Heute im Radio

WDR 3 Annie Ernaux hier

Um dies ja nicht zu vergessen, die Radiosendung, die mich heute so beeindruckt hat, ein solcher Text: aber nicht zuletzt, weil die Sprecherin den Ton so gut getroffen hat. Ich warte darauf, Neues zu hören (ab Montag) und auch alles Gewesene noch einmal zu erleben (mit mehr Wissen): vom 6. bis 13. April.

Der Platz gelesen von Dörte Lyssewski

Was die Autorin im Interview (s.u.) sagt, ist nicht spektakulär, oft zögerlich, nicht „zeitgemäß“; eine große Erzählerin erwartet man nicht, wenn man sie nur so erlebt hat. Sie spricht „allgemein“, aber sie schreibt ja sehr konkret, parataktisch, sie benennt jedes Detail, ohne irgendetwas psychologisch zu begründen, und jedes einzelne Ding, jeder Teil einer Tätigkeit steht da und ist interessant. Distanziert und zugleich empathisch. Sie erwähnt Proust! Der Pressetext im Netz hätte mich nicht veranlasst, die Sendung einzuschalten; wie gesagt: ausschlaggebend war der Duktus und die Stimme der Erzählerin. Aber auch der Suhrkamp-Text ist adäquat und hätte Wirkung getan:

(…) Das Leben des Vaters ist auch die Geschichte vom gesellschaftlichen Aufstieg der Eltern und der gleichzeitigen Angst, wieder in die Unterschicht abzurutschen, von der Gefahr, nicht zu bestehen. Dass seine Tochter eine höhere Schule besucht, macht ihn stolz, trotzdem entfernen sich beide voneinander.

Und so ist die Erzählung der Tochter auch die eines Verrats: An ihren Eltern, einfachen Menschen, und dem Milieu, in dem sie aufgewachsen ist – gespalten zwischen Zuneigung und Scham, zwischen Zugehörigkeit  und Entfremdung.

Ein Motiv für mich: ich denke an meinen Vater (*1901) und seine Generation, aber noch mehr an meinen Großvater mütterlicherseits, vom Milieu her. Und nun beginne ich den Text zu lesen, um zu sehen, wie das geht. (Ich möchte auch so schreiben und so auf die Verstorbenen blicken können, ohne ihnen unrecht zu tun.)

Gute Sätze (über ein anderes Buch von Annie Ernaux) habe ich bei Jürgen Habermas gefunden, ein Wort sei rot hervorgehoben:

„Die Jahre“ von Annie Ernaux habe ich gerade gelesen, die ethnologische Beschreibung ihrer gewissermaßen depersonalisierten Lebensgeschichte im Spiegel der französischen Zeit- und Gesellschaftsgeschichte; davon bin ich ganz hingerissen.

Ich merke mir auch sein Logbuch vor, wunderbar, was er über die Vielzahl seiner Bücher schreibt (ich kenne solche Leute!).

Und dann HIER her zum realen Lesen! Auch zum Bestellen, ich bevorzuge allerdings den Buchhändler, es dauert keinen Tag länger!

A propos Radio: natürlich war ich dem Sender dankbar für diese zufällige Begegnung mit allen Folgen, zugleich aber wiederum abgestoßen durch werbetechnische Ansagen im Umfeld, Marke Eigenlob (über die „Hörspielmacher“). Schriftlich so wie üblich: ich hätte diese Lesung nie eingeschaltet. Es ist zum Schämen! Ich vermute, dass „Der Hörer“ gendermäßig nur deshalb durchgeht, weil nachher „bei der Hausarbeit“ geschrieben steht. Kein Wort bitte über das „ganz hingeben“! Das funktioniert gut an dieser Stelle, oh welch ein Feingefühl. Nur dieser flauschige Anmachton insgesamt, der ist völlig daneben. Kann unmöglich von der Redaktion stammen.