Han: Was ist Macht?

Durchbruch in der Strahlentherapie

Der pathetische Untertitel macht nur für mich Sinn: denn dort habe ich heute in der Klinik gesessen. Schier unendliche Wartezeit, die ich durch dieses Büchlein strukturieren wollte, das ich hauptsächlich wegen seiner Handlichkeit gegriffen und in der Jackentasche mitgeführt hatte. Reclam! Vielleicht der dritte Versuch seit 7. Nov. 2014: immer wieder hatte ich die Lektüre wegen Überforderung oder Langeweile aufgegeben. Zu früh, wie ich heute weiß!

Han: Was ist Macht? Reclam Stuttgart 2005

Beim letzten Mal hatte ich etwa bei Seite 30 (ich sehe es an meinen Unterstreichungen) aufgegeben, nachdem Luhmanns Theorie den Gedankengang bestimmt hatte. Hatte ich etwa nicht realisiert, welche Rolle darin Kafka spielt? Heute

verschmolz er mit der Situation: nach der Einnahme eines halben Liters von dem Kontrastgetränk, das mich für Durch-Sichtigkeit in der Röhre des Computer-Tomographen präparieren sollte, saß ich mit 6-7 Personen im engen Wartezimmer, der Rücken (Vorstufe Hexenschuss) tat weh, während ich versuchte, in die Buchstabenwelt, die sich in meiner Hand befand, einzutauchen. Es gelang, sobald der Philosoph sich mit Elias Canetti beschäftigte, dessen Buch „Masse und Macht“ mich jahrelang begleitet hatte (seit 1983). Interessantes Beispiel von der Macht der Katze über die Maus.

Canetti verfügt offensichtlich nur über einen sehr beschränkten Machtbegriff. Er setzt die Macht weitgehend mit Zwang, Unterdrückung und Unterwerfung gleich. So geht die Machtbeziehung über die Beziehung zwischen Katze und Maus nicht hinaus. (…)

Die Macht ist „geräumiger“ als die Gewalt. Und die Gewalt wird zur Macht, wenn sie „sich mehr Zeit lässt“. Die Macht beruht, so gesehen, auf einem Mehr von Raum und Zeit. Beim Katz-und Maus-Spiel hat aber der Raum nur die Enge eines Vorraumes zum Tod. (…)

Todesversessen vergißt Canetti offenbar, daß die Macht nicht einfach nur tötet, sondern vor allem leben läßt.

Han Seite 35 f

Dann zu Nietzsches Auffassung des „Willens zur Macht“, völlig anders als ich bisher gedacht habe, viel komplexer, ich kann nicht glauben, dass es im Nietzsche-Buch von Jaspers (s.u.) auch nur andeutungsweise ähnlich dargestellt war. Dann Foucault.

Dann wieder zuhaus, instinktiver Griff nach einem vergessenen Heft, in dem sich auf Anhieb ein Essay auftut, den ich als Pendant zu Byung-Chul Han’s Nietzsche-Sicht betr. Wille zur Macht herausfordern oder überprüfen kann. (Ich bin voreingenommen, da es in Wikipedia hieß, Heinrich Meier habe zeitlebens eine rechte Position verfochten.)

in mehr davon hier

Wie Han zur Semantik der Macht bei Nietzsche kommt, sieht man im folgenden Text:

Im Gegensatz zur nackten Gewalt kann sich die Macht mit Sinn verbinden. Vermittels ihres semantischen Potentials schreibt sie sich einem Verstehenshorizont ein. Was bedeutet aber Sinn?

selbst thematisch sein. Die Macht wird sich also einem Sinnhorizont einschreiben oder gar einen Sinnhorizont bilden müssen, um den Verstehens- und Handlungsprozeß effektiv steuern zu können. Sie gewinnt nur dann an Stabilität, wenn sie im Lichte des Sinns oder des Sinnvollen erscheint. Darin unterscheidet sie sich von der Gewalt, die deshalb nackt wirkt, weil sie jeden Sinnes entkleidet ist´. Eine nackte Macht gibt es dagegen nicht.

Nietzsche hat gewiß als erster den komplexen Zusammenhang zwischen  Macht und Sinnerzeugung eindringlich formuliert.

Byung-Chul Hang: Was ist Macht a.a.O. Seite 37 f

Man muss dies an Ort und Stelle nachlesen. Ich habe mir die folgenden Seiten geradezu aufdringlich markiert. Zum Auswendig-Lernen gewissermaßen. Danach folgt auf Seite 40 Han’s Statement:

Der Sinn ist Nietzsche zufolge kein zu nichts gedrängtes Es-ist-so, kein So-sein-der-Welt und der Dinge, das in einer interesselosen Anschauung nur zu entdecken wäre. Beruhte der Sinn auf dem So-sein und nicht auf dem Besitz oder der Herrschaft, so wäre der Namensgeber kein Machthaber, sondern ein Sehender oder Hörender. Nietzsches Monismus der Macht nimmt den Dingen jedes So-sein. Der fehlende Wille zur Macht führte zu einer Sinnleere. (…)

Macht stiftet Bedeutsamkeit.

Mein Fehler lag darin, Nietzsches Formel vorschnell als kryptisch-politische Diagnose im Sinne Macchiavellis zu verstehen, statt ihr „Verständnis“ ständig zu revidieren. Kindisch, – das kommt, wenn man Nietzsche in früher Jugend zu lesen beginnt und es nicht schafft, beizeiten zu Schopenhauer und weiter zu Kant zurückzugehen, um sich methodische Zusammenhänge zu erschließen. Damals gab es noch keinen Byung-Chul Han…

Für wenig Geld erstanden in der „Brockensammlung“ zu Bethel. Der Lehrer Gutberlet, bei dem wir Religion hatten, kommentierte: „Gut, Reichow, mit Schopenhauer kann man anfangen.“ Ich war beleidigt, denn seine Religionsthemen waren durchaus nicht mein eigentliches Ziel.

Im Nietzsche-Buch von  Jaspers hätte ich schon frühzeitig (1965) auf den „richtigen“ Weg kommen können. Letztlich war ich aber noch nicht reif dafür, ich musste mich – wie hier – erst von einer anderen Seite nähern. Siehe dort ab Seite 272 („Die Auslegung der Welt als Erscheinung des Willens zur Macht“). Kopieren!

(Satz vom Grund: Wikipedia hier) incl. Schopenhauers Interpretation

(Satz vom Widerspruch: Wikipedia hier)

  

   

Quelle Karl Jaspers: Nietzsche / Einführung in das Verständnis seiner Philosophierens / Verlag Walter de Gruyters & Co. Berlin und Leipzig 1936