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Ein Kurz-Gedicht oder zwei

Es gehört zu Peter von Matts Entdeckungen

Gestern liebt‘ ich,

Heute leid‘ ich:

Dennoch denk‘ ich

Heut und morgen

Gern an gestern.

*     *     *

Es passt zum Cherubinischen Wandersmann, denkt man, aber weit gefehlt… (siehe – zur Einstimmung – im Blog hier)

Eine Reihe von Fundstücken hätte ich noch anzufügen, sobald genug Zeit ist.

Hier folgt ein weiteres Gedicht, ein altes Distichon, das mir neu war, doch inhaltlich so vertraut wie die Odyssee meiner 50er Jahre, als sei ich selbst der, der hier nach Hause kommen sollte:

Odysseus

Alle Gewässer durchkreuzt‘, die Heimat zu finden, Odysseus;

Durch der Scylla Gebell, durch der Charybde Gefahr,

Durch die Schrecken des feindlichen Meers, durch die Schrecken des Landes,

 

Selber in Aides‘ Reich führt ihn die irrende Fahrt.

Endlich trägt das Geschick ihn schlafend an Ithakas Küste,

Er erwacht und erkennt jammernd das Vaterland nicht.

 

*     *     *

Als Mahnung an Zweifler und Kritiker sei gesagt: ohne Peter von Matt hätte ich keinen Zugang zu diesen Gedichten gefunden, oder sie gar für hilfreich in einer problematischen Lebenssituation erkundet. Ich überrede niemanden, habe genügend mit mir selbst zu tun*. Zu erwähnen wäre vielleicht doch, dass das zweite Gedicht von Schiller ist, das erste von Lessing.

*Weshalb ich jetzt dringend die Schillerschen Briefe zur ästhetischen Erziehung rekapitulieren muss (auch sie habe ich in der Schulzeit kennengelernt, aber – wie sich zeigt – nicht im geringsten verstanden, – bis auf ein winziges Detail).

*     *     *

Nach Haus zurückgekehrt, sehe ich in der alten zweibändigen Dünndruck-Ausgabe „Schillers Werke“ doch die Spuren einer Arbeit, die mir erzählen, dass ich es wohl ernster gemeint habe, als kürzlich erinnert, und das beflügelt mich seltsamerweise heute, nach etwa 66 Jahren, Schillers „ästhetische Briefe“ nach dem „Gutenberg“-Text per Handy intensiver durchzugehen,kurz: ich kam zu dem Vorsatz: es muss sein. Der Zeitsprung selbst könnte zum Thema werden, – die Gründe folgen vielleicht später.

schwache Unterstreichungen, inliegend ein Zettel, der damals den Gedankengang gliedern sollte.

Und die Rückseite des Zettels mit dem Ende der Bemühungen von 1956/57, daneben die neuen Notizen, die mich vor wenigen Tagen – bei der Lektüre des Buches „Wörterleuchten“ (Peter von Matt) – zu dem Zeitsprung veranlasste, wobei ich andere Assoziationen nicht fallen lassen wollte, wie die des Briefwechsels Emil Staiger / Martin Heidegger über Mörikes Gedicht „Auf eine Lampe“, das Peter von Matt gar nicht behandelt (die Frage, ob „scheint“ dem lateinischen „lucet“ oder „videtur“ entspricht). Das Thema Schönheit und das Thema Zeit, – das darf ich nicht wieder verlieren.

dies nur als Gedächtnisstütze, für andere Leser nicht unbedingt nutzbringend … aber vielleicht anregend als Weg privater Resilienz, die zu nichts Greifbarem führt, abgesehen von dem Versuch, einen Zeitsprung von 66 Jahren so wichtig zu nehmen, als ließe er sich zu einem „Madeleine“-Erlebnis stilisieren. usw. usw. klar, am Ende bleibt mehr, als je gedacht. Und das wird an Schiller liegen. Ich erinnerte mich aber auch an Humboldts Ausspruch über seine Weltaneignung und daran, dass dagegen ich wohl alle paar Monate dasselbe entdecke und es als Neuigkeit feiere. Warum auch nicht!? Irgendwie zyklisch. Wie zum Beispiel schon hier.

Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation / Studien zur deutschen Literaturgeschichte / Atlantis Verlag Zürich 1955 (1961)

Erst durch diese Behandlung wurde mir damals schlagartig deutlich, dass viel mehr in diesem Gedicht steckte, als man als Schüler glauben mochte. Es klang gar zu brav. (Was soll mir die Lampe???) Und ähnlich ging es mir mit dem kleinen Gedicht von Schiller, das den Spielenden Knaben zum Thema hatte, eine typische Mutter-Kind-Idylle, angelehnt an irgendwelche pietistischen Bilder zur Kindheit Jesu, endend mit vagen Spruchweisheiten. Es erinnerte mich an die letzten Jahre meines Vaters, als er plötzlich begann, die Pflicht zu verherrlichen, aber ohne Begeisterung. Und ohne Kant.

Weit gefehlt. Hier ist ein Schüssel zur methodischen Philosophie, zur dritten der großen Kant-Kritiken, und dies ernstzunehmen, verdanke ich Peter von Matt. Andererseits ist es viel zu kurz abgetan, wenn man wirklich den Spuren in Schillers Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ nachgeht. Dieses Gedicht sei

ein schroffer Gegenzug zu der Erlösungsvision, die sich mit dem Begriff des Spiels in den Briefen (…) verbindet. Dort wird der spielende Mensch zur Chiffre einer weltgeschichtlichen Hoffnung. Das Spiel, schon das des Kindes, beweist die Fähhigkeit zu freiem Handeln. Es ist die Schwelle zu jeder Gestalt von Freiheit, das Versprechen einer möglichen Versöhnung aller Gegensätze. Im Spiel wird das Zerrissene wieder ganz, und diese Ganzheit enthält den Keim einer besseren, einer wahrhaft schönen Zukunft. Die geglückte Welt, die die Jakobiner, ein Jahr zuvor blutig erzwingen wollten, durch Terror, will Schiller friedlich in die Wirklichkeit locken, durch die Spiele der Kunst. So sagen es die Briefe. Das Gesicht sagt etwas anderes. Die zehn Verse sind ohne Hoffnung.

Man wird verlockt, es sich mit den Briefen zu leicht zu machen, auch wenn davor ausdrücklich gewarnt wird. Der Hinweis auf die Französische Revolution ist sicher wichtig und lässt uns einsehen, weshalb eine Ästhetik nicht ohne Blick auf den Staat zu denken ist, in dem sie sich realisiert. Und wenn in dem Gedicht nur von „dem fröhlichen Trieb“ die Rede ist, ahnen wir nicht, wie differenziert Schiller über die beiden „Triebe“ spricht (in denen keine Vorwegnahme der Freudschen Theorie vermutet werden sollte): der sinnliche Trieb und der Formtrieb. Man könnte im Vierzehnten oder Fünfzehnten Briefe ansetzen, um erst später ganz am Anfang beginnen. Und beherzigen, was er im Achten Brief mit der Erinnerung an den Wahlspruch SAPERE AUDE meint, den schon Kant als Feldzeichen hochhielt. Gefährlich ist es vor allem, am Ende den „Begriff der Pflicht im deutschen Denken und Gehorchen“ hervorzuheben, um ihn dann im Gedicht ganz anders zu sehen, dieses nämlich „wie ein aufständisches Manifest“ zu lesen.

Schiller:

Der Gegenstand des sinnlichen Triebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Leben in weitester Bedeutung; ein Begriff, der alles materielle Sein und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet. Der Gegenstand des Formtriebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Gestalt, sowohl in uneigentlicher als in eigentlicher Bedeutung; ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich faßt. Der Gegenstand des Spieltriebes also, in einem allgemeinen Schema vorgestellt, wird also lebende Gestalt heißen können; ein Begriff der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient.

Damit kann man schon eine Weile leben und denken, ehe man mit Schiller fortfährt:

(Fortsetzung folgt) !!!

Herr und Knecht

Ein paar Links zu Hegels Gedankengang

Ich beginne mit dem Versuch, das bloße Thema zu  erfassen. (Nehmen wir an, ich habe noch nie etwas davon gehört, abgesehen von der Erfahrung mit alltäglichen Herrschaftsformen:  Jemand darf mir etwas sagen, ein „Chef“ etwa, bzw. irgendwo hätte auch ich „etwas zu sagen“… ein guter Anfang wäre es, einen Hund zu besitzen.)

Hegel betrachtet die Dialektik von Herr und Knecht als Quelle des Selbstbewusstseins, der Identität. Die Elemente des Selbstbewusstseins werden als „Für-sich-sein“ (Herr) und „Für-andere-sein“ (Knecht) erschlossen. Der Herr bezieht sein Selbstbewusstsein aus der Tatsache anerkannt zu werden; dafür, dass er sein Leben riskiert hat. Er arbeitet nicht. Der Knecht jedoch arbeitet für den Herrn. Er bezieht sein Selbstbewusstsein im Laufe der Zeit nicht mehr nur aus der Tatsache, für jemand anderen zu sein und zu arbeiten, sondern durch seine Arbeit gelangt er zur Herrschaft über die Natur.

https://de.wikipedia.org/wiki/Herrschaft_und_Knechtschaft HIER

In diesem Wikipedia-Artikel erfährt man, wo Hegels Gedankengang ansetzt: er hat ihn nicht aus der Luft gegriffen oder aus luftigen Einfällen zusammenphantasiert: er ging von konkreten Geschichten aus, genauer gesagt: von einem französischen Buch, das in den 1790er Jahren herauskam; der Autor war Denis Diderot. Friedrich Schiller hat vorweg ein einzelnes Kapitel übersetzt und daraus eine eigenständige Geschichte geformt, die 1785 erschien. Eine etwas komplizierte Konstruktion, – vor allem wenn man in erster Linie darauf wartet, erfassen zu können, wie sie nun mit Hegel zusammenhängen soll.

https://de.wikipedia.org/wiki/Merkw%C3%BCrdiges_Beispiel_einer_weiblichen_Rache HIER

Der nächste Schritt wäre die Lektüre des Schillerschen Originals, das über den Link am Ende des Wikipedia-Artikels erreichbar ist bzw. hier. Aber letztlich kann man sich diesen Zwischenschritt zu Schiller sparen, der jedoch vorweg zur Publicity des noch nicht veröffentlichten Diderot-Werks erheblich beitrug.

Der folgende Weg führt zu Diderots Roman „Jacques der Fatalist und sein Herr“, der in einer interessanten Ringvorlesung behandelt wurde, als Punkt 7 findet man die Überschrift „Herr und Knecht“:

Hegel entfaltete (…) die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft in Rückbezug auf Diderots Roman und stellte die Überlegenheit des Knechts über den Herrn heraus.

https://web.archive.org/web/20131104215749/http://www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/veranstaltungen/ringvorlesungen/romane_antike_19jh/Diderot_Jacques.pdf HIER

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Der Wikipedia-Artikel zur „Phänomenologie des Geistes“ zeigt, welch zentrale Stellung das Problem von Herr und Knecht in Hegels Buch einnimmt: HIER.

Und nun zu Hegels Originaltext: ab HIER  plus Kapitel 22…

Oder in meinem verstaubten Exemplar:

 1921

Und? Wie war’s?

*    *    *

Ich bin stark abgelenkt durch die Frage, ob nicht heute jeder Esel ein Arbeiter sein will. Im Urlaub trägt er sein ganzes Freizeitgerümpel mit sich, – ist denn Surfen und das ganze Selbstoptimierungsprogramm bloße Zerstreuung? Herrentätigkeit? Selbstausbeutung? Gilt als Arbeit vielleicht nur alles, was unfreiwillig getan wird; was man tun muss, um den Lebensunterhalt zu sichern? Nur die körperliche Arbeit? Hat ein adeliger Herr in feudalen Zeiten nicht immerhin Büroarbeit erledigt? Mich beschäftigt auch ein Artikel, in dem es um Sklavenarbeit ging (Zuckerherstellung auf Cuba). Als sie abgeschafft war, war man imstande, mithilfe zwischengeschalteter Maschinen die Natur direkt auszubeuten. Da wird allerdings eine absolute Grenze sichtbar; sie ist längst überschritten.

Aber im Grund geht man bereits fehl, wenn man das Verständnis des Hegel-Textes auf zwischenmenschliche Verhältnisse einengt, die Entwicklung dieses Gedankens gehört zum Kapitel „Selbstbewusstsein“ und bezieht sich gleichermaßen auf die reflexive Situation im Kopf jedes Individuums. Man könnte ansetzen bei dem Wort „Begierde“.

Nach Hegel, – so in einem anderen Werk -,

ist die Begierde diejenige Form, in welcher das Selbstbewußtsein auf der ersten Stufe seiner Entwicklung erscheint. Die Begierde hat hier, im zweiten Hauptteil der Lehre vom subjektiven Geiste, noch keine weitere Bestimmung als die des Triebes, insofern derselbe, ohne durch das Denken bestimmt zu sein, auf ein äußerliches Objekt gerichtet ist, in welchem er sich zu befriedigen sucht.
Daß aber der so bestimmte Trieb im Selbstbewußtsein existiert, davon liegt die Notwendigkeit darin, daß das Selbstbewußtsein (…)  zugleich seine ihm zunächst vorangegangene Stufe, nämlich Bewußtsein ist und von diesem inneren Widerspruche weiß. Wo ein mit sich Identisches einen Widerspruch in sich trägt und von dem Gefühl seiner an sich seienden Identität mit sich selber ebenso wie von dem entgegengesetzten Gefühl seines inneren Widerspruchs erfüllt ist, da tritt notwendig der Trieb hervor, diesen Widerspruch aufzuheben.
Das Nichtlebendige hat keinen Trieb, weil es den Widerspruch nicht zu ertragen vermag, sondern zugrunde geht, wenn das Andere seiner selbst in es eindringt. Das Beseelte hingegen und der Geist haben notwendig Trieb, da weder die Seele noch der Geist sein kann, ohne den Widerspruch in sich zu haben und ihn entweder zu fühlen oder von ihm zu wissen.

Quelle Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriss (1817) / Zitiert nach dem Text hier. Volltext HIER.

Man kann nicht erwarten, nach diesen kurzen Hinweisen einen Text wie den eben zitierten wirklich zu verstehen, aber man ist immerhin  geschützt vor allzu schnellen Festlegungen…

*    *    *

Ich habe mich nach diesen Texten erstmal – wie schon mehrfach in den vergangenen 20 Jahren – in die Einleitung des Herausgebers Georg Lasson begeben und fand das so instruktiv wie früher (als ich trotzdem letztlich darin steckengeblieben bin). Im Vorwort zur ersten Auflage habe ich mir folgende Zeile unterstrichen:

Dem Riesengeist Hegels sich nicht gewachsen zu fühlen, ist gewiß keine falsche Bescheidenheit.

Die vorliegende zweite Auflage der „Phänomenologie des Geistes“ ist die, die auch Adorno in seinen Vorlesungen benutzt hat. Hier sind die Seiten, die ich fürs erste hilfreich fand und mir abrufbereit halten möchte:

Hölderlin singt und brüllt

… und widmet „dieses Glas dem guten Geist“!

Ein Freund erzählt:

Wer ihn sah, liebte ihn, und wer ihn kennen lernte, der blieb sein Freund. Ungünstige Liebe, amor cappriccio hat ihm Tübingen manchesmal verbittert, doch war er nicht taub gegen die Warnungen und Bestrafungen seiner Freunde. Ein Gesellschäftchen guter Freunde beim mäßigen Rheinweine war elektrisch heilsam für seine Seele, und diße Zusammenkünftchen liebte er über alles. Neuffer mit Klopstoks Oden in der Hand, und feuerroth im Angesichte machte den Anagnosten, und bald hieß es, wenn wir uns zu einem solchen Mahle einluden, „wir wollen heute viel von grosen Männern sprechen“.

Eines solcher Gesellschäftchen verlegten wir an dem heitersten Tage in den Garten des LammWirthes. Ein niedliches Gartenhäußgen nahm uns da auf, und an Rheinwein gebrach es nicht. Wir sangen alle Lieder der Freude nach der Reihe durch. Auf die Bole Punsch hatten wir Schillers Lied der Freude aufgespart. Ich gieng sie zu holen. Neuffer war eingeschlaffen, da ich zurückkahm, und Hölderlin stand in einer Ecke und rauchte. Dampfend stand die Bole auf dem Tische. Und nun sollte das Lied beginnen, aber Hölderlin begehrte, daß wir erst an der kastalischen Quelle uns von allen unsern Sünden reinigen sollten. Nächst dem Garten flos der sogenannte Philosofen Brunnen, das war Hölderlins kastalischer Quell; wir giengen hin durch den Garten, und wuschen das Gesicht und die Hände; feierlich trat Neuffer einher, diß Lied von Schiller, sagte Hölderlin, darf kein Unreiner singen! Nun sangen wir; bei der Strofe „dieses Glas dem guten Geist“ traten helle klare Thränen in Hölderlins Auge, voll Glut hob er den Becher zum Fenster hinaus gen Himmel, und brüllte „dises Glas dem guten Geist“ ins Freie, daß das ganze Neckar Thal widerschol. Wie waren wir so selig! O akademische Freundschaft, wo ist der Greis, der sich an dem Rükblike auf deine Wonnen nicht noch immer stärkt?

Aus: Skizze meines Lebens, ein Lesebuch für mein künftiges Leben von M. Rudolf Fridrich Magenau, angefangen im Jahr 1793. zu Vaihingen a.d. Enz; Württenbergische Landesbibliothek Stuttgart Co. Hist. 4° 561

Zitiert nach: Friedrich Hölderlin Sämtliche Werke Kritische Textausgabe Band 9 / Dichtungen nach 1806 / Mündliches / Luchterhand Darmstadt und Neuwied 1984 ISBN 3-472-87009-5 / Zitat Seite 98 / Die Rechtschreibung wurde beibehalten, die Abkürzungen „u.“ und „H.“ aufgelöst in „und“ bzw. „Hölderlin“. (JR)

Die Freunde haben natürlich nicht die Beethovensche Melodie gesungen, die erst 30 Jahre später entstand, und wohl auch nicht die gleich folgende, sondern die von Christian Gottlieb Körner (1786). Die hier zitierte gehörte aber zweifellos im 19. Jahrhundert zum „Hausschatz von über 1000 der besten deutschen Volkslieder“, die E. L. Schellenberg 1927 im „Verlag für Kultur und Menschenkunde“ Berlin-Lichterfelde herausgegeben hat.

Man lese oder singe mit Inbrunst die 7. Strophe, in der sich zu den Pokalen als Reim die Kannibalen fügen. „Brüder, fliegt von euren Sitzen, wenn der volle Römer kreist! Lasst den Schaum zum Himmel spritzen: dieses Glas dem guten Geist!“ Der Geist überm Sternenzelt wohlgemerkt. Man vergesse nicht: es war eine Zeit, in der die Begeisterung spielend über Sinnklippen hinwegtrug und übrigens nicht ungefährlich war… Dazu später mehr.

An die Freude a An die Freude b

Roemer_Waldglas

Interessante Lektüre zur Situation im damaligen Tübingen: Uwe Jens Wandel „Verdacht von Democratismus?“ Studien zur Geschichte von Stadt und Universität Tübingen im Zeitalter der Französischen Revolution“ Tübingen 1981 s.a. hier

Anlass für diesen Blogbeitrag war ein seltsamer Artikel des Politik-Redakteurs Stefan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung vom 10. Februar 2016, eine Beilage zur 52. Sicherheitskonferenz in München: „Wo bitte bleibt das Rettende? Eine Welt voller Krisen, die Sorge um Sicherheit: Was heute die Menschen umtreibt, ist beileibe nichts Neues. Vor 200 Jahren schon verzweifelte Friedrich Hölderlin an revolutionären Zeiten – und hinterließ ein paar gute Ratschläge“.

Manche meinen, Hölderlin erlebte unter dem Eindruck der Epochenwende seine dichterische Blüte – aber auch seinen Niedergang. Manche meinen, Hölderlin erlag dem Wahnsinn, weil er den Eindrücken der Zeit nicht mehr standhalten konnte. Aber er versuchte, die Revolution in seinen Zeilen zu bändigen, etwa 1803 im Hymnus Patmos, der Geschichtsphilosophie, Theologie und Politik zu einem großen Erklärepos verdichtet.

Der Artikel ist online nicht ohne weiteres abrufbar, – ich würde auch lieber dem eingefügten Wikipedia-Link nachgehen und anschließend „Patmos“ im Originaltext lesen…

Die griechische Statue

Der Interpret spricht über den Interpreten

ZITAT

Im fünfzehnten der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, nachdem uns gerade versichert wurde, dass das freie ästhetische Spiel Begründer einer neuen Lebenskunst wäre, stellt uns Schiller imaginär vor eine griechische Statue, die als die [N.N.] bekannt ist. Die Göttin, sagt er uns, ist in sich selbst eingeschlossen, untätig, frei von jeder Sorge und jedem Zweck. Weder befiehlt sie, noch widersteht sie. Wir verstehen, dass diese „Abwesenheit von Widerstand“ der Göttin den Widerstand der Statue bestimmt, ihre Äußerlichkeit in Bezug auf die normalen Formen der sinnlichen Erfahrung bestimmt. Weil sie nichts will, weil sie außerhalb der Welt des befehlenden Denkens und Willens steht, weil sie alles in allem „unmenschlich“ ist, deswegen ist die Statue frei und präfiguriert eine Menschheit, die wie sie von den unterdrückenden Bindungen des Willens befreit ist. Weil sie stumm ist, weil sie nicht zu uns spricht und sich nicht für unsere Menschheit interessiert, kann die Statue „dem Ohr der Zukunft“ das Versprechen einer neuen Menschheit „anvertrauen“. Das Paradox des Widerstands ohne Widerstand äußert sich also in seiner ganzen Reinheit. Der Widerstand des Kunstwerks, welches die Göttin darstellt, die nicht widersteht, ruft ein kommendes Volk an. Aber er ruft es in dem Maße an, indem das Werk in seiner Distanz, seiner Entfernung von jedem menschlichen Willen beharrt. Der Widerstand der Statue verspricht den Menschen, die, gleich ihr, aufhörten zu widerstehen, die aufhörten ihr Leid und ihre Klagen zu übersetzen, eine Zukunft.

Quelle Jacques Rancière: Ist Kunst widerständig? Merve Verlag Berlin 2008 (Seite 22 f)

Ich lese mit großer Zustimmung und glaube, die Statue vor meinem inneren Auge zu haben. Ich sehe die Göttin in lässiger Haltung dasitzen, mit seitlich ruhenden Armen, sehe die fließenden Falten ihres Gewandes, ihren Blick – an mir vorbei – auf den Horizont gerichtet.

Alles passt. Aber mein Bild ist falsch. Warum?

(Fortsetzung folgt, ich werde zunächst bei Schiller nachlesen…, dann das von mir eingefügte Kürzel N.N. durch den wahren Namen ersetzen.) Bei Schiller nachlesen? Bitte! (Gutenberg, Spiegel-Texte.)

Und so finde ich die Stelle in meiner wohlfeilen Ausgabe aus dem Jahr 1954, vom Schulgebrauch gezeichnet:

Schiller Juno Ludivisi

Ist es nun eine Statue? Ist es ein „Antlitz“ oder „die ganze Gestalt“? Oder wäre das ganz gleichgültig? Eine „Statue“ ist eine frei stehende Plastik, die einen Menschen oder ein Tier in ganzer Gestalt darstellt, sagt der Duden. Bei der Juno Ludovisi aber handelt es sich nun mal um einen Kopf. Ändert sich dadurch die Argumentation? Siehe auch bei Wikipedia hier, insbesondere dort, wo es Schillers Freund Goethe betrifft.

Und plötzlich spüre ich einen Keim des Misstrauens: was hat es eigentlich mit dem Wort „Menschheit“ auf sich? Ist das denn nicht die Gesamtheit aller Menschen? Aber was soll dann die Differenzierung „unsere Menschheit“? Ist es die der Gegenwart unserer Zeit – im Gegensatz zu der der alten Griechen? Oder geht es darum, dass „unserer Menschheit“ in diesem Fall eine Gottheit gegenübersteht? Ist es das richtige Wort? Was sagt denn der Franzose, wenn er „Menschheit“ unterscheiden möchte von „Menschlichkeit“ oder „Menschentum“? Immer nur „humanité“?

Es ist auch von einer neuen Menschheit, einem kommenden Volk die Rede…

Soll ich abbrechen? Weiterlesen und abwarten, welche Konnotation sich im Gesamttext herausbildet? Das französische Original besorgen? (Ich habe weitergelesen, kursiv gelesen bis zum Schluss.)

Was mich stört: dass der Autor sich unentwegt auf der Ebene der Abstraktion bewegt, die sinnlichen Einzelheiten – wie eben diese „Statue“ – sind nur als Begriffe vorhanden. Wie Meinungsplaketten. Dass er andererseits eine eigene Nomenklatur benutzt, die man nur versteht, wenn man nicht nur ihn, sondern auch die von ihm bevorzugten Autoren kennt (Deleuze, Lyotard, Baudrillard). Er zitiert Voltaire, mehrfach, aber nur mit einem einzigen Satz: „Der Mensch von Geschmack hat andere Augen, andere Ohren, einen anderen Takt als der grobe Mensch.“ Dazu keinen Thorsten Veblen, keinen Nietzsche. Man hat den Verdacht, dass er auch nur den einen Brief von Schiller kennt; erst im Gespräch mit dem Herausgeber wird von diesem die Quelle in „Sämtliche Werke“ angegeben, die Rancière sicherlich nicht benutzt. Es ist ihm egal, ob er vom widerständigen Stein der Pyramiden oder vom Marmor der Statue spricht, die in Wahrheit eine Büste bzw. ein Haupt (mit Hals) ist.

Er benutzt Kennmarken, keine sinnlich angeschauten oder vergegenwärtigten „Rüschen am Kleide“ (Benjamin), – so scheint mir. Mag er auch vom „Käfer im Zimmer Gregor Samsas“ sprechen oder vom Künstler „mit den geröteten Augen“.

Juno bei Goethe

JUNO bei Goethe Quelle: Wikimedia (Ausschnitt)