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Ein Kurz-Gedicht oder zwei

Es gehört zu Peter von Matts Entdeckungen

Gestern liebt‘ ich,

Heute leid‘ ich:

Dennoch denk‘ ich

Heut und morgen

Gern an gestern.

*     *     *

Es passt zum Cherubinischen Wandersmann, denkt man, aber weit gefehlt… (siehe – zur Einstimmung – im Blog hier)

Eine Reihe von Fundstücken hätte ich noch anzufügen, sobald genug Zeit ist.

Hier folgt ein weiteres Gedicht, ein altes Distichon, das mir neu war, doch inhaltlich so vertraut wie die Odyssee meiner 50er Jahre, als sei ich selbst der, der hier nach Hause kommen sollte:

Odysseus

Alle Gewässer durchkreuzt‘, die Heimat zu finden, Odysseus;

Durch der Scylla Gebell, durch der Charybde Gefahr,

Durch die Schrecken des feindlichen Meers, durch die Schrecken des Landes,

 

Selber in Aides‘ Reich führt ihn die irrende Fahrt.

Endlich trägt das Geschick ihn schlafend an Ithakas Küste,

Er erwacht und erkennt jammernd das Vaterland nicht.

 

*     *     *

Als Mahnung an Zweifler und Kritiker sei gesagt: ohne Peter von Matt hätte ich keinen Zugang zu diesen Gedichten gefunden, oder sie gar für hilfreich in einer problematischen Lebenssituation erkundet. Ich überrede niemanden, habe genügend mit mir selbst zu tun*. Zu erwähnen wäre vielleicht doch, dass das zweite Gedicht von Schiller ist, das erste von Lessing.

*Weshalb ich jetzt dringend die Schillerschen Briefe zur ästhetischen Erziehung rekapitulieren muss (auch sie habe ich in der Schulzeit kennengelernt, aber – wie sich zeigt – nicht im geringsten verstanden, – bis auf ein winziges Detail).

*     *     *

Nach Haus zurückgekehrt, sehe ich in der alten zweibändigen Dünndruck-Ausgabe „Schillers Werke“ doch die Spuren einer Arbeit, die mir erzählen, dass ich es wohl ernster gemeint habe, als kürzlich erinnert, und das beflügelt mich seltsamerweise heute, nach etwa 66 Jahren, Schillers „ästhetische Briefe“ nach dem „Gutenberg“-Text per Handy intensiver durchzugehen,kurz: ich kam zu dem Vorsatz: es muss sein. Der Zeitsprung selbst könnte zum Thema werden, – die Gründe folgen vielleicht später.

schwache Unterstreichungen, inliegend ein Zettel, der damals den Gedankengang gliedern sollte.

Und die Rückseite des Zettels mit dem Ende der Bemühungen von 1956/57, daneben die neuen Notizen, die mich vor wenigen Tagen – bei der Lektüre des Buches „Wörterleuchten“ (Peter von Matt) – zu dem Zeitsprung veranlasste, wobei ich andere Assoziationen nicht fallen lassen wollte, wie die des Briefwechsels Emil Staiger / Martin Heidegger über Mörikes Gedicht „Auf eine Lampe“, das Peter von Matt gar nicht behandelt (die Frage, ob „scheint“ dem lateinischen „lucet“ oder „videtur“ entspricht). Das Thema Schönheit und das Thema Zeit, – das darf ich nicht wieder verlieren.

dies nur als Gedächtnisstütze, für andere Leser nicht unbedingt nutzbringend … aber vielleicht anregend als Weg privater Resilienz, die zu nichts Greifbarem führt, abgesehen von dem Versuch, einen Zeitsprung von 66 Jahren so wichtig zu nehmen, als ließe er sich zu einem „Madeleine“-Erlebnis stilisieren. usw. usw. klar, am Ende bleibt mehr, als je gedacht. Und das wird an Schiller liegen. Ich erinnerte mich aber auch an Humboldts Ausspruch über seine Weltaneignung und daran, dass dagegen ich wohl alle paar Monate dasselbe entdecke und es als Neuigkeit feiere. Warum auch nicht!? Irgendwie zyklisch. Wie zum Beispiel schon hier.

Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation / Studien zur deutschen Literaturgeschichte / Atlantis Verlag Zürich 1955 (1961)

Erst durch diese Behandlung wurde mir damals schlagartig deutlich, dass viel mehr in diesem Gedicht steckte, als man als Schüler glauben mochte. Es klang gar zu brav. (Was soll mir die Lampe???) Und ähnlich ging es mir mit dem kleinen Gedicht von Schiller, das den Spielenden Knaben zum Thema hatte, eine typische Mutter-Kind-Idylle, angelehnt an irgendwelche pietistischen Bilder zur Kindheit Jesu, endend mit vagen Spruchweisheiten. Es erinnerte mich an die letzten Jahre meines Vaters, als er plötzlich begann, die Pflicht zu verherrlichen, aber ohne Begeisterung. Und ohne Kant.

Weit gefehlt. Hier ist ein Schüssel zur methodischen Philosophie, zur dritten der großen Kant-Kritiken, und dies ernstzunehmen, verdanke ich Peter von Matt. Andererseits ist es viel zu kurz abgetan, wenn man wirklich den Spuren in Schillers Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ nachgeht. Dieses Gedicht sei

ein schroffer Gegenzug zu der Erlösungsvision, die sich mit dem Begriff des Spiels in den Briefen (…) verbindet. Dort wird der spielende Mensch zur Chiffre einer weltgeschichtlichen Hoffnung. Das Spiel, schon das des Kindes, beweist die Fähhigkeit zu freiem Handeln. Es ist die Schwelle zu jeder Gestalt von Freiheit, das Versprechen einer möglichen Versöhnung aller Gegensätze. Im Spiel wird das Zerrissene wieder ganz, und diese Ganzheit enthält den Keim einer besseren, einer wahrhaft schönen Zukunft. Die geglückte Welt, die die Jakobiner, ein Jahr zuvor blutig erzwingen wollten, durch Terror, will Schiller friedlich in die Wirklichkeit locken, durch die Spiele der Kunst. So sagen es die Briefe. Das Gesicht sagt etwas anderes. Die zehn Verse sind ohne Hoffnung.

Man wird verlockt, es sich mit den Briefen zu leicht zu machen, auch wenn davor ausdrücklich gewarnt wird. Der Hinweis auf die Französische Revolution ist sicher wichtig und lässt uns einsehen, weshalb eine Ästhetik nicht ohne Blick auf den Staat zu denken ist, in dem sie sich realisiert. Und wenn in dem Gedicht nur von „dem fröhlichen Trieb“ die Rede ist, ahnen wir nicht, wie differenziert Schiller über die beiden „Triebe“ spricht (in denen keine Vorwegnahme der Freudschen Theorie vermutet werden sollte): der sinnliche Trieb und der Formtrieb. Man könnte im Vierzehnten oder Fünfzehnten Briefe ansetzen, um erst später ganz am Anfang beginnen. Und beherzigen, was er im Achten Brief mit der Erinnerung an den Wahlspruch SAPERE AUDE meint, den schon Kant als Feldzeichen hochhielt. Gefährlich ist es vor allem, am Ende den „Begriff der Pflicht im deutschen Denken und Gehorchen“ hervorzuheben, um ihn dann im Gedicht ganz anders zu sehen, dieses nämlich „wie ein aufständisches Manifest“ zu lesen.

Schiller:

Der Gegenstand des sinnlichen Triebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Leben in weitester Bedeutung; ein Begriff, der alles materielle Sein und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet. Der Gegenstand des Formtriebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Gestalt, sowohl in uneigentlicher als in eigentlicher Bedeutung; ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich faßt. Der Gegenstand des Spieltriebes also, in einem allgemeinen Schema vorgestellt, wird also lebende Gestalt heißen können; ein Begriff der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient.

Damit kann man schon eine Weile leben und denken, ehe man mit Schiller fortfährt:

(Fortsetzung folgt) !!!

Radikal kurz…

…die deutsche Literaturgeschichte

Ich kürze sie radikaler als Bismarck die Emser Depesche und schlage zugleich vor, sie später im Original und in Echtzeit zu studieren, vieles ist atemberaubend:

Der von den Literaturgeschichten suggerierte Zusammenhang einer deutschen Literatur vom achten Jahrhundert bis zur Gegenwart ist eine erfundene Tradition. Sie wurde von Germanisten eben in der klassisch-romantischen Periode der deutschen Literatur behauptet, um den nationalen Anspruch auf ein uraltes Fundament zu stützen. So plötzlich trat im 18. Jahrhundert eine deutsche Literatur von höchstem Rang hervor, daß selbst die Zeitgenossen glaubten, es müßten vergessene Vorläufer in der deutschen Vergangenheit zu finden sein.

Quelle Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur dtv Deutscher Taschenbuch Verlag München 2003 ISBN 978-3-423-34022-9 (Seite 18 f)

Widersprüchlich muß es erscheinen, daß die deutschen zu den alten Kulturvölkern Europas gehören, im Mittelalter als Zentralmacht sich auf die Tradition des Imperium Romanum beriefen, und daß dennoch eine kontinuierlich wirksame literarische Überlieferung erst seit 250 Jahren besteht. Bei anderen europäischen Nationen besteht sie seit 500 Jahren – so in Frankreich, England, Spanien – oder gar seit 700 Jahren – so in Italien, wo sich die Erinnerung an Dante, Petrarca und Boccaccio bis heute nicht verloren hat. Deutsche Texte des Mittelalters und der frühen Neuzeit hingegen stehen wie eine fremde Literatur mehr außer- als innerhalb der literarischen Tradition in Deutschland. Als letzte unter den westeuropäischen Sprachen, lange nach der portugiesischen und selbst nach der niederländischen (die sich von der hochdeutschen getrennt hat), findet das Deutsche, von Gottsched auf den Weg und von Goethe ans Ziel gebracht, zur allgemein akzeptierten Gestalt einer Literatursprache, die dann auch zur grammatischen und stilistischen Norm nicht-literarischer Prosa wird. Traditionen sind in der Geschichte der deutschen Literatur so kurzlebig, daß sie gar nicht Traditionen heißen dürften. Die Kenntnis althochdeutscher Dichtung geht nach 1150 verloren, die der mittelhochdeutschen nach 1450, die der frühen Neuzeit nach 1770. Die Geschichte der deutschen Literatur besteht aus einer Serie verlorener Anfänge, ehe es zu einem Anfang kam, der Bestand haben sollte. Die ältesten deutschen Werke, die das literarische Gedächtnis bis heute behalten hat, sind Lessings Dramen, Goethes Werther, einige Gedichte Klopstocks, Bürgers, Claudius‘ und des jungen Goethe.

Es liegt auf der Hand, Namen zu nennen, die Schlaffers Meinung zu widerlegen scheinen (von Meister Eckhart oder Walther von der Vogelweide bis zu Grimmelshausen), – sie taten keine Wirkung (oder erst bei der Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert), sie gehörten nie zum öffentlichen Bewusstsein, der Gebildete in Deutschland verwendete Latein, die Klöster, der 30jährige Krieg, die Reformation usw. all dies bedeutete nicht eben einen Aufschwung der humanistischen Idee und der Renaissance.

In Deutschland, wo der Buchdruck erfunden wurde und sich das Verlagswesen am frühesten entwickelte, erschien in der frühen Neuzeit weniger weltliche Literatur in der eigenen Sprache als in anderen Ländern, und, was wichtiger ist als die Quantität, darunter keine, die heute noch Leser vergnügen, erstaunen, anrühren können. In der deutschen Literatur gibt es kein Gegenstück zu Villon, Ronsand, Rabelais, Montaigne in Frankreich, zu Sannazaro, Ariost, Tasso in Italien, zu Chaucer und den Elisabethanern in England, die alle zur Weltliteratur zählen. (Seite 36)

Deutschland ist das Land der Verspätung. Sehr interessant z.B. die Einschätzung des Begriffs „Barock“.

Die Serie der Verspätungen setzt sich im 17. Jahrhundert fort. Sie wäre deutlicher sichtbar, wenn man die – mit dem Klassizisten Opitz beginnende und mit dem Manieristen Hofmannswaldau endende – Epoche nicht „barock“ sondern „Renaissance und Manierismus“ genannt hätte. Der Begriff „Barock“ ist der Kunstgeschichte entlehnt, die ihn für Stilphänomene in europäischen Bauwerken und Gemälden des 17. und 18. Jahrhunderts verwendet. Die Eigenheiten dieses Stils sind ohne gewaltsame Interpretation in der deutschen Literatur des „Barock“ nicht wiederzufinden, doch verleihen sie ihr den Nimbus des Zeitgemäßen und gar einer Vorläuferschaft in der europäischen Kunstgeschichte. Durch geschickte Namensgebung hat die Germanistik das Abgeleitete zum Ursprünglichen umgetauft.

Nicht nur verspätet gelangt die Nachricht von der Wiederentdeckung der Antike nach Deutschland, sondern auch entschärft und entleert. (Seite 38)

Was ist mit meiner Langversion aus dem Jahr 1964?

LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte VI

ZITAT

Erst die Dissertation von Julian Schütt kehrte 1996 hervor, dass de Boor vorbildliche Arbeit für den NS-Staat leistete, indem er zum einen die deutsche Studentenschaft in der Schweiz zur Regierungspropaganda anregte und zum anderen im Auftrag der Kulturabteilung der deutschen Gesandtschaft in Bern die politischen Einstellungen der Berner Universitätsdozenten auskundschaftete. Leider verfiel der Schweizer Bundesrat erst 1945 darauf, de Boor zusammen mit seinem Gesinnungsfreund Richard Newald des Landes zu verweisen, auch wenn den beiden, wie Max Wehrli unterstrich, „wissenschaftlich […] kaum etwas vorzuwerfen“ war. Die Rubrik ‚Literatur‘ (gemeint ist Sekundärliteratur) nennt weder Schütts Monographie, noch Wehrlis Aufsatz, leider; auch wäre im Falle de Boor die Tatsache, dass er 1937 in die NSDAP eintrat, besonders aussagekräftig gewesen, da dahinter weniger Karrierekalkül, denn politische Überzeugung zu vermuten ist, schließlich lehrte de Boer zu diesem Zeitpunkt schon sieben Jahre lang in der Schweiz. Nicht eigens Erwähnung finden im Übrigen de Boors wie auch Burgers Beitrag zum germanistischen Kriegseinsatz-Projekt ‚Von deutscher Art in Sprache und Dichtung‘.

Quelle Geschichte der Germanistik / Mitteilungen herausgegeben von Christoph König in Verbindung mit Michel Espagne, Ulrike Haß, Ralf Klausnitzer, Ulrich Wyss / 2004 Doppelheft 25/26  Wallstein Verlag (Seite 31)

Kritische Worte zum enzyklopädischen Ansatz

Ein Literaturhistoriker, dem in dem vielbändigen Großunternehmen Geschichte der deutschen Literatur (begründet von de Boor und Newald) die Darstellung des 15. und 16. Jahrhunderts zugefallen war, wehrt sich gegen das „Vorurteil“, daß die deutsche Dichtung dieser Epoche „minderwertig sei und die Mühe einer systematischen Beschäftigung nicht lohne“. Er hofft, das Vorurteil dadurch widerlegen zu können, daß er „philologisch sachliche Stofferfassung und -darbietung“ verbindet, an „die Stelle einer Geschichte der poetischen Literatur die Schrifttumsgeschichte treten“ läßt, um auf diese Weise zwei Bände mit mehr als 1400 Seiten zu füllen. Unter den vielen hundert Dichtern, die hier angeführt sind, kennt selbst der Gebildete (falls er nicht professioneller Germanist ist) lediglich den Namen – nicht das Werk – von Hans Sachs, und auch dies nur dank seiner Würdigung durch Goethe und seinen Auftritt in Wagners Meistersingern. Kultur- und Schrifttumsgeschichte läßt sich, da Kultur immer stattfindet und irgend etwas immer geschrieben wird, auch dann betreiben, wenn es an lesens- und erinnernswerter Dichtung fehlt. Wer diese beiden Bände liest, erfährt von der Existenz vieler Schriften, deren Lektüre er sich trotz dieser Unterrichtung dennoch nicht vornehmen möchte. Wie so oft ist das „Vorurteil“ Ergebnis eines vielfach bestätigten Urteils. Es ist nicht sinnvoll, das Urteil über die deutsche Literatur der frühen Neuzeit zu korrigieren, sinnvoll ist es aber zu erklären, weshalb es zutrifft.

Quelle (s.o.) Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur dtv Deutscher Taschenbuch Verlag München 2003 ISBN 978-3-423-34022-9 (Seite 35 f)