2 ab 8:37 / 12:18 / Ende 16:17 // Satz 3 ab 16:38 / Ende 21:27 // Satz 4 ab 21:47 / Fu… 26:05/27:22/28:10 …ge / Ende 29:05 //

Martin Geck:

[Der] Kopfsatz beginnt mit einem Allegro brillante ebenso furios, wie der Schlusssatz mit einer Doppelfuge endet, die den Hauptgedanken des Finales mit demjenigen des ersten Satzes kombiniert – nicht ohne auch noch eine Episode aus dem langsamen Satz zu zitieren. Diesem „in modo d’una marcia“ in düsteren Farben gehaltenen Herzstück des Quintetts ist das nachfolgende Intermezzo VI gewidmet.

Quelle Martin Geck: Robert Schumann / Mensch und Musiker der Romantik / Biografie / Siedler München 2010 (Zitat Seite 191 f)

Martin Geck hat völlig recht: der „Trauermarsch“ ist das Herzstück des Werkes, und wenn ich eine Interpretation des Werkes aussuche, muss ich als erstes das Tempo dieses Satzes hören. Empfinde ich es als falsch, – zu langsam oder zu schnell, zu bedeutungsvoll oder zu leichtfertig -, verzichte ich auch auf alles andere. Wenn es „richtig“ ist, wird das sanfte Trio von niederschmetternder Wirkung sein… (Ich bin nicht ganz sicher, ob der Satz nicht auch in der oben gegebenen Version eine Spur zu langsam und in der Klage-Melodie der Streicher zu vordergründig ist.)

hier (mit Martha Argerich u.a.) plus mitlaufender Notentext!!! Interpretation: hektisch, exaltiert.

hier (mit Hélène Grimaud u.a.) nur „marcia“, wenig poetisch, 1.Trio espr.verfehlt (überdeutlich)

Haben Sie beim letzten Satz des Geck-Zitates einen Moment gestockt? Gemeint ist das Intermezzo in seinem Buch, und in der Tat führt es an einen wesentlichen Punkt des Schumannschen Denkens. Es lohnt sich, auch den Aufsatz hervorzusuchen, auf den sich Geck bezieht; auch hier die Feststellung: „Das inhaltliche Zentrum des Klavierquintetts von Schumann ist der langsame Satz.“ Was für ein wunderbares Licht fällt doch zuweilen durch eine angemessene Wort-Analyse auf ein geniales Musikwerk! Und wie froh bin ich, Triftiges zu hören über eine Melodie, die mich schon oft bis in den Schlaf verfolgt hat:

Schumann Marcia Trio

Schumann Kohlhase Zitat Martin Geck a.a.O. S.204

Quelle Martin Geck wie oben / von ihm zitiert: Hans Kohlhase: Robert Schumanns op.44 / Eine semantische Studie / Musik-Konzepte Sonderband Robert Schumann I / Herausgegeben von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn / edition text + kritik 1981 ISBN 3-88377-070-1 (S.148-173)

„…sondern erkennbar Seufzer loslässt…“ – wie wahr – die geliebte Sekunde, die schon am Ende der Arabeske unauslotbar schien. Bis endlich die Dur-Terz am Himmel steht, auf der die Vögel einruhn nach langem Flug (frei nach Benn).

Schumann Zum Schluss Schluss der Arabeske op.18

Zum Cuarteto Casals hier! Das folgende Foto stammt nicht aus dem (phantastischen) Konzert in der Veranstaltungshalle der Raketenstation Hombroich, sondern ist ein Screenshot aus der DVD, die es dort zu kaufen gab:

Cuarteto Casals Screenshot 2016-05-16 16.33.07

Cuarteto Casals Schubert (bitte anklicken)