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Goebel – alte Texte wieder frisch

Oder: Ein Vermächtnis aus jungen Jahren, fortgesponnen

Wie soll man darüber reden? Der einst revolutionäre Griff nach der Alten Musik ist brisant geblieben, man staunt, dass wirklich Jahrzehnte vergangen sind, seit man sie – um Bachs und Monteverdis willen – insgesamt zur Kenntnis genommen hat. Und nicht nur dank Reinhard Goebel und in seinem unmittelbaren Umfeld. Es hat insgesamt – man kann sagen: weltweit – Schule gemacht. Man beachte, was allein die Heidelberger Schola – inspiriert durch die Neue Musik – an Projekten entwickelt hat, etwa zum Rätsel Gesualdo da Venosa („Eros und Gewalt“ ).

Zurück zu Reinhard Goebel, dem man heute vielleicht zum ersten Mal auf die Schliche kommen kann, ohne das Gesamtwerk in hundert Einzelaufnahmen und zahllosen verstreuten Quellen um sich versammeln zu müssen. Überhaupt: für seine glänzende Sprache braucht man kein Studium (das hat er selbst schon geleistet), sondern das gleiche unstillbare Interesse an lebendiger Musik, das ihn selber auszeichnet.

Geplant waren einige Anmerkungen, die ich während der Lektüre des Goebel-Buches besonders memorabel fand. So im ersten Text (Seite 15 ff) » Auf der Suche nach der verlorenen Zeit…« die nicht weiter spezifizierte Quelle eines FAZ-Artikels aus dem Jahr 2009, der Goebel zu den Worten veranlasste: „Alles hier über Rezeption und Darstellung des Mittelalters Gesagte trifft auch den musikalischen Barock-Nagel mitten auf den Kopf.“ Schon ist der Goebel-Fan begierig, so detailliert wie möglich zu eruieren, worum es sich dabei handelt, und stößt dabei auf ein Buch, das in der  Anmerkung 1 des Vorwortes einen klärenden Weg zur Quelle anbietet.

¹Mittelalter-Symposion. Das Mittelalter zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Probleme, Perspektiven und Anstöße für die Unterrichtspraxis. 24.09.2009−26.09.2009. Pädagogische Hochschule Freiburg. Vgl. URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=11667 (Konferenzankündigung von Thomas Martin Buck); http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2835 (Tagungsbericht von Nicola Brauch). Siehe auch den Bericht von Maik NOLTE, Das Mittelalter als Wille und Vorstellung. Und der Mediävist als Experte für Requisiten: Zur populären Aneignung einer Epoche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.12.2009, Nr. 302, S. N3.

Das Werk lohnt sich insgesamt als Einübung in die Mediävistik, vorausgesetzt man lässt sich wirklich auf die echte Fährte ein: Hier ist das gesamte Vorwort und die Inhaltsangabe zu dem betreffenden Mittelalter-Symposion, das 2009 in Freiburg stattgefunden hat.

Aus fünf Kapiteln Fankreich von »Le Roi Danse« bis Spätbarock

Man definierte sich in Frankreich ganz einfach und rigoros neu, löste alle alten Bindungen und schuf neue Wege, die Musik optimal der Prosodie der französischen Sprache anzupassen. Selbst der Opern-Prolog diente nicht mehr dazu, die Götter als die das Schicksal bestimmenden Mächte einzuführen. Stattdessen sang man hier unverhohlen das Lob des Herrschers, und slbst des Göttern war es eine Ehre, dem Sonnenkönig zu huldigen: Selten wurd Musik so eindeutig zum Politikum.

Dem reinen, absoluten Gehalt der Sonate oder des Concerto jedoch standen die Franzosen weitgehend ratlos gegenüber. Frankreich geriet in Aufruhr, als nach mehr als 60jähriger Herrschaft des Sonnenkönigs mit Konzerten von Antonio Vivaldi und Giovanni Battista Pergolesis »Stabat Mater« erstmals wieder unpolitische, ihren eigenen Gesetzen gehorchende Musik zur Aufführung kam. (…) Notation der Tanzschritte und der Armbewegungen

Nie aber ist sie intellektuelle Kunst, die um ihrer selbst willen existiert und wahrgenommen werden will. Das Absolute ist ihrem Wesen fremd. (Goebel Seite 27)

Im Jahr 1700 lag übrigens auch eine der Notenschrift im weitesten Sinne vergleichbare Notation der Tanzschritte und der Armbewegungen vor, (…) basierend auf den Vorarbeiten des Monsieur Pierre Beauchamp, der 1635 geboren, noch mit allen Meistern der Frühzeit – Robert Cambert, Molière und Pierre Perrin – gearbeitet und sämtliche Opern und Ballette des königlichen Hofes bis 1686 choreographiert hatte.  (…)

Zum Debütstück für den ersten solistischen Auftritt dieser jungen Mädchen wurde nach 1715 das Werk »Les Caractéres de la Danse« des Lully-Schülers Jean-Féry Rebel, der zwanzig Jahre später mit seinem inzwischen wieder häufiger gespielten »Le Cahos« noch ein weiteres Mal Geschichte schreiben sollte. Die Tänze – sie basieren übrigens auf der Idee des Sonnenkönigs, dass alle Provinzen Frankreich[s] durch einen typischen Tanz am Hofe zu repräsentieren seien – haben alle neben einem charakteristischen Tempo ein klar bestimmtes Figuren- und Bewegungsprofil, und so wurde das Stück zum Prüfungsstück für die Tänzerinnen – nicht nur in Paris, sondern auch in London und Dresden – und obgleich man immer behauptet, dass »Les Caractéres« völlig neuartig gewesen seien, basiert das Werk dennoch auf dem Auftritt des Maître des Danse in der ersten Szene von Molières und Lullys »Bourgeois Gentilhomme«, wo der Tanzmeister dem einfältigen Bürger Jourdain einen kurzen Einblick in seine Kunst gewährt […]. (Goebel Seite 29)

Youtube-Beispiele, an dieser Stelle nicht durch das Buch autorisiert, sondern vom Abschreiber JR als Nachhilfe ausgewählt und eingefügt:

Erinnerung an die Aufnahme vom „Bourgeois Gentilhomme“ mit La Petite Bande unter Gustav Leonhardt (1973):

Man höre sorgfältig die Ausführung der Ouvertüre, insbesondere die Punktierungen, um zu verstehen, was 10 Jahre später geschehen ist. Uns Mitspielern war oft selbst nicht recht klar, welche alten Schriften zur Überpunktierung „berechtigten“ oder warum und ab wann es doch wieder anders zu lesen oder zu interpretieren war. Der Name Neumann (Frederick) wurde genannt, ohne dass damals die leichte Internet-Orientierung von heute vorauszusetzen war, es blieb im ungefähren. Goebels Aufnahmen der Bachschen Ouvertüren entstanden in den Jahren 1982 und 1985, für mich ganz starke Eindrücke, – sie beruhten auf den neuen Überlegungen, die Goebel auch gewissenhaft dargelegt hat (Seite 150 ff). Heute könnte man das hier nacharbeiten: Ornamentation in Baroque and Post-Baroque Music, with Special Emphasis on J.S. Bach (Frederick Neumann 1978).

Goebel:

Diese Auffassung von den synchronisierten Überpunktierungen basiert eindeutig auf Fehlübersetzungen und -interpretationen der Flötenschule von Quantz (XVII. Hauptstück, VII. Abschnitt, § 58).

(…) Für den Tuttisten um 1720 galt genau die gleiche Regel wie für den Tuttisten des 20. Jahrhunderts: Kein rhythmischer Wert wird verändert. Wenn Quantz dennoch von scharfen Punktierungen redet, so im Zusammenhang von Tanzsätzen nach französischer Manier -aber die Ouvertüre ist nun einmal kein Tanzsatz. Quod licet Jovi, non licet bovi – was dem Solisten aus augenblicklicher Caprice erlaubt ist, nämlich die Veränderung des vorgegebenen Notentextes, ist dem Tuttisten schlichtweg verboten. (a.a.O. Seite 152f)

Siehe auch hier. (=Blog-Artikel „Wie Goebel in Frankreich“.)

Neugierig geworden: Wer war „Fritz“, ein unbekannter Bach, wie klang seine Musik? Ein Anfang sei gemacht mit diesem Stück aus „Pygmalion“:

Alle Titel der Goebel-CD „Cantatas of the Bach family“ anspielen: hier

Dreißig Jahre lang stellte Johann Sebastian Bach die musikalische Speerspitze der Welt: Sie war immer genau dort, wo er war, in seinen Händen und auf seinem Schreibtisch. Um 1735 aber drängten ambitionierte Konkurrenten auf den Markt und zeigten Bach, wo das neue Vorne war: im galanten Stil, der sich ab 1715 von Neapel aus nach Norden verbreitete und der flamboyanten, religiös bedeutsam verschlüsselten und manchmal auch überlasteten Musik des Spätbarock etwas entgegen stellte – eine einfachere Musik mit leichter verstehbarer Harmonik und im weitesten Sinne singbaren Melodien mit weniger komplexer Polyphonie.

Bachs Söhne, ebenfalls gestandene Musiker, die zu einflussreichen Komponisten heranwuchsen, hatten das Handwerk bei ihrem Vater gelernt – aber bei aller Verwurzeltheit in der Tradition des großen Johann Sebastian sind diese modernen Einflüsse auch bei Carl Philipp Emanuel Bach, Johann Christoph Friedrich Bach und Wilhelm Friedemann Bach deutlich zu erkennen. Bei Carl Philipp ist der Prozess der musikalischen Emanzipation nur noch mittelbar nachvollziehbar, da er einen guten Teil seiner Kompositionen aus jener Umbruchzeit verbrannte – eine hier erstaufgenommene Sinfonie in F-Dur kann ihm mit der nötigen musikwissenschaftlichen Vorsicht zugeschrieben werden.

Ebenfalls eine Weltpremiere ist die Aufnahme der dreisätzigen Solo-Kantaten Carls »Ich bin vergnügt mit meinem Stande«. Eine gar dritte Erstaufführung erlebt hier die Sinfonie in B-Dur Wilhelm Friedemann Bachs. Abgerundet von Musik von Bachsohn Johann Christoph Friedrich und einer Kantate des Übervaters Johann Sebastian selbst macht diese grandiose neue Produktion der Berliner Barocksolisten und dem gefeierten Bariton Benjamin Appl unter Leitung von Reinhard Goebel die musikalische Metamorphose des 18ten Jahrhunderts akustisch erlebbar.

Weiterlesen und -suchen:

http://www.musicweb-international.com/classrev/2020/Dec/Bachfamily-Cantatas-HC19081.htm hier

(Ensemble) Pygmalion interprète la Cantate „Es erhub sich ein Streit“ de Johann Christoph Bach sous la direction de Raphaël Pichon. Extrait du concert enregistré le 7 avril 2023 à la Chapelle Royale de Versailles.

Text verfolgen nach analytischer Abschrift ©Clemens Flämig August 2022 (Quelle: https://www.bachipedia.org/werke/bwv-19-es-erhub-sich-ein-streit/ hier)

Da ich die Goebel-CD seltsamerweise übers Internet nicht bestellen kann, habe ich einen Ersatz finden müssen (27.09.24), bemerkenswerterweise schon aufgenommen 1988:

Text: Hannsdieter Wohfahrt

ENTSCHULDIGUNG! Da ich von Goebels im Buch veröffentlichten Texten ausgehe, zu denen ich mich etwas frei „auslasse“, – auch ohne alle CDs besitzen, denen sie ihre Entstehung verdankten -, kann ich in einer gewissen Konfusion enden wie JETZT. Ich hatte gehofft, mehr über „Pygmalion“ und den Bückeburger Bach-Sohn zu erfahren, fand Goebels Ausführungen wie immer erhellend, ohne recht zu bemerken, dass er sich unvermerkt gänzlich auf das die CD abschließende Werk des alten Bach bezieht, die Kantate BWV 82 „Ich habe genug“, mit einigen Seitenblicken wiederum auf dessen rhetorische Prinzipien docere, movere & delectare. Für uferloses Staunen und Studieren sei auch der Youtube-Link wenigstens zu dieser Aufnahme beigesteuert: hier.

In Goebels Text blieb ich u.a. stecken bei der Bemerkung:

Zauberhaft unbeantwortet bleibt die Frage: »Hat er nun, hat er nicht?«

Erst allmählich fiel der Groschen: Diese Frage kann sich nur aus dem maßlosen Wunschziel des „Pygmalion“ ergeben, – wobei Goebel seinen Kopf dezent aus der Schlinge zieht, indem er von dem sinnlichen Begehren hinüberlenkt zu der Todesfreude des trunken in den Himmel tanzenden Simeon, und damit zur „Climax“ der Kantate „Ich habe genug“. Was mir an Reinhard Goebel von Anfang an auffiel, war sein eigenartiger Humor, eine zuweilen etwas drollige Respektlosigkeit. Bei den Aufnahmeprojekten unseres Lehrers Franzjosef Maier inmitten des Ensembles Collegium aureum erlebte ich ihn 1974 zum erstenmal als jungen Kollegen, witzig, wortgewandt, aufmüpfig, belesen. „Missa Salisburgensis“! Siehe alle Mitwirkenden…

1974

Kein Zweifel: man sollte auch seine „besserwissende“ Aufnahme kennen:

1989 (2024)

(Blog-Artikel unvollendet, Fortsetzung folgt, vielleicht)

Zuschrift aus Düsseldorf-Oberkassel betr. einen SWR-Link zu aktuellsten Goebel-Sendungen, 10.10.2924, Dank an Christel H.!

https://www.swr.de/swrkultur/musik-klassik/reinhard-goebel-der-Kopf-macht-die-musik-100.html HIER

Wieder nur ein paar Töne von Bach

Gustav Leonhardt erläutert in der Sendung „Reiziger in Muziek“ (Sendedatum vermutlich 2001) – pars pro toto – ein Detail beim Vortrag der Sarabande aus der Französischen Suite II. Genau genommen die Länge des Tones e“ in Relation zur nächsten Umgebung. Gewiss – ein Sechzehntel, jeder sieht es. Aber am Cembalo verändert es seinen Wert auf irrationale Weise…

Leonhardt Screenshot 2016-05-27 22.29.24 Hier zum Video und dort auf 21:30 gehen!

Franz Suite Leonhardt

Ab 23:24 schön: weniger reden („praten“) als spielen! Bei 24:19 falsches Notenbild (andere Sarabande), 25:16 rechte Seite o.k. Sarabande, eine Melodiestimme, 2 begleitende Stimmen, für das ganze Stück, auf 2 Manuale zu verteilen, so dass die Melodie stärker ist (es geht auch anders), 25:58 während er beginnt zu spielen: wieder falsches Notenbild (bitte auf das hier oben gegebene Beispiel schauen), Melodietöne 1-6 innerhalb der Harmonie… warten vor dem hohen Ton = neue Harmonie (der Vorschlag c ist offenbar ein unauthentischer Zusatz), Durchgang mit dem harmoniefremden Ton d (über dem Bass-Es) auf Zählzeit 2: linke Hand ganz lang gehalten, rechte Hand beweglich, nicht genau vertikal zusammen „kloppen“, keine Attacke auf dem Ton d, – weicher wird es dadurch, dass man den vorherigen Ton es“ noch weiterklingen lässt, während das d schon angeschlagen wird, 2 Versionen ab 27:57 – bei den ersten beiden Schlägen weiß man noch nicht, dass es ein dreiteiliger Takt ist, das Warten auf dem dritten Schlag bewirkt jetzt, dass die 1 im nächsten Takt bedeutungsvoller wird. Spannung auf 1 wird gehalten.

29:25 korrektes Notenbild – ohne die kleinen Zusatzzeichen meiner Henle-Ausgabe: sie stammen übrigens aus anderen abschriftlich überlieferten Versionen des Bach-Kreises. Merkwürdigerweise spielt Leonhardt aus einer didaktischen Ausgabe (Tempoangabe „Andante“ ist natürlich Zusatz des Herausgebers), und die auf der linken Seite eingeklebte Sarabande g-moll (siehe 24:22) hat er aus BWV 823, dem Fragment einer Suite in f-moll, umgeschrieben, wohl zu Vergleichszwecken.

Anhörenswert auch vorher (ab 16:46 bis 17:54 Bach im Vergleich zu anderen Komponisten „so organisch“), wenn Leonhardt von seinem Experiment erzählt , 3 Takte aus einem Werk herauszuschneiden und die „Probanden“ um Rekonstruktion zu bitten. Es ist unmöglich, – anders als bei Händel zum Beispiel. „Bach ist ein Mirakel!“

***

Zu melodisch freien Gestaltung

Er zitiert Carl Dahlhaus: Man kann sich die Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts sehr gut ohne Bach vorstellen, – aber die des 19. Jahrhunderts nicht.

Ab 23:04 über metrische Verschiebung zwischen der linken und der rechten Hand. Hören Sie Klavierspiel um 1930: da wird alles arpeggiert… notiert übereinander und doch nicht gleichzeitig angeschlagen… Frühzeit des 20.Jahrhunderts im Namen einer sachlichen Interpretation … Tempo, Phrasierung, Artikulation … „Goldberg“: über vorgegebener Bass-Progression möglichste Vielfalt … 26:40

Und ein paar chromatisch absteigende Töne von Jan Pieterszoon Sweelinck

Sweelinck Fantasia Chromatica 1 Sweelinck Fantasia Chromatica 2

HIER ab 38:18 Ton Koopman 1982  Länge 9:45 (bis 48:03)

Sweelinck Fantasia Chromatica 3 Sweelinck Fantasia Chromatica 4

HIER Seite A ab 13:00 Fritz Neumeyer 1962 Länge 8:27

Sweelinck Fantasia Chromatica 5 Sweelinck Fantasia Chromatica 6

Man vergleiche die beiden Interpretationen hinsichtlich des Tempos und der Agogik: linke und rechte Hand – auf den Punkt genau zusammen? oder in der Vertikalen verzogen? Gibt es Beschleunigung oder Verzögerung?

Man muss nicht glauben, dass das Rubato oder das mit agogischer Freiheit behandelte Tempo eine Erfindung der späteren Zeit sei, in der man es genauer zu benennen und zu notieren suchte. Es ist ein menschliches Grundbedürfnis ebenso wie lebendige Deklamation oder die Wahl zwischen motorischer oder tänzerischer Rhythmik. Ich werde demnächst auch an einem ausführlichen Beispiel zeigen, wie intensiv man dieses Problem (?) der Vortragsart in der indischen Musik sieht und handhabt.

Paul Badura-Skoda zitiert, wie Carl Philipp Emanuel Bach das Rubato in aller Ausführlichkeit behandelt, und fügt hinzu, dass es so für Vater Bach genauso wie für Chopin anwendbar sei:

Hierher gehört auch das Tempo rubato. In der Andeutung desselebn haben die Figuren bald mehrere, bald weniger Noten als die Eintheilung des Tactes erlaubet. Man kann dadurch einen Theil des Tactes, einen ganzen, auch mehrere Tacte, so zu sagen verziehen. … Wenn die Ausführung so ist, daß man mit der einen hand wider den Tact zu spielen scheintindem die andere aufs pünctlichste alle Tacttheile anschläget: so hat man gethan, was man hat thun sollen. Nur sehr selten kommen alsdenn die Stimmen z u g l e i c h im Anschlagen … E gehört zur richtigen Ausführung dieses Tempo’s viele Urtheils-Kraft und ganz besonders viel Empfindung. Wer beydes hat, dem wird es nicht s chwer fallen, mit aller Freyheit, die nicht den geringsten Zwang verträgt, seinen Vortrag einzurichten, … Hingegen wird bey aller Mühe, ohne honlängliche Empfindung nichts rechts ausrichten können werden. Sobald man sich mit seiner Ober-Stimme sclavisch an den Tact bindet, so verliert dies Tempo sein Wesentliches, weil alle übrigen Stimmen aufs strengste nach dem Tacte ausgeführt werden müssen. Außer dem Clavier-Spieler können alle Sänger und Instrumentalisten, w e n n  s i e  b e g l e i t e t  w e r de n, dieses Tempo viel leichter anbringen als der erstere, zumal, wenn er sich allein begleiten muß … In meinen Clavier-Sachen findet man viele Proben von diesem Tempo. Die Eintheilung und Andeutung davon ist so gut, als es seyn konnte, ausgedrückt. Wer Meister in der Ausführung dieses Tempo’s ist, bindet sich nicht allezeit an die hingesetzten Zahlen 5, 7, 11 usw. Er macht zuweilen mehrere, zuweylen weniger Noten, nachdem er aufgeräumt ist, aber allerzeit mit der gehörigen Freyheit.

Carl Philipp Emanuel Bach: Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen / Dritte Auflage (S. 99 f., Zusatz zu S. 129 der ersten Auflage). Hier zitiert nach:

Quelle Paul Badura-Skoda: BACH Interpretation / Laaber Verlag 1990 / Seite 75 f

(Fortsetzung folgt)