Archiv für den Monat: Mai 2016

Zwei Musikwelten – unversöhnlich

Die neue ZEIT (12. Mai 2016)

Die Überschrift oben schrieb sich von selbst, aber ich kann auch daran nicht glauben. Es ist eine Masche der ZEIT, Antagonismen nebeneinanderzustellen, sehr gern auch auf der Titel-Seite, diesmal im Feuilleton. Jedenfalls kann man sagen: die Musik hat eine angemessene Seitenzahl. (Deren Fehlen ich früher oft genug beklagte.)

Brian Eno:

Aber der Musiker, der nur ins Studio geht, um etwas einzuspielen, was dann exakt so auf Platte gepresst wird – dieses Bild ist doch sowieso überholt. Das ging mir damals auf, als ich mir Sachen von visionären Produzenten wie Phil Spector und George Martin angehört hatte. Ich dachte nur: Wow! Diese neuartigen Sounds! Ich wusste sofort, dass so etwas nur aus der Studiotechnik kommen kann, nicht aus Musikinstrumenten. Es ging nicht mehr um musikalische Virtuosität, sondern darum, ob man ein Gefühl dafür hat, wie man aus Technik Sound macht.

Über Barbara Hannigan (Sängerin und Dirigentin)

Wenn sie heute vor einem Orchester steht und diesem den Rücken zukehrt, um zu singen, dirigiert sie, ohne dass einem dies groß ins Auge springt, weniger mit den Armen als mit dem ganzen Körper weiter, mit der Rückenmuskulatur, der Wirbelsäule, den Schulterblättern – und vor allem mit ihrem Atem. Oft seien es die am weitesten weg sitzenden Blechbläser, die sie am besten zu lesen verstünden: „Sie wissen, ich bin eine von ihnen!“

Quelle DIE ZEIT 12. Mai 2016 Seiten 36 und 37 a) „Ich beherrsche kein Instrument“ Brian Eno spricht über sein neues Album, die 4000 anderen Songs auf seinem Laptop und das Verschwinden der großen Leidenschaften im Pop. Gespräch: Christoph Dallach.

b) „Sie kann, was sie will“ Als Sopranistin ist Barbara Hannigan mit allen Wassern der neuen Musik gewaschen. Jetzt wird sie Dirigentin. Von Christine Lemke-Marwey.

(Fortsetzung folgt)

Was war und ist „Rausch“?

Von physischen und künstlichen Paradiesen

Benn Cover rückBenn Cover vorn 1959

Benn Text aBenn Text b Textprobe

Dämon Rausch Cover 1958

Hamsun Pan 25.Mai 1959

Hauptmann Soana 1959

Soana Text Textprobe

Watts Natur 1962 Watts Inhalt

Rausch Cover Mai 1998

Lesch Kosmos Screenshot 2016-05-11 22.06.06 ZDF Leschs Kosmos Mai 2016

Die Sendung „Auf Droge: Die Sucht in uns„. 10. Mai 2016 / 23:00 / Nachträglich abrufbar unter dem Link neben dem seltsamen Bild, das ich als Screenshot aus der Sendung ausgewählt habe, um mich von den romantischen Büchern und Phantasien meiner Jugend abzusetzen. Daneben lief ohnehin immer ein anderer Strang, der ebenfalls von Gotfried Benn ausging und auf Klarheit und Methodik setzte, Marcel Proust und Robert Musil waren ausschlaggebend. – Heute stellt sich die Frage, ob ein solcher Lebenslauf nicht schon in der ersten Phase scheitern könnte, weil die Realisation der imaginären Paradiese so einfach scheint. Jugendlichen von heute würde ich keins der abgebildeten Bücher, die mich einmal bewegten, ans Herz legen. Nur den Film, – mit einer kleinen Vorwarnung: vermutlich wirkt der Moderator nicht cool, vielmehr: nur gespielt cool, aber der Film als Ganzes ist unerhört wichtig für alle Jugendlichen: es geht um ihr Leben.

***

13.05.2016

Freund BS macht mich darauf aufmerksam, was ich damals gewissermaßen versäumt habe, eins der besten Bücher über künstlich hervorgerufene Rausch-Erfahrungen, nämlich Ernst Jüngers „Annäherungen. Drogen und Rausch„, veröffentlicht im Jahre 1970. Zweifellos in einer suggestiven Sprache geschrieben, aber vielleicht zu spät für mich? Zum Glück.

Man lese die kluge Rezension der Neuerscheinung (Klett-Cotta Stuttgart 2008) von Christophe Fricker in „literaturkritik“ hier. Und die Leseprobe des Essays von Volker Weidemann über „Ernst Jüngers Drogenfahrten“ hier. Ich hebe in meinem kurzen Zitat daraus einen Satz rot hervor, der mir wohl damals schon wichtiger gewesen wäre als alle schönen Worte:

ZITAT (Volker Weidemann)

Der Jünger der Annäherungen sucht das Glück, das Abenteuer, längst auf anderen Wegen. Die Drogen gaben ihm eine Ahnung jenes großen »Jenseits«. Der Cannabis-Schock in Halle ließ ihn von seinen Drogen-Fahrten allerdings für lange Zeit Abstand nehmen. Dreißig Jahre machte er Pause. Der Schrecken muss wirklich sehr groß gewesen sein. Denn das Leiden, das Leiden unter der Öde des Diesseits wuchs: »Wir fliegen zu den Polen und zum Monde und bringen die Öde mit«, schrieb er. Jünger suchte das Geheimnis. Und er findet in diesem Buch unendlich viele, schöne Bilder für jenes Geheimnis, für die Sehnsucht danach. Nicht so sehr in den Protokollen, die er – quasi im Live-Mitschnitt auf seinen LSD-Trips zum Beispiel – mitschrieb. An ihnen sieht man eher, wie wenig hochfliegend und staunenswert sich die als so erstaunlich erlebten Trips dann später nüchtern lesen. Aber selbst wieder nüchtern geworden erinnert er sich überwältigt: »explodierende Frühlingssträuße«, »Schleifen der Unendlichkeit«, »mächtiges Walten des Lichts«. Jünger ist in Hochstimmung und beschreibt es auch so: »Da staunen selbst die Götter« notiert er einmal.

(Fortsetzung folgt)

Schnellstmöglich – und bitte noch schneller

Auf der Flucht vor dem Erlkönig

(Youtube-Beispiele)

Und das gleiche kann man hier in asynchron beobachten (ein Problem der Technik – des Technikers am Pult), ebenso weiter unten, dort nur noch schlimmer: Hilary Hahn (also nicht die Schuld der Violinistin!). Welchen Fehler hat der Film-Techniker beim Schneiden gemacht? Er weiß nicht, dass manche Akkorde von oben nach unten über die Saiten „gebrochen“ werden. Die heftige Bewegung des Bogenarmes geht also in Richtung der optisch höher (!) gelegenen tiefen Saite, die jedoch nachschlägt. Wenn man diesen Ton bewegungstechnisch (!) als betonten Ton auffasst, läuft alles falsch, nämlich um ein Triolenachtel verschoben.

Lieber mal mit Noten?

Vadim Repin

Julia Fischer

Kristóf Baráti

Ning Feng

Pierce Wang (11)

Das ist eine vorläufige Stoffsammlung (Auswahl und Kommentar folgen). Man muss das alles nicht lieben, so faszinierend es ist. Aber man kann es auch als Übung betrachten, Ohr und Auge zu koordinieren. – Vom Geigen-Ernst springen wir dann später im Ernst zu Schubert, dem Original mit Gesang. Doch zunächst zu Robert Schumann. Was meint er, wenn er in seiner Zweiten Klaviersonate dem Pianisten rät: „So rasch wie möglich“  und später meint, das sei noch nicht genug? (Sechzehntel sind am Anfang ebenso wie später das Maß der Schnelligkeit!)

Schumann Schnellstmöglich

Schumann Schneller

Schumann Noch schneller

Auf diesen Widerspruch wies mich einst lachend mein Hochschullehrer in Köln hin (Erich Rummel), als ich die Sonate noch nicht kannte. Vielleicht hat er doch nicht ganz recht gehabt: die erforderliche Spanne der linken Hand in den ersten Takten ist so weit, dass das schnellstmögliche Tempo nicht ganz so hoch sein kann, wie wenn die Sechzehntel wie später – beim „Schneller“ – relativ bequem in der Hand bzw. in beiden Händen liegen … – Quatsch! unter dem „Noch schneller“ am Ende haben wir wieder die Dezimen-Spannung in der linken Hand. Es muss also wohl einen psychologischen Faktor geben. (Oder einen „Pfuschfaktor“, – in der Tiefe und mit Pedal.)

Ähnlich übrigens beim Tempo der Geige im Ernst-Schubert. Die Schwierigkeit liegt nicht im Tempo der Triolen, sondern in dem gleichzeitigen Einbau der Doppelgriffe, dadurch wirkt das Tempo auch sehr hoch. Und wenn die Akkorde nicht mehr „klingen“, wenn man sie nicht mehr unterbringt, ist eben das Tempo zu hoch, und die ganze Akrobatik ist für die Katz‘.

Auf dem Klavier ist das Problem ein völlig anderes. Anders als bei der Geige bedeuten schnell repetierte Töne hier bereits eine virtuose Aufgabe: die Bogenhand der Geige spielt ab und auf, ab und auf usw., meinetwegen auch hin und her,  und wenn es schneller geht, verkürzt man einfach die Strecke für das Ab-Auf (oder Hin und Her), die Taste des Klaviers (und so auch der anschlagende Finger des Pianisten) muss immer abwärtsgehen: ab, ab, ab, ab etc. und zwischendurch allein wieder zurückspringen, um für den neuen Abwärts-Impuls bereit zu sein. Beethoven fand eine einfache Lösung: wo die Geige und das Cello im Thema schnelle Repetitionen spielt , lässt er das Klavier einfach Wechselnoten einfügen, so etwa im Klaviertrio op. 1 Nr.2 G-dur. Man vergleiche Violine oben, Klavier im zweiten System und Cello beim Einsatz im dritten System.

Beethoven Repetitionen

Das Thema klingt überall gleich „pfiffig“ und gewinnt durch die leichten Unterschiede noch an Übermut.

Anders ist es, wenn die Interpreten selbst an ihre Grenze geführt (gezwungen) werden sollen, um etwas auszudrücken, das über alle Begriffe grausig ist: die Triolen in Schuberts Erlkönig entsprechen nicht nur dem wilden Galopp des Pferdes, sondern auch dem Beben und Bibbern des Kindes und wohl auch des Vaters, der sein Äußerstes gibt, um den rettenden Hof zu erreichen.

Ich wähle das folgende Video, weil die Hand des Pianisten gleich zu Beginn ins Bild rückt, ansonsten ist die Aufnahme für Lernzwecke etwas kindisch kommentiert, und nicht einmal der Name des Pianisten wird genannt. (Vermutlich Gerald Moore, 1962, siehe nach dem Schlussakkord.)

Jetzt kommt der Grund, weshalb ich mich überhaupt des Erlkönig-Themas angenommen habe, ein höchst lesenswertes Buch, das ich im Jahre 1993 einmal für den WDR rezensiert habe und nach wie vor sehr gern frequentiere. Im Kapitel „Die Grundschnelligkeit“ wird auch das Problem der Repetition behandelt, das Schubert für sich selbst auf elegante Weise gelöst hat:

Klöppel Erlkönig Renate Klöppel: Die Kunst des Musizierens / Schott Mainz 1993

Das Buch ist eine Fundgrube und wurde inzwischen in einer  6., überarbeiteten Auflage herausgebracht (mit Eckart Altenmüller). Unentbehrlich für jeden Musiker und Instrumentallehrer. Siehe hier. Ich frage mich, ob ich auch die neue Version brauche. Sooft ich in mein altes Exemplar geschaut habe, gab es mir neuen Elan fürs Üben. – Nebenbei:  Der Lebensweg der Autorin ist sehr bemerkenswert, siehe bei Wikipedia hier.

Was ist mit der Grundschnelligkeit gemeint? Falls Sie ein Metronom zur Hand haben, können Sie anhand dieses Buches einen erhellenden Selbstversuch durchführen:

Wenn man bei einer Metronomzahl von 120 noch fortlaufend von Schlag zu Schlag vier mal in die Hände klatschen kann, hat man immerhin eine Bewegungsfrequenz von acht pro Sekunde in den beteiligten Gelenken erreicht.

(Klöppel S. 69)

Schubert hat in der vierten Fassung seines Erlkönigs die Metronomzahl von 152 für Viertel angegeben. Das hieße, so Renate Klöppel, dass bei den Oktavtriolen der rechten Hand „eine repetierende Bewegung mit einer Frequenz von mehr als sieben pro Sekunde gefordert“ sei.

Ich kann mich nicht erinnern, ob dieses Lied in die Diskussion der 80er Jahre um die Bedeutung der Metronomzahlen der Beethovenzeit einbezogen worden ist (Talsma, Wehmeyer). Wenn man sich vorstellt, wie ein Sänger seine Partie vortragen wird, wenn er den Klavierpart nicht kennt, so findet man die Metronomzahl 152 völlig angemessen und würde nie darauf kommen, dass das wahre Tempo halb so langsam gemeint sein könnte. Zum Glück hat auch niemand zu behaupten gewagt, dass ein nicht gesungener, sondern dramatisch gesprochener Vortrag der Ballade damals – verglichen mit heute – im halben Tempo stattgefunden hätte. Es gibt menschliche (physiologische) Konstanten durch alle Jahrhunderte. Daran hat sich prinzipiell nichts geändert, auch wenn die Autos heute schneller fahren als je ein Pferd reiten konnte. Und wenn man damals von Virtuosität sprach, die man am Musikinstrument erwartete, stellte man sich keineswegs Fingerbewegungen in Zeitlupe vor, sondern atemberaubend schnell. Und wenn man sich ein galoppierendes Pferd vorstellte – wie im Erlkönig -, so meinte man nicht etwa ein gemächlich trabendes.

Mendelssohn: der Schrei

Der Schrei (Edvard Munch)

Mendelssohn op 80 Schrei

„Der Schrei“, das Bild von Edvard Munch, hat natürlich nichts mit Mendelssohn Bartholdy zu tun, sondern entstand mehr als ein halbes Jahrhundert später. Aber das Urbild des Schreies, des existentiellen Schreies, ist wahrscheinlich der, den Jesus am Kreuz ausstieß, und es war nicht nur einer, da es heißt: Aber Jesus schrie abermals laut und verschied . (Matthäus 27:50-57)

Der junge Mendelssohn war es, der die Matthäus-Passion von Bach 1829 (mehr als 100 Jahre nach der Entstehung) zum ersten Mal wieder aufführte, und er kannte die Tonsprache Bachs besser als die meisten anderen Komponisten seiner Zeit. Ob er beim fp-Tremolo-Einsatz des Cellos zu Beginn des Streichquartetts op.80 an Bachs „Und die Erde erbebete“ gedacht hat?  Als er das letzte Werk konzipierte, das er noch vollenden konnte, 1847 – nach dem plötzlichen Tod seiner Schwester -, hat er es vielleicht mit seiner Erschütterung durch die Musik Bachs in Verbindung gebracht. (Seine Schwester hatte schon mit 12 Jahren das „Wohltemperierte Klavier“ auswendig gespielt.) Er war dem Motiv des Wehe-Schreies oft begegnet. Auch ganz unvermittelt, innerhalb eines Klavierwerkes oder einer Sonate für Violine Solo. Oder in einer Bach-Motette.

1Bach Kantate 102 „Weh! der Seele“ Kantate 102,3 Adagio

2Bach WTC II Fuge c-moll Wohltemperiertes Cl. II Fuge c-moll

3Bach Sonata III BWV 1005 Bach Sonata III Viol.Solo C-dur BWV 1005

4Bach Motette Erd und Abgrund Motette „Jesu, meine Freude“ Vers 3

5Bach Orgel h-moll-Einwurf Orgel Praeludium h-moll BWV 544

(Anmerkungen folgen)

Und wie geht’s weiter? Natürlich mit dem ganzen ersten Satz des Streichquartetts op. 80 von Felix Mendelssohn-Bartholdy, am besten in der ebenso ungestümen wie ausgefeilten Interpretation des Dudok Kwartets, 7:12, alles andere später.

Lesen und fortführen: a) Wikipedia hier b) „Requiem für Fanny“ hier

I. Allegro vivace assai 0:07 II. Allegro assai 7:34 III. Adagio 12:27 IV. Finale: Allegro molto 20:32

***

Für meine Quartett-Kollegen Hanns-Heinz Odenthal, Klaus Naumann, Thomas Blees. Probe am Do 12. Mai 2016

***

Seltsamer Eindruck während und nach der Probe: dass ich das Werk als solches überschätzt habe. Dass es ein Maß an Willkürlichkeiten enthält, die ich mir nicht schönreden kann. Vielleicht ist mir das dank des hohen Tempos und der verrückten Intensität der Dudok-Interpretation entgangen. Vielleicht irre ich jetzt. Im langsamen Satz glaube ich zu bemerken, dass der Komponist sich an dem Vorbild der ihm gewidmeten Schumann-Quartette orientiert: ihm ist zu Bewusstsein gekommen, dass er die Konvention fahren lassen und in jedem Moment originell sein muss. Vielleicht ist es nicht richtig, seine ungewöhnliche Verfahrensweise in diesem Werk allein mit der Schockerfahrung von Fannys Tod in Verbindung zu bringen. Vielleicht gab es darüberhinaus das krisenhafte Innewerden einer schöpferischen Sackgasse? Seine große Stärke, die weit tragende, wohl disponierte Dehnung einer Melodie, ist ihm selbst im Adagio suspekt, das sich in bestimmten rührenden Motiven verliert. (Man vergleiche die Funktion des punktierten Rhythmus mit dem in Schumanns op. 41 Nr.3, wo die Zeit magisch stillzustehen scheint.)

Sinnstiftung?

Ein scheinbar hochtrabendes Wort 

Die Essenz eines Artikels zeigt sich selten in der Überschrift. (Auch nicht im Blog: da folgt sie oft genug einer kurzfristigen Laune und dem Anreiz, einen Anreiz zu bieten.) Im heutigen Fall hätte ich auch schreiben können: „Das Projekt moderner Wissenschaft“ oder „Die generationenübergreifende Wahrheitssuche“ – aber wer weiß, ob ich dabei selbst die Motivation behalten hätte, die im Fall des ZEIT-Artikels im Namen des Autors lag, der mir als Philosoph positiv in Erinnerung ist: Michael Hampe. Die Überschrift jedenfalls (Warum lügen und betrügen Wissenschaftler?) hat mir lediglich signalisiert: Genau, so ist es doch überall, sie sind alle bestochen. Und selbst der Untertitel hat mich nicht angestachelt: „Wie kann man der moralischen Entkernung der westlichen Demokratien entkommen? Ein Plädoyer wider die enthemmte Konkurrenz der Einzelkämpfer.“ Ich glaube, solche gutgemeinten Appelle führen zu nichts, – so meine vorläufige Reaktion, bis ich auf die Zeilen stieß, die ich mehrfach lesen musste. Durchaus mit einer leicht erklärlichen Skepsis, – wenn dabei urplötzlich ein religiöser Hintergrund zum Vorschein kommt:

Sofern akademische  Ausbildungs- und Anreizsysteme vor allem Personen fördern und anstellen, die auf ihren persönlichen Erfolgt in der Konkurrenz blicken, unterminieren sie selbst das Projekt moderner Wissenschaft: die generationenübergreifende Wahrheitssuche, für die nur Personen geeignet sind, die ihr eigenes Erkenntnisleben für das gemeinschaftliche Erkenntnisinteresse opfern können, etwa indem sie feststellen, dass alles, was sie bisher für wissenschaftlich richtig hielten, sich als falsch herausgestellt hat. Die Fähigkeit, das einzugestehen, ist […] überhaupt das wesentliche Kriterium für einen Wissenschaftler. Die Fähigkeit zur Einsicht und vor allem zur öffentlichen Darstellung der Fehlerhaftigkeit des eigenen Erkennens dürfte jedoch kaum den Erfolg in kurzfristigen Konkurrenzen um Posten und Fördermittel begünstigen.

(…)

Wie alle kollektiven Projekte, die in einer Gemeinschaft verfolgt werden und die über einen Zeitraum laufen, der die Lebensspanne des Einzelnen übertrifft, geben sie dem endlichen einzelnen Leben einen es selbst überschreitenden Horizont: Wer sich an diesen Projekten beteiligt, hat an etwas Anteil, was in Bedeutung und Dauer die eigene Existenz übertrifft. Aufgeklärte Wahheitssuche und soziale Demokratie übernehmen deshalb Funktionen der Erlösungsreligionen: Sie gaben auf eine säkulare Weise einzelnem Leben einen überindividuellen Bezugsrahmen, der die Endlichkeit der partikularen Existenz auf tröstliche Weise relativierte. So wie in Erlösungsreligionen das einzelne Leben Teil der von Gott gestifteten Ewigkeitsperspektive war und in ihr aufgehoben war, sind in der aufgeklärten Wahrheitssuche einzelne Forschende im kollektiven Prozess der Erkenntnis „aufgehoben“, leisten zu ihm einen Beitrag, der eventuell erst lange nach dem endlichen Forscherleben Früchte tragen wird. In diesen Sinnhorizont eintreten zu können machte das Großartige eines Forscherlebens aus.

Zu schön, um wahr zu sein? Lesen Sie doch selbst den ganzen Artikel. Mich erinnerte die Gedankenführung an ein Buch, das ich nun suchen werde, um das Muster zu vergleichen.

Quelle DIE ZEIT 4.Mai 2016 Seite 44 Warum lügen und betrügen Wissenschaftler? Datenfälschungen haben den Ruf zahlreicher Universitäten beschädigt. Die Schummelei beschränkt sich aber nicht auf die Wissenschaft. Wie kann man der moralischen Entkernung der westlichen Demokratien entkommen? Ein Plädoyer wider die enthemmte Konkurrenz der Einzelkämpfer.  Von Michael Hampe.

Siehe auch: hier.

Lies das Gedicht, das mit der Zeile endet: „Was aber bleibet, stiften die Dichter“ – und immer – wie jetzt gerade – leicht verfälscht zitiert wird: korrekt hier.

Und wenn die Frage entsteht, wer eigentlich die Indier sind, die in der letzten Strophe genannt sind: wahrscheinlich sind die „West-Indier“ gemeint, bzw. die Schiffer von Bordeaux, die  auf der Garonne bis dahin kreuzen müssen, wo „meerbreit / Ausgehet der Strom“, welche also nun wieder lossegeln. (Nach Jochen Bertheau S. 117)

(Fortsetzung folgt)

Exkurs zum Sinn (mit & ohne Sinn)

Sinn Spirit aus HörZu-Radio aktuell (14-20 Mai)

Sinn Halm Sinn Becker

Figurenwerk

Mozarts Facile in der Orgelwalze

Sicher bin ich nicht der erste, dem es auffällt. Aber die meisten „echten“ Pianisten schauen eben nicht in das (zu undankbare?) Andante für eine Orgelwalze KV 616 (komponiert 1791), suchen es gar nicht erst, siehe unten links, aber jeder spielt irgendwann mal die Sonate KV 545 (komponiert 1788) siehe unten rechts. In jedem Fall ist es nützlich, die scheinbaren Routine-Stellen zu vergleichen und von ihnen zu wissen:

Mozart Orgelwalze 636   Mozart Sonate C 545 Durchführg

Ich bin unendlich dankbar, dass man heute so viele Quellen mit ein paar Klicks greifen und vergleichen kann: die Sonata Facile spiele ich seit etwa 1955 aus unterschiedlichsten Noten (z.Zt. aus der Henle-Ausgabe), aber das Andante für eine Orgelwalze kenne ich im Notentext erst seit einer Woche. Allein dank der Möglichkeit sie über das Wort Petrucci (oder die Buchstabenfolge IMSLP) im Handumdrehen zu finden und anzuschauen. Wie HIER und HIER.

Selbstverständlich kaufe ich weiterhin Noten, wenn ich sie spielen will, weil ich sie anders nicht wirklich besitze…

A propos Facile: Exkurs vom Notenlernen

Im Grunde könnten die Verlage, die auf dem öffentlichen Markt Noten anbieten, froh sein, wenn einmal das bloße Notenlesen propagiert wird. Von Jazz- und U-Musik-Produzenten wird ja gern so getan, als ob die Ohren und das Zuhören entscheidend seien, weit gefehlt, – es ist das Gehirn, in dem die Bedeutung der Musik entsteht und wahrgenommen wird, die Welt der Vorstellung und des Wissens… Man kann durchaus behaupten, dass viele Menschen, die immerhin persönlich im Konzert erscheinen um zuzuhören, ja, wenn man es messen könnte, nur – sagen wir – 20 Prozent der Musik hören und noch weniger wahrnehmen. Allein schon deshalb, weil sie sich nicht vorbereiten; sie glauben, das Konzert sei eine Bringschuld der Musiker, es ist aber ebenso eine Holschuld der Zuhörer! Von deren Aufmerksamkeit, Aufnahmefähigkeit und Konzentration hängt nicht zuletzt auch die Leistung auf der Bühne ab. Paradoxerweise kann allerdings der Konzertbesucher eigentlich gar nicht erwarten, an der vielgerühmten Wirkung der Musik teilzuhaben, wenn er die Grundlagen gar nicht mitbringt. Wenn er musikalischer Analphabet geblieben ist, weil das Schulsystem mehr nicht hergab.

Der am weitesten verbreitete Fehler ist übrigens, dass man glaubt, das Notenlesen sei eine Geheimwissenschaft, für die man eine besondere Begabung mitbringen müsse. Es ist nie zu spät. Schauen Sie nur, was man bei Google findet, wenn man „Notenlesen lernen“ eingibt. Aber Vorsicht, – vielleicht kaufen Sie sich lieber ein Kinderliederbuch und lassen sich daraus vorsingen. Im Ernst: es gibt eine Klippe, an die ich mich erinnere, einen Verstoß gegen die Logik, den man schon als Kind unterschwellig spürt und der einen beim Lernen behindert. Wenn ich schon akzeptieren muss, dass es 5 Notenlinien gibt, und nicht 6 oder 4, was rein logisch ja durchaus gleich sinnvoll wäre.

Die Klippe, die ich als Kind überwinden musste, war die: zu akzeptieren, dass es für einen Ton völlig gleich ist, ob er genau auf der Linie oder zwischen zwei Linien steht. Ich muss die „Leiter“ erkennen, die Tonleiter: sie besteht in diesem Fall eben nicht aus den Sprossen der 5 Linien, – vergiss das Bild der Leiter! -, sondern aus Linie, Zwischenraum, Linie, Zwischenraum, Linie, Zwischenraum, Linie, Zwischenraum, Linie.

Eine andere Voraussetzung, die man nur deutschen Kindern erklären muss: die Notennamen folgen nicht dem Alphabet, sonst hieße es nicht A – H – C. Fang also besser mit C an, dann stimmt es erstmal: C – D – E – F – G, dann hast du bereits 5 brauchbare Töne, und wenn du die hast, sage A – H („Aha!“) , und gehe so darüber hinaus: schon bist Du fast beim nächsthöheren C angekommen. Was für ein Ton wartet da! Logisch ist es allerdings nicht, dass diese Töne so heißen, und dass nun C das „Centrum“ wird. Ebensowenig wie Dein Vorname. Es hat zwar eine Erklärung, dass wir nicht A – B -C  sagen, wie die Engländer, aber die Erklärung kommt aus dem Mittelalter und ist für uns unwichtig.

Noch etwas, was ich als unlogisch empfand: dass das Viereck der großen (ganzen) Pause hängen muss, während die halbe Pause sitzen darf. Aber über viele Jahre hat mir dieser Widersinn geholfen, die betreffenden Pausen korrekt einzuschätzen.

Und dann beginnt das Lernen, zunächst der Notenwerte (Ganze, Halbe, Viertel, Achtel, Sechzehntel usw.), dann (oder zugleich) ihren Bezug auf den Takt (wieviele in einen Takt passen), warum wir überhaupt Takte brauchen… Dann die Schlüssel, fürs erste genügen Violin- und Bass-Schlüssel.

So, und jetzt können Sie die Notenbeispiele von Mozart noch lange nicht lesen… nur eins verrate ich Ihnen: sie finden darin im Prinzip schon alle Notenwerte, die Sie im Leben brauchen, aber keine einzige GANZE NOTE, allerdings einige GANZE PAUSEN, nämlich im Beispiel auf der linken Seite, in den Dreiergruppen der Notenlinien jeweils in der mittleren Reihe, da finden Sie genau 6 ganze Pausen hintereinander.

Was ich eigentlich sagen wollte: wenn man nur nicht in jedem Detail Logik erwartet, kann das Notenlernen ziemlich einfach sein!  Und es bringt ungeheuer viel Sinn und Übersicht in das Universum der Musik. Genauer … der abendländischen Musik von – sagen wir – 1600 bis 1900.

In der indischen Musik hätte ich einen anderen Rat. (folgt gleich)

Stop! Warum habe ich diesen Exkurs überhaupt begonnen? Weil ich dachte: für Leute, die keine Noten lesen können, ist vieles in meinem Blog überflüssig. Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen. So kam ich auf die Idee, sie auf Indien zu verweisen. Aber es wäre ein großer Irrtum zu denken, dass es dort leichter zugeht. Als erstes kommt doch „Sa ri ga ma pa dha ni sa“ und das ewige Silbensingen und diese endlosen Übungen. Das macht allerdings unweigerlich musikalischer. Oder Sie versuchen es auch dort erstmal mit mehr Augenarbeit: eine Methode finden Sie hier.

Ohligser Heide 1. Mai

Frühling am Drei-Insel-Teich und am Kovelenberg

Mai 1 2016 Heide 5 Mai 1 2016 Heide 17

Mai 1 2016 Heide 3 Mai 1 2016 Heide 4

Mai 1 2016 Heide 7 Mai 1 2016 Heide 11

(Fotos E.Reichow) s.a. hier / Kovelenberg (Foto 2 ganz oben): Griechischer Wein und Vorspeisen.

Spät abends auf ARTE der eindrucksvolle Film von Bruno Monsaingeon über Yehudi Menuhin. Was er über Geigeüben sagte (sinngemäß): Das tägliche Üben ist selbstverständlich, wie für den Vogel das Fliegen. Man kann sich keinen Vogel vorstellen, der morgens aufwacht und sagt: Heute fliege ich mal nicht. (Die Kanadagans könnte allerdings fortsetzen: Heute schwimme ich!)

Merkwürdiger Eindruck: als ob sich die Kunst seines Geigenspiels vor allem durch den Vortrag von Schmonzetten dokumentierte (Air von Bach, Ave Maria von Schubert, zu langsam; dagegen Sarasate, Mendelssohn, Lalo wie „Hummelflug“ zu schnell, wie im Zeitraffer, aber auch atemberaubend). Anrührend, wie er über seine Defekte spricht: im Sozialverhalten, das doch durch Wohltätigkeit bestimmt schien, über die innige Beziehung zu seiner Schwester Hephzibah, – dass er ihr hätte helfen können, wenn er in der Lage gewesen wäre, mit ihr über diese Dinge (?) zu reden. (Hatte sie ein psychisches Leiden?) Dass er keine individuelle Beziehung zu den Menschen gewonnen habe, sondern sie alle wie Figuren in einem Theaterstück betrachtet habe. Tatsächlich ist mir das auch aufgefallen, als ich einmal mit ihm sprechen konnte: dass seine menschliche Wärme ziemlich „automatisch“ wirkte. Wie in einem Glashaus. Höhenluft der Prominenz. Sein Urteil über Mozarts „Titus“, den er damals in Bonn dirigierte, klischeehaft. In seiner Wunschsendung für den WDR (2. Jan.1985) wählte er ausschließlich eigene Aufnahmen (u.a. mit dem Polnischen Kammerorchester). Im Gespräch über die Geige in anderen Kulturen sprang ein Funke über. Merkwürdig, dass ich damals nicht daran dachte, ein Erinnerungsfoto machen zu lassen. – Man kann den ganzen Film unter dem oben angegebenen Link abrufen. Unbedingt empfehlenswert.

Menuhins Widmung

Hinweis: eine gute Hörfunksendereihe war zu Menuhins 100. Geburtstag von Michael Struck-Schloen im Kulturradio rbb zu hören und ist im Skript nachzulesen: z.B. Folge 7 (14. Febr. 2016) insbesondere George Enescu betreffend hier / darin auch Zitate aus der Sendung JR (1985) vor Musik 9 und nach Musik 11. Die WDR-Sendung existiert also noch…

2.Mai 2016 – die Wand des Nachbarhauses in der Morgensonne. Blutbuche. Ab 8:45 tönte dazu für 3 Min. die schöne Hauptglocke (Ton Cis) der nahen Kirche St. Josef. Beerdigung?

Nachbarhaus Morgensonne Buche 2 Mai 2016

(Handyfoto JR)