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Benn im allzu menschlichen Sinn

Was sind denn eigentlich „die großen Melodien“?

Wenn es um Gottfried Benn geht, sind es bestimmt nicht solche von Bach oder Schubert. Die aus der Jukebox, die er meint, gehören vielmehr zu einem bestimmten Ambiente oder sagen wir: Milieu, in dem sich der Dichter näher am wahren Leben fühlt. Um das wahre Leben in Bach- oder Schubert-Melodien wahrzunehmen, müsste man damit aufgewachsen sein. Zumindest Bach hätte ihm zwar als Kind im Pfarrhaus Benn begegnen können, aber es gibt keinen Hinweis, dass im Werk des Dichters die Sphäre des Pfarrhauses von Bedeutung geblieben ist, außer als Negativ-Image.

Ich liebe die Frankfurter Anthologie, die respektvolle Präsentation eines Gedichtes – im Schriftbild, aber auch im mündlichen Vortrag – und vor allem begleitet von einer verbalen Interpretation, die dazu einlädt, immer noch einmal und immer genauer zu lesen und zu hören. Man wird unvermerkt auch kritisch dabei, vor allem was die Rezitation angeht: stimmt der Ton auf diesem Wort, ist jenes nicht zu beiläufig, ein anderes zu gewichtig? Warum bleibt die Stimme in der Schwebe, wo sie sich senken sollte usw., – und man wird nachsichtiger, weil die Tonaufnahme nun einmal nur Endgültiges bieten soll, während die stille Lektüre schlicht alles offenlassen kann.

Aber wenn bestimmte Schlager, ja, die Titel der angeblich „grossen Schlager“, identifizierbar sind,  – den Schauplätzen gleich, die auch in Krimis stimmen müssen -, möchte ich den Dichter ebenso beim Wort und beim Ton nehmen können, wie wenn ich seine Lyrik höre. Solange er im allgemeinen verbleibt, gelingt das, auch wenn man Bach und Mozart, vielleicht sogar Chopin, den er zuweilen thematisiert, von vornherein außer Betracht lässt, wie z.B. hier:

„Es gibt Melodien und Lieder, / die bestimmte Rhythmen betreun, / die schlagen dein Inneres nieder / und du bist am Boden bis neun.“

Eine schlagende Strophe, die sich quasi von selbst gern einstellt, vielleicht in derselben Situation, wie sie der Dichter unmittelbar danach benennt:

„Meist nachts und du bist schon lange / in vagem Säusel und nickst / zu fremder Gäste Belange, / durch die du in Leben blickst.“

Das Gedicht heißt „Destille“. Wir kennen Benns Neigung zum Kneipenmilieu und lieben sein saloppes Parlando, milieugerechter ausgedrückt: diese subkutane Schnoddrigkeit, die als probates Kunstmittel gegen hohle Sentimentalität gute Wirkung tut, etwa so:

„Was man so nennt: Gedankengänge / die ganze Philosophie / das ist doch alles Gestänge / gegen eine Melodie.“

Als Ohrenmensch wird man jedoch dieser Zeilen nicht froh. Der Ton stimmt nicht ganz, es klingt nach halbherzig parodiertem Faust-Monolog. Und auch sonst: das Wort „Gestänge“ klingt verdächtig nach einem reimbedingten Notbehelf. Das „u“ statt „und“, das fast völlige Aufgeben der Satzzeichen in der zweiten Strophe, in ihrer ersten Zeile noch „Gram Wollust Zärtlichkeit“, in der vorletzten jedoch „Gram, Wollust Zärtlichkeiten“ – also ein Komma dazu und der Plural im letzten Wort. Es entsteht der Eindruck, dass es keine Version letzter Hand ist, – immerhin 5 Jahre vor dem Tod des Autors notiert, aber posthum veröffentlicht. Hätte er, der in der Lyrik „das Mittelmäßige schlechthin unerlaubt und unerträglich“ fand, es wirklich so belassen? Auch wenn er gerade jeden Hauch eines subtilen Sprachgestus meiden will wie der Teufel das Weihwasser? Es klingt zumindest naiv, wenn nicht sogar allzu fein kultiviert, wenn der Interpret hinzufügt, „auch in die subtilsten Schöpfungen des Geistes wehten die einfachen Melodien zuweilen hinein. Und kündeten von Schmerz und von Glück. Von Gram, Wollust und Zärtlichkeiten.“

Von Lili Marleen einmal zu schweigen: Die andere Melodie ist nicht einfach, sondern dumm und dreist, und sie kündet von gar nichts, außer vom Terzen-Schmus der 50er Jahre, der an die „unschuldige“ Südsee- und Hawaii-Begeisterung des frühen Jahrhunderts anknüpft. Adano gibt es nicht.

Im Sinne der Zeit jedoch versucht es offenbar der Interpret gerade – im Namen Gottfried Benns – zu fassen:

Historie sei „Mord u. Totschlag von jeher u. in aeternum u. es hat gar keinen Sinn, sie mit moralischen u. intellectuellen Vokabeln zu verzieren.“ Wer wissen will, wie es um seine Epoche bestellt ist, muss keine gelehrten Abhandlungen studieren, sondern braucht nur am Knopf des Radios zu drehen: „Ein Schlager von Rang“, verkündet das Nachlass-Gedicht „Kleiner Kulturspiegel“, „ist mehr 1950 / als 500 Seiten Kulturkrise“.

Aber wofür könnten wir denn soviel 1950 ungefiltert brauchen? Was not getan hätte, wäre eine kluge oder gar intellektuelle Analyse dessen, wie solche Schlagerschablonen dazu beitragen konnten, mit lügenhaften Sehnsüchten die noch frischen Erinnerungen der 40er Jahre aufzuarbeiten.

Ja: Wie wir eigentlich in den 50er Jahren so vieles vergessen konnten…

Quelle: Hier 

Lieben Sie Dvořák?

Weitschweifige Antwort in Dumka-Form / von Jan Reichow (1993)

Dvorak 1  Dvorak 2 Dvorak 3 Dvorak 4 Dvorak 5Dvorak 6Dvorak 7Dvorak 8Dvorak 9Dvorak 10Dvorak 11 Erstveröffentlichung CD Intercord 1993           Später bei TACET HIER 

Fehler-Korrektur: Dvořáks Geburtsort hieß nicht „Nelahozenes“, sondern Nelahozeves (Nalžoves – Mühlhausen) siehe hier. Zum Ort Zlonice, wo der Komponist seit 1853 eine Zeit lang lebte und dem er seine 1. Sinfonie gewidmet hat, siehe hier.

Und die Sinfonie Nr. 9 „Aus der Neuen Welt“ ist natürlich nicht op.90 sondern op.95, das Trio „Dumky“ selbst ist op.90, wie auch sonst korrekt angegeben.

***

Kurzfassung des Textes (nicht der Musik) – in Vorbereitung:

Konzert Dvorak gr

Klaviertrio SG 160508 b

Klaviertrio SG 160508 Fotos: JR

Über den aktuellen Konzertort „Gesenkschmiede Hendrichs“ HIER

JR MODERATION 8. Mai 2016 Trio-Konzert Solingen Gesenkschmiede mit Almuth Wiesemann, Peter Lamprecht und J.Marc Reichow

Beethoven op.1 Nr.3 c-moll

Die zwei Werke, die wir heute abend erleben, sind etwas Besonderes, in ganz unterschiedlicher Weise.

Das eine ist das Werk eines jungen Mannes, der der musikliebenden Welt Wiens und der gesamten Fachwelt zeigen wollte, was in ihm steckt. Beethoven 1795. Opus 1, Nr.3.

Das andere, fast 100 Jahre danach, stammt von einem fast 50jährigen, berühmten Komponisten, der der Welt nichts mehr beweisen musste. Nebenbei gesagt: auch damals schon galt er, trotz seiner großen Sinfonien als Meister der populären Slawischen Tänze, als der typische tschechische Musikant. Als er sein letztes Klaviertrio schrieb, op. 90, musste es nicht so klingen wie ein allerletztes Trio von Beethoven. Es ist großartige Unterhaltungsmusik. Wie die Slawischen Tänze.

Doch der Reihe nach! Zwischen den beiden Werken von Beethoven und Dvořák liegt nicht nur 1 Jahrhundert, sondern auch unsere Pause, der programmgemäß bereits ein gewisser Vergnügungsfaktor innewohnt, wenn auch nicht ganz vergleichbar dem, der in dem Palais des Fürsten Lichnowsky angesagt war. Wenn es ihn, den Fürsten, nicht gegeben hätte (und nebenbei: die Besetzung des Rheinlandes durch die Franzosen), wäre der junge Beethoven nach seinem Wiener Studienaufenthalt 1794 vielleicht ganz einfach wieder nach Bonn zurückgefahren.

Der Fürst war schon Förderer, Schüler und Logenbruder Mozarts gewesen, seine Frau Christine galt als ausgezeichnete Pianistin, und das Palais Lichnowsky bildete einen musikalischen Mittelpunkt der Wiener Gesellschaft. Beethoven erhielt in diesem Haus schon sehr bald dauernde Unterkunft, und sogar in späteren Jahren bevorzugte er Wohnungen in der Nähe der Lichnowskys, obwohl ihn deren Fürsorge bisweilen zu erdrücken schien. Es fehlte, meinte er, wenig daran, „dass die Fürstin nicht eine Glasglocke über mich machen ließ, damit kein Unwürdiger mich berühre oder anhauche.“. Das Palais Lichnowsky war Schauplatz der symbolkräftigen Szenen, in denen ZITAT „sowohl Haydn als Salieri in dem kleinen Musikzimmer an der einen Seite auf dem Sopha saßen, beide stets auf das sorgfältigste nach der älteren Mode gekleidet, mit Haarbeutel, Schuhen und Seidenstrümpfen, während Beethoven auch hier in der freieren überrheinischen Mode, ja fast nachlässig gekleidet, zu kommen pflegte“. Gar zu gern hätte Haydn hinter Beethovens Namen auf op. 1 den Zusatz gelesen: „Schüler von Haydn“, obwohl die Aktion ‚Kompositionsunterricht‘ ein Fehlschlag war. Der „Großmogul“, wie Haydn ihn nannte, wies jeden Gedanken an eine solche Referenz von sich, nahm heimlich Nachhilfe-Unterricht bei Johann Schenk, später bei Albrechtsberger und (immerhin bis 1802) bei Salieri. Was er von Haydn lernte, stand in dessen Partituren. Im übrigen erschien dieser ihm vielleicht als der einzig ernstzunehmende Konkurrent in Wien. Haydn hatte den Zenit seines Schaffens erreicht, doch erst die Londoner Erfolge zwischen 1790 und 1795 machten ihn in Wien zur unangefochtenen musikalischen Autorität. Seither wurde ein Komponist an Haydn gemessen; man musste ihn verinnerlicht haben und zugleich in irgendeiner Weise überbieten, – an Ausdruck, Kühnheit und Größe. Dafür scheint Beethovens op.1 ein Musterbeispiel.

ZITAT eines Ohren- und Augenzeugen:

„Die drei Trios von Beethoven sollten zum erstenmal der Kunstwelt auf einer Soiree beim Fürsten Lichnowky vorgetragen werden. Die meisten Künstler und Liebhaber waren eingeladen, besonders Haydn, auf dessen Urteíl alles gespannt war. Die Trios wurden gespielt und machten gleich außerordentliches Aufsehen. Auch Haydn sagte viel Schönes darüber, riet aber Beethoven, das dritte in c-moll nicht herauszugeben. Dieses fiel Beethoven sehr auf, indem er es für das beste hielt, so wie es dann auch noch heute immer am meisten gefällt und die größte Wirkung hervorbringt. Daher machte diese Äußerung Haydns auf Beethoven einen bösen Eindruck und ließ bei ihm die Idee zurück: Haydn sei neidisch, eifersüchtig und meine es mit ihm nicht gut.“

Das berichtet der Beethoven-Schüler und Freund Ferdinand Ries, allerdings erst 1838, 11 Jahre nach Beethovens Tod.

Irgendetwas stimmt an dieser vielzitierten Geschichte nicht, denn neue Forschungen belegen, dass Haydn vor seiner Abreise nach London im Januar 1794 lediglich das Trio Nr. 1 kannte, das schon in Bonn geschrieben und in Wien überarbeitet worden war, während Nr. 2 und Nr. 3 erst nach Haydns Abreise skizziert und ausgeführt wurden. Als Haydn im August 1795 von London nach Wien zurückreiste, lagen die drei Trios im Druck vor, – welchen Sinn hätte sein Rat noch haben können?

Beethoven hatte sein op.1 mit Geschick lanciert, er konnte mit breiter Aufmerksamkeit rechnen, als er am 9., 13. und 16. Mai in der Wiener Zeitung die Annonce zur „Pränumeration auf Ludwig van Beethovens drei große Trios“ aufgab. Selbst wenn man die Trio-Aufführungen im Hause Lichnowsky nur vom Hörensagen mitbekommen hatte, Phantasie und Erfindungsgeist des jungen Pianisten aus Bonn waren stadtbekannt und riefen allerlei clevere Ideenverwerter auf den Plan, – in Wien gab es damals immerhin ca. 300 Pianisten, etwa 6000 Klavierschüler, und er hatte Grund, vorsichtig zu sein. ZITAT: „… ich hatte schon öfter bemerkt, daß hier und da einer in Wien war, welcher meistens, wenn ich des Abends phantasiert hatte, des andern Tags viele von meinen Eigenarten aufschrieb und sich damit brüstete“ (Ende 1793).

Nun, die „Pränumeration“ ergab sogleich 123 Bestellungen, im Endeffekt wurden sogar 241 Exemplare des op. 1 verkauft. Beethoven verdiente daran 843 Gulden, was etwa dem Doppelten eines Jahresgehalts entsprach, das er in Bonn bekam. Allerdings waren die Trios wohl auf Lichnowskys Kosten gedruckt worden, und allein der Fürst bestellte 27, die Familie seiner Frau 25 Exemplare. Man ahnt, warum op.1 dem Fürsten Carl von Lichnowsky gewidmet ist und erst op.2, die Klaviersonaten, dem größten zeitgenössischen Musiker, Joseph Haydn.

[im folgenden Infos nach Villla Musica http://www.kammermusikfuehrer.de/werke/184 ]

In der Tat, Beethoven war fast schlagartig in aller Mund, nicht nur in Wien, wenige Jahre später lagen die Trios in Bonn, Leipzig, Mainz, Offenbach, Paris, London und Berlin im Nachdruck vor. Der Erfolg war so nachhaltig, daß er noch um 1830 zu Lobreden auf Beethovens Frühstil Anlass bot. Bezeichnenderweise mit dem Hinweis auf Mozart:

“Erinnern wir uns”, schrieb ein Rezensent anläßlich einer Neuauflage im Jahre 1827, “wie ungleich verbreiteter die Theilnahme an ihm war, so lange er in den bekannten Regionen der Mozartschen Musik weilte.”

Ein Kollege erklärte den Erfolg des Opus I damit, dass “in ihm, wie in wenigen [sonst], die fröhliche Jugend des Meisters sich noch ungetrübt, leicht und leichtfertig, abspiegelt, gleichwohl aber der spätere, tiefe Ernst und die zarte Innigkeit des Verfassers schon zuweilen (und dann, wie schön!) anwandelt, auch, ungeachtet man die Vorbilder der Mozart’schn Klavier-Quartette erkennt, doch Beethovens Eigenthümlichkeit und Selbständigkeit unverkennbar hervor leuchtet und umher flackernde, zündende Funken sprüht.” (Allgemeine musikalische Zeitung, 1829).
Das c-Moll-Trio ist das bekannteste der drei. Es wirkt wie ein ästhetisches Manifest des jungen Beethoven, der hier wesentliche Momente seiner Kunst erstmals umriss: den Ernst und den Anspruch des Kopfsatzes, der schon den Eroica-Schwung ahnen lässt, das Prinzip der “Charaktervariation” im Andante, und ein Menuett, das zum romantischen Scherzo verwandelt ist, schließlich der wilde Elan des Finales.

Hatte man schon in Mozarts späten Instrumentalwerken, etwa in den Klavierkonzerten, den Eindruck, dass hier ein imaginäres Bühnengeschehen ablief, so erlebte man bei Beethoven vollends die Verwandlung der Musik in großangelegte Dramen, die durchaus nicht dem höfischen Konversationston gehorchten, ja, den Rahmen eines fürstlichen Salons zu sprengen schienen. Gerade das in c-moll, lebenslang Beethovens Trotz-, Zorn-, und Pathos- Tonart.

Seine Trios sind nicht mehr dreisätzig, sondern viersätzig, wie Sinfonien, ebenso die Klaviersonaten, deren Anspruch sich ab op.10 zuweilen schon im Titel ankündigt: Grande Sonate.

Alles ist groß oder geht in die Extreme: das schnellste Tempo ebenso wie das langsamste, die äußerste Lautstärke ebenso wie das fast unhörbare Pianissimo. 1803 schreibt er den längsten Sinfoniesatz, der je bis dahin zu hören war (Eroica) und 20 Jahre später auch eine Bagatelle (op.119,10) von 14 Sekunden.

Das ganze Klaviertrio dauert länger als etwa eine Haydn-Sinfonie, und wir sind froh darüber, kein Takt ist zuviel.

Eine neue Epoche hat begonnen!

PAUSE

JR MODERATION 8. Mai 2016 Trio-Konzert Solingen Gesenkschmiede mit Almuth Wiesemann, Peter Lamprecht und J.Marc Reichow

DVORAK „Dumky“

Die Musikgeschichte ist voll von Schönheit, Geist, Glauben, Leidenschaft und Dissonanzen, nicht immer am Ende aufgelösten. Nur böse Zungen behaupten, dass dies in der Neuen Musik sowieso erst geschieht, wenn die Musik selbst vorbei ist. Ein Novum war aber auch das, was Sie eben am Ende von Beethovens Opus 1, dem dritten Trio in c-moll, erlebt haben: dass die Musik, statt mit starken Schlägen zu enden, immer leiser wird und im äußersten Pianissimo verklingt.

Auch im Leben ist es unterschiedlich: es gibt bekanntlich die Altersmilde und die Altersradikalität.

Und wissen Sie, welches Beethoven-Werk der größte Publikumserfolg war? Die Neunte Sinfonie? Die Missa solemnis? Nein: Wellingtons Sieg bei Victoria, mit den Fanfaren und echten Kanonenschüssen.

Aber es gibt auch diesen tief verwurzelten Antagonismus, wozu denn die Musik eigentlich da ist: uns zu unterhalten oder zu erheben, ob wir Zerstreuung brauchen oder zusätzliche Anstrengung.

Ich kann es auch anders sagen: Chaos oder Konzentration, bloße Aneinanderreihung oder logische Entfaltung, man könnte auch sagen: Deutsche Gründlichkeit oder böhmisches Musikantentum?

Übrigens, der Satz: „Sie sind ein echter Musikant“ kann auch als Beleidigung gemeint sein und heißt dann im Klartext: Nachdenken ist nicht Ihre Stärke! Mal spricht man anerkennend von einer netten Plauderei, und hinterher vielleicht, dass der andere von A-Z drauflosredet.

Es ist wirklich eine Frage des Zusammenhangs und der Akzentuierung.

Sagen Sie einem Geiger nicht: Ihr Instrument klingt aber herrlich. Jascha Heifetz hielt sich dann seine Stradivari ans Ohr und sagte: „Ich höre nichts!“

Das gilt auch für das Cello, das Peter Lamprecht in seiner Doppel- oder Vielfachbegabung sogar selbst gebaut hat.

Und das gilt auch für das Klavier, falls es Ihnen heute besonders gut gefällt: Aber auch im wörtlichen Sinn hätten Sie ganz recht, – das Instrument ist hoch kultiviert, ideal für kleine Säle, Salons oder Wohnräume, kein Konzertpanzer, ein Schimmel-Flügel, von dem bekannten Klavierbauer Peter Stolz perfekt restauriert. Und jetzt kommt das Beste: dieser wunderschöne Flügel ist zu kaufen. Achten Sie auf den Klang, – Sie können ja nachher einmal das Ohr ans Holz legen, es klingt fast von selbst.

Man erzählt gern, wieviel Dvorak der Förderung durch Brahms verdankte, der seinen Einfallsreichtum bewunderte, aber dazu gehörte auch der Rat: „Sie schreiben einigermaßen flüchtig. Wenn Sie jedoch die fehlenden (Kreuze, Bs und Auflösungszeichen) nachtragen, so sehen Sie auch vielleicht die Noten selbst, die Stimmführung usw. bisweilen etwas scharf an.“

Da war Dvorak immerhin schon 37, Brahms nur 8 Jahre älter. Sie waren ganz verschieden.

Nach einem freundschaftlichen Gespräch über Gott und die Welt soll Dvorak einmal ziemlich erschüttert geäußert haben: „Solch ein Mensch, solch eine Seele – und er glaubt an nichts, er glaubt an nichts!“

Aber Brahms hat sich nie auf seine „Ungarischen Tänze“ festnageln lassen, er gab ihnen nicht mal eine Opuszahl! Abgesehen von seiner prägenden Begegnung mit Robert Schumann, der ein glühender Beethovenianer war, spürte er einen unerhörten Druck: „Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen (Beethoven) hinter sich marschieren hört.“

Das ist die typisch deutsche (- österreichische) Situation im 19. Jahrhundert. Sonate! Sinfonie! Sonatenform! Auch in allen Quartetten, Quintetten und Klaviertrios ! Das sind die Standards, an denen auch ein Tscheche oder Böhme gemessen wurde, der in Wien zu reüssieren suchte. Mochten seine „Klänge aus Mähren“ und seine „Slawischen Tänze“ noch so erfolgreich sein. Das geht bis in unsere Zeit: in der Taschenpartitur des Trios, das Sie gleich hören werden, steht, der Komponist habe damit „sein ursprünglichstes und slawischstes Kammermusikwerk geschaffen, er mache sich damit „völlig frei von der deutschen klassischen Form“, – nachdem er sie übrigens im vorigen Klaviertrio – vor sieben Jahren – perfekt erfüllt hatte. Und doch liest man ausgerechnet in einem umfangreichen tschechischen Musikführer der 50er Jahre mit Erstaunen, dass dem Autor Otakar Šourek auch dieses programmatisch „Dumky“ genannte Trio ohne Sonatenform nicht ganz geheuer ist:

„Mag es sich hier auch nicht um ein organisches Tonwerk von Sonatenform im strengen Sinne des Wortes handeln, so tritt doch ganz ersichtlich das Bestreben zutage, die Umrisse der Sonatenform und ihre stimmungsmäßige Ausrichtung beizubehalten. Wir können die ersten drei Dumkas in ihrem Zusammenschluß als einen Einleitungssatz auffassen, in dem allerdings die Sonatenform durch eine zweiteilige oder eine rondoartige dreiteilige ersetzt ist; die vierte Dumka weist mit ihrem ganzen Charakter auf einen langsamen Sonatensatz hin, ähnlich ist die fünfte Dumka eine Analogie des Scherzosatzes, und die letzte Dumkla beschließt das Werk nach Art eines Rondo-Schlußsatzes.“ (O. Šourek)

Was ist eine Dumka?

Es wäre müßig, eine Sammlung ukrainischer Dumka-Balladen oder Klagelieder zu durchstöbern, um Familienähnlichkeit mit Stücken aus Dvoraks Trio zu entdecken. Man behauptet ja, „daß der Komponist selbst über das eigentliche Wesen der Dumka im Unklaren verblieb“. (Fiske)

Aber welches war denn das Wesen der Duma (Diminutiv: Dumka, Plural: Dumky), wörtlich „Gedanke“, nachdem sie einmal über die Grenzen ihrer ukrainischen Heimat hinausgewandert war und in anderen slawischen Ländern (Polen!) auch als rein instrumentales Stück von nachdenklichem, melancholischem Charakter auftauchte und zudem in der Kunstmusik eigens stilisierte Modelle mit einer eigenen Tradition gebildet hatte?

In diesen letzteren Bereich gehört offenbar die Kombination mit einem schnellen Tanz (Furiant, Polka o.ä.); die Bedeutungserweiterung des Wortes Dumka erfolgte demnach anders als beim ungarischen Csárdás, der ursprünglich nur als schneller Tanz galt und erst später seine „typischen“ rezitativisch-improvisatorischen Einleitungs- und Zwischenabschnitte erhielt.

Es ist erfindungsreich, ausdrucksvoll und dabei so leicht konsumierbar wie Unterhaltungsmusik. In seinem Aufsatz „Music in America“, – in den USA feierte Dvořák in den folgenden Jahren ja seine größten Erfolge –, da scheute er sich nicht zu bekennen, was er mit Musik geben wollte: „pure pleasure“!

Man sollte wissen: Dvořák hatte von Jugend an mit einem eher trivialen als rustikalen Milieu zu tun gehabt, und er hat damit spielen gelernt wie Chopin mit der Süßigkeit des Salons. Das Kind Antonin spielte Geige und hat in der Dorfkapelle seines Geburtsortes Nelahozeves (Nalžoves – Mühlhausen) mitgegeigt, der Jugendliche dann in der Kapelle des Städtchens Zlonice. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Musik, die doch mehr von der nächsten Großstadt und von deren Notenmaterial als von Dudelsackpfeifern geprägt war, obwohl man denen durchaus noch begegnen konnte.

Jedenfalls waren die Ensembles imstande, nicht nur im Wirtshaus zum Tanz aufzuspielen, sondern auch kleine Serenaden zu geben. Die Leiter waren ausgebildete Musiker, die ersten Lehrer Dvořáks, typische Verkörperungen des böhmischen Kantors, an denen er sich noch lange orientierte. Nach seiner Studienzeit in Prag hatte er keinen anderen Wunsch, als eine Anstellung als Organist zu finden, wie es seiner tatsächlichen Ausbildung entsprach, aber er landete stattdessen in der Musikkapelle Karl Komzák, die in Kaffeehäusern, auf öffentlichen Plätzen und in Biergärten zu Tanz und Unterhaltung aufspielte. Daheim studierte er die Wiener Klassiker. Er war seit jungen Jahren mit den unteren und oberen Koordinaten der musikalischen Welt des Bürgertums vertraut und blieb es auch in gesetzterem Alter. Heute würde man sagen – ohne Berührungsängste.

Zwar war ihm am Nachweis seiner Befähigung zur großen deutschen Form zeitlebens gelegen, aber vielleicht ist es kein Zufall, dass er gerade in dem Moment, als er sie in einer klassischen Kammermusikbesetzung zugunsten einer böhmisch-slawischen Suite ignoriert, mit akademischen und anderen Weihen überschüttet wird: Angebot der Professur am Prager Konservatorium, Mitgliedschaft in der Tschechischen Akademie der Künste, Ehrendoktorwürde der Prager Universität, Ehrendoktorwürde der Universität Cambridge, Angebot der Direktorenstelle am New Yorker National Conservatory.

Wenn man sein Trio „Dumky“ oder seine amerikanisch inspirierten Kompositionen hört, wird man die Erschließung dieser scheinbar einfachen Linien und Formeln nicht geringschätzen; ebensowenig die wunderbaren agogischen Freiheiten, die seit Ende des 18. Jahrhundert immer mehr aus der großen notierten Musik verbannt wurden und zu denen die Künstler sich hier nun wieder ermächtigt fühlen. Vor diesem Hintergrund kann man auch die grandiose collagenartige Konstruktion der Streichquartette von Leoš Janáček sehen und die erstaunliche Entfaltung der rhapsodischen Monodie bei Bartók.

War Dvořák nur ein Musikant? Ist es das richtige Wort?

Wie auch immer er gefeiert wird, – niemand ist schutzloser gegenüber intellektueller Herablassung als ein genialer Musiker, dem die Worte fehlen; es sei denn einer, der sich auch noch selbst – „Musikant“ nennt.

Janáček, der ihn gut kannte, hat lebhaft der Ansicht widersprochen, Dvořák sei unintelligent gewesen. Im Gegenteil, man habe Dvořák stets in Gedanken vertieft gesehen.

„Seine Intelligenz war aber von ganz besonderer Art“, sagte Janáček, „er dachte ausschließlich in Tönen, anderes war für ihn nicht vorhanden“. An eine solche Rechtfertigung hätte Dvořák nun auch wieder nicht gedacht:

„Obzwar ich genug in der großen Welt der Musik herumgekommen bin,“ meinte er, „bleibe ich doch nur, was ich bin – – – ein schlichter tschechischer Musikant.“ (9.1.1886)

Meine Damen und Herren, Sie wissen, dass es in des Meisters Sinn ist, wenn ich Ihnen jetzt viel Vergnügen wünsche oder sogar „pure pleasure“.

(TEXT © Jan Reichow 2016)

Musik machen – oder Liebe?

Von der performativen Wende

In einem sehr lesenswerten Text über „Die Qualitätsfrage“ beschäftigt sich Claus-Steffen Mahnkopf mit dem gestörten Verhältnis der Kunstwelt gegenüber der großen Musik. Aufklärung sei ohnmächtig gegenüber der Faktizität des Wandels der Musikkultur.

Die Postmoderne agierte mit der Verleugnung von Wahrheitsansprüchen performativ (also nicht argumentativ); der Turbokapitalismus wirkt bis in die hintersten Winkel der Köpfe und Herzen der Kunstakteure hinein. Die Folgen sind ein bequemes Mittelmaß und ironischerweise ein besonders unangenehmer Geniekult, nämlich der der wenigen verbliebenen „großen Komponisten“. Das  Mittelmaß zeigt sich nicht nur in der Produktion, sondern auch bei den Akteuren, denen Toleranz gegenüber Schlamperei mehr zählt als die Insistenz auf Problembewältigung.

Er sieht zwei Ursachen für das gestörte Verhältnis der Kunstwelt gegenüber der Idee der großen Musik. Die erste sei die Angst.  Und er fragt, ob es die Angst vor hoher libidinös-erotischer Bindung sei, die „entsteht, wenn Musik uns erst einmal und dann für das ganze Leben verführt hat“. Zumal wenn wir sie, als „große Kunst“, nicht mehr mit der Idee eines sinnvollen, erfüllten und gehaltvollen Lebens zu verbinden vermögen, „ja mit einer Kultur der Liebe“. Und in einem mutigen Sprung zieht er eine Verbindung zu dem, was man mit „Liebe machen“ umschreibt, einmal „um ihn oder sie, biblisch gesprochen, zu erkennen – oder einfach um Spaß zu haben.“  Der Vergleich ist nicht unergiebig, aber mir geht es an dieser Stelle um die zweite Ursache. Mahnkopf widmet sich hier dem, „was Hanno Rauterberg in einer glänzenden Analyse des Kulturbetriebs Postautonomie nennt.“ Ich zitiere das gern, weil es mich in meiner Lektüre weiterführt (siehe hier) und einen weiteren Zusammenhang schafft. Bemerkenswert das Wort von der performativen Wende.

Der Zeitgeist – die ubiquitären Verstrickungen des Kapitals, der gesteigerte Narzissmus der Akteure (Künstler, Kunstvermarkter, Kunstaussteller, Kunstberichterstatter), die symbolischen Potenzen der Mediengesellschaft, die Erschöpfung der großen Theorien – ist so mächtig, dass die Kunst zu angepasster, sich andienender, mitverdienender Gesellschaftskunst wird, die ihre Eigenlogik aufgibt und damit ihre Souveränität aufgibt. Auf eine ähnlich kenntnisreiche Studie des zeitgenössischen Musiklebens werden wir wohl noch lange warten müssen, können jedoch hochrechnen: Auch hier hat der Zeitgeist zu einer Anpassung und zu immer subtileren Formen gefälschten Bewusstseins geführt.

Wir müssen uns eingestehen, dass der Modus des Betriebs nach der performativen Wende, mithin das Primat des Machens, eine Korrektur, obwohl sie dringlicher denn je ist, nicht vorsieht. Das Verschwinden einer autonomen professionellen Musikkritik (*Anm.) und eines intellektuellen Diskurses auf der Höhe der Wissenschaft, in dem die systemrelevanten Entscheidungen wie Kompositionsaufträge, Repertoirebildung, Anerkennung nicht primär unter dem Aspekt der Qualität getroffen werden. Qualität ist diesem Modus zufolge eine sekundäre „Tugend“.

Hierbei gibt es drei Verlierer. Das Publikum bekundet durch konzentriertes Zuhören, mithin Stille im Saal und den entsprechenden Applaus sehr wohl ein Gespür für Qualität. Allein, es entscheidet nicht, hat keine Macht. Und die Interpreten, die, von einer Uraufführung zur anderen gejagt, kaum ein Stück richtig erlernen und verstehen können und auf eigene Repertoirebildung verzichten müssen.

Verlierer ist auch der Komponist. Musikalische Kreativität außerhalb des Systems der Aufführungen, mithin des Musikbetriebs, kommt kaum weit. Mag man eigene Instrumente und klangliche Apparaturen kreieren, die für die Rezeption von Musik unverzichtbare Öffentlichkeit fehlte.

Quelle Claus-Steffen Mahnkopf: Die Qualitätsfrage / in: Musik & Ästhetik Heft 78 April 2016 (Seite 88 f)

*Anm.: Mahnkopf verweist an dieser Stelle auf den Essay von Julia Spinola zur Frage Schafft sich die Musikkritik ab? (Siehe Musik & Ästhetik 66 (2013).

Virtualität

Innere und ausgelagerte Gedanken

Die Musik läuft wie keine andere „Gedankenkunst“ (um es in aller Vorsicht einmal so zu benennen) Gefahr, missdeutet und ihres Realitätsgehaltes beraubt zu werden. Man hört oder sieht es ihr nicht ohne weiteres an, dass sie mit mimetischen Vorstellungen arbeitet und auch körperlich verstanden werden muss. Der Anfang der Musik könnte heißen: aghat – „schlagen“, „verwunden“.

Die schöne indische Lehre von der Herkunft der Musik aus einer Welt der Stille, dargestellt von Vidya Rao (Music today, New Delhi 1992), von mir in vielen WDR-Sendungen zitiert:

Nadbrahma Music Appreciation Vol.1

Im Jahre 1989 hatte ich mich mit den esoterischen Theorien des Joachim E. Berendt auseinandergesetzt, die sich damals einer merkwürdigen Popularität erfreuten. Selbst ein Philosoph wie Peter Sloterdijk hat sich vor den Karren spannen lassen und seltsam verschlungene Worte der Anerkennung gefunden, was mit seinen eigenen Indienerfahrungen und -missverständnissen zusammenhängen mochte (vgl. „Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung“1987). Für mich war die Nada-Brahma-Formel für immer unbrauchbar geworden, ich sah die Klarheit und Größe der indischen Musik, der meine jahrelange Arbeit gegolten hatte, in ein gefühliges Ungefähr verzerrt. Die ganze Polemik findet man hier, Berendt sah sich zu ausführlichen privaten Stellungnahmen genötigt, für mich war die Angelegenheit mit deren Veröffentlichung erledigt. Und die heutigen Performance-Inszenierungen klassischer Musik, die von ferne an esoterische Musikaufführungen von einst – etwa in der Balwer Höhle – erinnern mögen, haben ein ganz anderes Niveau (Levit, Grimaud).

„Damit das Wort ‚Klang‘ in diesem Zusammenhang vollends klar wird, muss realisiert werden: ‚Klang‘ existiert für das wissenschaftliche Denken durchaus auch als Abstraktum. So empfinden ihn auch die Musiker: Bevor sie ihn spielen, lesen sie ihn in der Partitur. Schon dort ist er Klang. Oder sie hören ihn klingen in ihrem Inneren. Erst dann ’speisen‘ sie ihn ein in ihr Instrument. In genau diesem Sinn ’speist‘ das Universum ständig Klänge in jedes einzelne seiner ‚Instrumente‘ – vom Atom, und vom Gen bis zum Planeten und Pulsar.“ (Joachim E. Berendt)

Diesen Rollenwechsel des Klanges, des in der Partitur gelesenen, sollten wir nachklingen lassen: „Schon dort ist er Klang. Oder sie hören ihn klingen in ihrem Inneren.“ Oder so ähnlich.

Lieber Professor h.c.! Für einen Musiker liegen zwischen diesen Nadas ganze Brahmas. Ich kann ein wenig Partitur lesen, und das heißt: Ich stelle mir den Klang vor. Wenn mir aber jemand erklärt, das s e i  bereits der Klang, verzeihen Sie, so möchte ich ihm all meine abgenutzten Lieblingsschallplatten um die Ohren knallen oder ihn zu einem gemalten Mittagessen ins Museum einladen.

Dieses Insistieren auf dem realen Klang hat ihn offenbar am meisten irritiert, auch wenn er das „Um-die Ohren-Knallen“ wohl als verbale Aggression empfunden hat, während ich es natürlich nur gedanklich-metaphorisch gemeint hatte. Wie denn sonst??? – Andererseits würde ich gern weiterhin über die Natur des Klangs in unserer Vorstellung nachdenken. Denn in der Tat kann das innere Hören mit erstaunlicher Intensität erfahren werden. Das gilt aber in gleicher Weise für viele andere Vorstellungen, die wir keinesfalls mit den realen Vorgängen gleichsetzen.

Damals hätte ich ein nützliches Büchlein zitieren können, das dem ganz pragmatischen Umgang mit notierter „Opusmusik“ gilt: Partiturlesen / Ein Schlüssel zum Erlebnis Musik / Von Michael Dickreiter (Goldmann Schott 1983). Es beginnt (Seite 7) folgendermaßen:

Sind Noten eigentlich Musik? Ist eine Partitur – die übersichtliche Zusammenstellung aller Orchesterstimmen, auch der Solo- und Chorstimmen einer Komposition – nur die Summe vielfältiger Anweisungen, was jeder Musiker zu spielen hat, oder ist die Partitur selbst schon Musik? Fest steht immerhin, daß die meisten Komponisten ihre Werke schreiben, ohne ein Musikinstrument zu Hilfe zu nehmen, daß Musiker, aber auch viele geübte Laien, sich durchaus vorstellen können, wie eine Komposition klingen wird, auch wenn sie die Partitur nur lesen. In ihrem Bewußtsein entsteht dabei nämlich ein Klangbild, das freilich akustisch nicht vorhanden ist. Ist diese Vorstellung Musik? Auch wenn Musik erklingt, erleben wir sie ja nicht als Schwankungen des Luftdrucks, sondern wir erleben sie bewußt sozusagen nach einer „gehirngerechten“ Umwandlung der physikalischen Schwingungen durch das Gehör. So werden gelesene und gehörte Noten erst im Bewußtsein des Menschen zu Musik, Partiturlesen ist wohl auch eine Form des Musikerlebens.

Also doch?

Natürlich. Wie eben schon gesagt. Niemand bezweifelt die Kraft des Gedankens, der Idee, der (bloßen) Vorstellung, des scheinbar realen Bildes im Kopf. Ich erinnere mich genau, wie ich bemerkte, dass es eine von mir quasi losgelöste Existenzform annahm, lange bevor ich in die Schule kam. Lange? Vermutlich zwischen meinem fünften und sechsten Lebensjahr.

Vorausgegangen waren nächtliche Angstträume, die wohl mit körperlichen Zuständen zu tun gehabt haben, Mangelernährung in den letzten Kriegsjahren, kombiniert mit Bildern und psychologischen Machtmodellen (Phantasien von Herrschaft und Unterwerfung), die aus Grimms Märchen und ähnlichem Vorlesestoff (Tiergeschichten!) stammten. Eines Tages kam etwas Neues hinzu: Ich wollte gar nicht warten, bis ich abends im Bett lag, sondern legte mich am hellichten Tag aufs Sofa und schloss die Augen, um meine eigenen Geschichten zu sehen (ich habe sie noch nicht Film genannt, weil ich noch keine Filme kannte, nur Hörspiele). Dass meine Großmutter in Schrecken geraten würde, hatte ich geahnt.

(Fortsetzung folgt)

Die Zitate hier einbeziehen und fortsetzen (S.K.Langer)
E.M.R.-Aufsatz s.u.
Julian Jaynes‘ Idee

ZITAT E.M.R. (26.02.16):

Cathrin Kahlweit schreibt, die Virtualität des Netzes ersetze eigene Aktivitäten und die eigene Identität. Je nachdem, auf welche Weise man das Internet nutzt, behält sie Recht. Wer seinen fiktiven Rollenspielcharakter stundenlang durch eine virtuelle Welt spazieren lässt, kann sich schnell in dieser Fiktion verlieren und das im Virtuellen erlebte als wirkliche eigene Erfahrungen wahrnehmen. Oft genug hört man zufällig in der Öffentlichkeit Gespräche mit, in denen es darum geht, wer wie viele Personen mit welchen Waffen umgelegt habe, und erst im Laufe des Gesprächs wird dem unfreiwilligen Zuhörer klar, dass mit „Ich“ eine aus Pixeln zusammengesetzte Figur, die mit Tastenkombinationen über den Bildschirm gesteuert wird, gemeint ist.

Trotzdem gibt es durchaus Möglichkeiten, sich im Internet selbst zu verwirklichen. Im Internet kann ich eine Fotografin sein, ich kann zur Aktivistin werden, indem ich per Mausklick Petitionen für Greenpeace oder Amnesty International unterschreibe, ich kann zur Autorin, Musikerin oder Komikerin werden oder zu allem gleichzeitig. Wenn ich die Anerkennung für meine Werke bekomme, fühlt sich das alles real an. Trotzdem erweist es sich als kompliziert, die realen Dinge von den weniger realen zu unterscheiden, wenn alles im Internet stattfindet.

Durch das Internet wird einerseits alles öffentlich gemacht, andererseits herrscht aber auch eine gewisse Anonymität. Selten kann man mit Sicherheit sagen, dass das virtuelle Gegenüber wirklich der ist, der er vorgibt zu sein. Umgekehrt kann er dies auch nicht beurteilen. Fragwürdig ist auch, ob man selbst weiß, wen man online darstellt. Mit der Zeit kann sich ein Verlangen danach entwickeln, nur seine besten Seiten preiszugeben – oder aber einige bessere Seiten hinzuzufügen, so dass der Bildschirm eine Art Fassade zur Außenwelt ist.

Quelle Schulaufsatz Stuttgart 26.02.16 Eos (17 Jahre)

Zur Alten Musik gestern und heute

Neue Pläne

HIER

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Fritz Neumeyer gilt vielen als Vater der historischen Aufführungspraxis, da er ernst gemacht hat mit den Originalinstrumenten, also vor allem mit den Tasteninstrumenten, für die die alte Musik geschrieben worden ist. Er hat ein halbes Jahrhundert überschaut und beeinflusst. Aber was in den Generationen nach ihm geschah, hätte ihn sicher nicht wenig verwundert, vor allem was an rhythmisch-agogischer Freiheit gewagt wurde, und ganz besonders: im Tempo. Am Ende ging es nicht allein um die historisch korrekte Verortung der Werke, um den Klang, um Erforschung und Amalgamierung der Ornamentik, sondern auch um die Befreiung von „Inkrustationen“. Als Ensemble-Mitglied plädierte „Onkel Fritz“ gern für einen natürlichen Zugang zur Musik, er neigte nicht zur Exzentrik, zur Selbstinszenierung, zur Verblüffung des Auditoriums. Aber wenn man seine feinsinnigen Marien-Kompositionen und die Bearbeitungen lothringischer Volkslieder kennt, weiß man, dass er zwar ein sanfter Revolutionär war, der aber auch den Gestus des wilden Lindenschmieds umzusetzen wusste.

Melodie (Grundlagen)

Ein Beispiel

(in Arbeit)

Nach: The Making of Melody (Victor Zuckerkandl „The Sense of Music“ S. 38)

Formel D-E-F kurz

Die erste Bewegung, aufsteigend und absteigend, „weg-von“ und „zurück-zu“  Ton d, lässt den Ton als „1“ erscheinen. Die Wiederholung der Bewegung bekräftigt diesen Ton als Zentrum.

(Im folgenden Beispiel zeigt A, wovon gerade die Rede ist. B ist eine Vorwegnahme, damit von vornherein klar ist, wie die Töne beziffert sein werden.)

Formel D-E-F num

Was ist das nächste?

Der fünfte Ton (Ton a), „5“: der Gegen-Pol. Sobald er auftaucht, spüren wir, dass ihm eine potentielle Richtung innewohnt und zwar nach abwärts, zum Ausgangston (dem Ton d), die Tendenz dorthin zurückzukehren.

Die Melodie erfüllt diesen Wunsch:

Choral Unterteile a'

(absteigende Tonreihe von a nach e).

Jedoch nicht die ganze Strecke. Gerade dort, wo die Spannung am intensivsten ist, wo der Wille eine weitere Bewegung zu machen am deutlichsten ausgesprochen ist – auf dem Ton  „2“  (Ton e) –, kommt die Bewegung zu einem Halt. Anwachsende Spannung. Was wird jetzt geschehen?

Was hier geschieht, ist das gerade Gegenteil dessen, was der letzte Ton zu erreichen beabsichtigte. Die Bewegung kehrt sich um, zieht weg von „1“, geht aufwärts, über „3“ und „4“, um wieder „5“ zu erreichen:

Choral Unterteile b'

Der Gang ist jetzt langsamer als beim Abwärtsgang, die Bewegung scheint neu Atem zu holen vor jedem Schritt, – e/f, f /g, g/a – wir fühlen beinahe, wie sie gegen den Druck der wirkenden Kraft arbeitet.

Mit dem Erreichen des Tones „5“ ist der Gegenpol der wirkenden Kraft erreicht, die Bewegung bestätigt einmal mehr den Willen dieses Tones, und der zweite Versuch des Abstiegs gelingt:  (a) – a g f e d. Der Weg ist vollendet, das Ziel erreicht.

Choral Unterteile c'

Die ganze zweite Hälfte dieser Melodie, von dem Moment, als die Bewegung auf „2“ zum Halt kam, haben wir gewartet auf die Erfüllung, die durch diesen Ton in Aussicht gestellt wurde. Ihre Spannung liegt allem zugrunde, bindet alles zusammen, was folgt, und ist erst aufgelöst am Ende, mit dem Eintritt von „1“.

Choral Unterteile d'

Der zweite Teil des Chorals ist im Ganzen eine Wiederholung des ersten, aber er beginnt nicht wie der erste. Da ist keine Notwendigkeit für die Wiederholung einer kurzen Phrase, deren Hauptfunktion es war, den Ton „1“ zu etablieren. Gleichwohl sollte der Beginn die Repetition einer kurzen Phrase sein. Wir beginnen also mit der zweiten Phrase a / g f e und wiederholen sie.

Choral Unterteile e'

Das bedeutet, dass wir jetzt zwei erfolglose Versuche haben; zweimal wird die Bewegung auf  „2“ gestoppt. Als Konsequenz ist die Spannung auf diesem Ton sehr erhöht. Was folgt, ist daher mehr als eine bloße Repetition der zweiten Hälfte des ersten Teils: die aufsteigende Phrase wirkt gegen eine (noch) stärkere Kraft, trägt (noch) größeres Gewicht.

Am Ende bringt die Wiederkehr der „1“ dementsprechend eine noch emphatischere Auflösung, macht einen noch stärkeren Abschluss als an der Mittelmarke. Zuckerkandl bringt diese sich wandelnden Kräfteverhältnisse in seinen Bögen und Linien über den beiden Melodiezeilen deutlich zum Ausdruck:

 Choral Phrasierung Zuckerkandl Zeile 1 Choral Phrasierung Zuckerkandl Zeile 2

Wir sehen hier zwei Dinge. Erstens, die Aktion der tonalen Kräfte organisiert die Melodie, hält sie zusammen, gibt ihr ihre Bedeutung. Zweitens, die Töne sind in ihren Bewegungen nicht einfach den wirkenden Kräften unterworfen, wie unbelebte Körper der Wirkung der Schwerkraft unterworfen sind; sie sind frei sich zu bewegen mit den wirkenden Kräften oder gegen sie, so wie der belebte Körper des Tänzers frei ist, sich mit der Schwerkraft oder gegen sie zu bewegen.

Die tonalen Kräfte bestimmen nicht die tonale Bewegung, aber sie bestimmen in der Tat eine andere Sache, und dies im striktesten Sinn: die musikalische Bedeutung dieser Bewegung. In unserem Choral war die Bewegung jederzeit frei voranzuschreiten von Ton „2“ zu Ton „1“ oder zu jedem anderen gewählten Ton; aber sobald sie tatsächlich den Schritt „2“ – „1“ wählte, konnte nichts in der Welt dieser Bewegung eine andere Bedeutung geben als „in Übereinstimmung mit der wirkenden Kraft, das Zentrum erreichend, und uns darin nichts anderes hören machen als Bewegung von einem unbalancierten zu einem perfekten Status. Genau so strikt und unmissverständlich wird die Bedeutung jeder anderen Bewegung determiniert durch die vorherrschenden dynamischen ( „kräftemäßigen“, – betrifft nicht Lautstärke!) Situationen.

(Mendelssohn sagte einmal, dass die tonale Sprache zu präzise ist, um in Worte übersetzt zu werden. Wir sehen die Wahrheit dieses Statements. Der Schriftsteller hat einen gewissen Spielraum von Freiheit, die Bedeutung seines Materials, der Worte, zu verändern; ein Komponist hat ihn nicht.)

Die Kräfte, die wir in Aktion beobachtet haben, die verantwortlich sind für den Verlauf dieser einfachen Melodie (einer wunderbaren, herausragenden Melodie in all ihrer Einfachheit), sind dieselben, die den komplexesten musikalischen Organismus formen und zusammenhalten. In dieser Hinsicht ist der Unterschied zwischen einem Volkslied und einer Beethoven-Sinfonie nur ein Gradunterschied. Das Anwachsen der Komplexität mag vergleichbar sein dem von der Arithmetik der Grundschule zur Differentialrechnung; das Prinzip bleibt das gleiche.

(Dieser Text bzw. diese freie Übertragung eines Original-Textes ist die Gebrauchsversion, hergestellt für Folkwang-Vorlesungen 2011. Im Buch von Victor Zuckerkandl „The Sense of Music“ sieht es folgendermaßen aus:)

Zuckerkandl Sense Melody Princeton University 1959/1971

Bach Praeludium C-dur BWV 870

Was über die Erarbeitung der Töne hinaus klar sein müsste

Zunächst natürlich die Wiederkehr des Gleichen:

Bach C-dur Praeludium a

Bach C-dur Praeludium a-b

Bach C-dur Praeludium b

(Nicht irritieren lassen: die mittlere Kopie nur, weil sonst ein halber Takt fehlen würde.)

Die Pfeile sollen ermöglichen, die Wiederkehr der um eine Quarte versetzten Textur mit der Vorgabe zu vergleichen und dem Rätsel nachzugehen, was außerhalb dieser Takte letztlich geschieht. Noch die Reinschrift zeugt von Bachs intensiver Arbeit an dem Werk (Alfred Dürr hat die einzelnen Phasen, die hierher führten, detailliert beschrieben).

Bach C-dur Prael Faksim Det

Der Ausschnitt beginnt in Takt 12 auf der zweiten Zählzeit und bricht in Takt 14 nach der dritten Zählzeit ab; es geht von hier ein System tiefer und schräg nach rechts (Dreiecke als Wegweiser). Der ursprüngliche Notentext ist durchgestrichen.

***

Alles was bis hier zu beobachten war, liegt gewiss auf der Hand, bzw. im Ohr, wenn man das Werk am Klavier einstudiert. Für viele Interpreten endet die gedankliche Arbeit an dieser Stelle; niemand wird aufstehen und sagen: ich werde mich jetzt einer gründlichen Erforschung dieses Praeludiums widmen. Etwa: Was kann ich daraus über Bachs kompositorischen Ziele erfahren,  was veränderte er, was empfand er als Verbesserung, ab wann war ein Stück wirklich fertig? Ist es nicht merkwürdig, dass die „fertigen“ Stücke, die Bach überarbeitet, zuweilen die doppelte Länge erreichen und sich in den Proportionen völlig verschieben? Zweifellos interessant, aber: der Pianist kann sich solchen Fragen auch strikt verweigern und sagen: das spielt für meine Interpretation keine Rolle. Ich nehme einfach, dem Herausgeber vertrauend, das vorliegende Werk und versuche, Takt für Takt sprechend und sinnvoll vorzutragen. Übergeordnete Beziehungen – wenn ich sie denn durch Analyse eruiere – kann ich in einer so komplexen Satzstruktur ohnehin nicht zum Ausdruck bringen.

Meine Empfehlung: man sollte immerhin die Forschungen zu Kenntnis nehmen, die greifbar und lesbar sind, vor allem auch allgemeinverständlich und kurz. Also keine umfangreichen Auflistungen, auch nicht unbedingt die Kritischen Berichte der Gesamtausgaben, aber in kluger Auswahl alle für das Verständnis des praktizierenden Musikers (!) nützlichen Details.

(Ein ausgezeichneter Pianist sprach kürzlich über die beiden Teile des Wohltemperierten Klaviers, von denen es heiße – so meinte er -, sie verhielten sich zueinander wie das Alte und das Neue Testament. Dieses Fehlurteil hätte er schon dank einer kursorischen Lektüre des folgenden Buches vermeiden können.)

Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach / Das Wohltemperierte Klavier /  Bärenreiter Kassel Basel London etc 1998 ISBN 3-7618-1229-9

Gründliche Behandlung des vorliegenden Praeludiums und seiner verschiedenen Versionen Seite 244 bis 252.

Interessante (aber ziemlich analytisch nüchterne) Zusatzlektüre:

Christoph Bergner: Studien zur Form der Präludien des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach ) / Hänssler -Verlag Neuhausen-Stuttgart 1986

NB

Was das Alte und das Neue Testament angeht: Hans von Bülow hat das aufgebracht, er bezog sich aber auf das Wohltemperierte Klavier insgesamt (AT) und auf Beethovens Klaviersonaten (NT). Es zeugt von grundsätzlichem Missverständnis, wenn man den zweiten Band des WTC vom ersten als ein prinzipiell anderes Werk unterscheidet.

Konzert, Performance, Ritual

Brauchen wir neue Rituale?

Jeder Künstler weiß, dass zu einem Konzertauftritt eine gewisse (Selbst-) Inszenierung gehört. Man zeigt Disziplin und Zielbewusstheit, Selbstkontrolle und Hochachtung für das Publikum. Man verbeugt sich, man konzentriert sich, wartet auf den Eintritt völliger Stille im Saal, man zelebriert den eigenen Einsatz und agiert sodann in einem eigenen, imaginären, vom Publikum abgeschlossenen Raum auf dem Podium. Oder man verzichtet bewusst auf einzelne Komponenten, indem man während der Darbietung hier und da einen Blick ins Publikum wirft, vielleicht sogar, um einen Huster abzustrafen oder ein knisterndes Bonbonpapier zu markieren. Die Grenzen des Üblichen haben sich im Lauf der Geschichte immer wieder verschoben.

Ich erinnere mich an ein WDR-Konzert mit Friedrich Gulda, in dessen erstem Teil er mit der Sängerin Ursula Anders sein skandalumwittertes „Opus Anders“ aufführte (siehe dazu das Gespräch mit André Müller hier), während er den zweiten Teil mit Mozarts A-dur-Sonate begann, die er auf unvergessliche Weise vortrug: Das Licht im Sendesaal war nicht ganz gelöscht, und während er das Thema und die Variationen spielte, schaute er unverwandt ins Publikum, von Platz zu Platz, von Reihe zu Reihe, – es war, als wolle er jeden Einzelnen ansprechen, es herrschte atemlose Stille. Unglaublich schöne Musik! Man hatte aber weniger den Eindruck einer musikalischen Konversation, – eher den einer Prüfung. Einer Prüfung, deren Ausgang fraglich war. Vielleicht wollte er es so, vielleicht war es eine Autosuggestion, die sich unwillkürlich einstellte.

So hatte es Couperin im Jahre 1717 wohl nicht gemeint:

An seinem Clavecin soll man eine gefällige Miene zur Schau tragen. Man hefte den Blick nicht starr auf einen bestimmten Gegenstand, schicke ihn aber auch nicht allzusehr ins Leere: endlich – man blicke eine Gesellschaft, so eine vorhanden ist, an, als ob man gar nicht anderweitig beschäftigt wäre. Dieser Rat ist natürlich nur für die bestimmt, die ohne Hilfe der Noten spielen.

Quelle François Couperin: L’Art de toucher le Clavecin / Herausgegeben und ins Deutsche übersetzt von Anna Linde / Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 1933 (Seite 11)

In meiner Jugend gab es ein „Bielefelder Kammertrio“, das mein erster Geigenlehrer mit meinem Vater zusammen gegründet hatte. Als Cellisten der ersten Zeit konnten sie einen begabten jungen Mann von der Detmolder Hochschule hinzugewinnen, der allerdings, wie sich bald herausstellte, eine schlechte Angewohnheit hatte: immer wenn er ein paar Takte Pause hatte, begann er, in aller Ruhe das Publikum zu mustern. Als suche er ein bekanntes Gesicht. Niemand fand das anregend oder kommunikativ, es wirkte so, als ob er sich die Langeweile vertrieb. Sogar wir Kinder, die heimlich lachten, wenn die Streicher im Erzherzog-Trio Pizzicato spielten, fanden das ungehörig.

Warum stört das? Man erwartet im Konzert Spannung oder auch nur Konzentration, gewiss vor allem Lebendigkeit, aber immer auf die Musik bezogen, nicht von ihr weggewandt oder ablenkend. Ich nehme ein Beispiel aus dem weniger strengen, ritualisierten Genre mit Folkloreanklängen. Man studiere intensiv die Gesichter der Mitwirkenden im folgenden Konzert, beobachte ganz besonders diejenigen, die gerade nicht aktiv am Geschehen beteiligt sind: was für ein Wunder an Beteiligung und Anteilnahme in jedem Moment, was für ein Ausstrahlung! Es geht nicht um Schönheit und Jugend der Beteiligten, es geht um den lebendigen Puls der Aufführung. (Springen Sie ruhig mitten hinein: z.B. bei 10:00.)

Carmina latina Screenshot 2016-03-22 16.29.25 Hier anklicken!

Ich habe schon kurz die Johannespassion unter Peter Deijkstra behandelt, die zur Zeit noch (bis 27. März) auf ARTE abrufbar ist, habe auch den Namen des Mannes erwähnt, der für die „Szenische Gestaltung“ verantwortlich war: Folkert Uhde. Und wenn man ihm nachgeht, weiß man auch, dass er den Begriff „Konzertdesign“ eingeführt hat und dass sich hinter dem, was ich hier zu entdecken glaubte, längst eine weitverzweigte Theorie steht.*Einfügung 19.04.2016: ein abschreckendes Beispiel ist für mich die Inszenierung der Geigerin Midori Seiler, die fabelhaft Bachs Solissimo-Werke spielt. Aber so möchte ich das keinesfalls in extenso erleben. Gleiches gilt für Vivaldis Jahreszeiten.*

Und schon habe ich Angst, dass alsbald auch ein weit sich verzweigendes System des Missbrauchs im Kommen ist, nämlich sobald es Usus wird, neben einem Dirigenten, einem Ensemble und verschiedenen Solisten auch einen Konzertdesigner zu verpflichten. Einen Menschen, der dieses Fach studiert hat, gewiss zusätzlich auch noch Kultur-Management, PR-Marketing und alles, wo man gut aufgestellt sein muss, am Ende vielleicht sogar noch etwas Klavier oder Gitarre. Denn die meisten wollen ja „ganz oben“ anfangen und nicht jahrelang mit Fingerübungen ihre Zeit verplempern. Andererseits suchen bedeutende Künstler, also solche, die es nie für eine Schande gehalten haben, sich täglich mit Fingerübungen abzugeben, neuerdings den Kontakt zu Leuten, von denen ihre Kunst spektakulär inszeniert wird, notfalls in spektakuläre Stille gehüllt, wie im Fall Igor Levit / Marina Abramović. Und jetzt ist es die Pianistin Hélène Grimaud, die sich mit dem bildenden Künstler Douglas Gordon zusammentut, um ein pianistisches Wasser-Programm über einem gigantischen Wasserteppich im Dunkeln zu spielen. Die klassischen Werke sind zudem von der ersten bis zur letzten Nummer – wie auf ihrer CD Water – durch Transitions verbunden, die der Phantasie des Komponisten Nitin Sawhney entsprungen sind.

Grimaud water

Man kann sich damit stichprobenartig befassen, indem man hier von Track zu Track geht, man kann aber auch genau auf den Fragen beharren, die im ZEIT-Interview gleich zu Anfang gestellt werden:

DIE ZEIT: Trügt der Eindruck, dass die absolute Musik Ihnen auf der Bühne nicht mehr genügt?

Hélène Grimaud: Das trügt definitiv! [Sie berichtet von ihren „normalen“ Konzerten.] Das ist mein täglich Brot. Alles andere nimmt nur einen sehr kleinen Teil meiner Arbeit ein. Das ist ein fremdes Reich, das ich ab und zu betrete. ich finde es enorm wichtig, dass alles Szenische so abstrakt wie möglich bleibt. Es geht nicht darum, den Zuschauern zu sagen, was sie fühlen sollen, es geht darum, eine Welt zu schaffen, die es ihnen ermöglicht, Gefühle zu erleben.

DIE ZEIT: Dennoch könnte man auch Ihre Water-CD als Misstrauensantrag an die Musik verstehen: Die Musik scheint mehr zu brauchen als sich selbst, ein Programm oder ein ästhetisches Surplus.

Grimaud: Ich sehe das genau andersherum: Jede Partitur ist eine Art Heilige Schrift, die zum Leben erweckt werden will und muss. Dieses Leben kann gar nicht prall genug sein.

Quelle DIE ZEIT 17. März 2016 Seite 59 „Die Kunst hält das aus“ Die Pianistin Hélène Grimaud spricht über ihre neue CD „Water“, über Spiritualität und die Grenze zwischen Musik und Aktivismus. (Gespräch: Christine Lemke-Matwey)

Es gilt, all dies sorgfältig zu prüfen und auf sich wirken zu lassen. Ist das „wahrhaftig“ durchdacht oder vom Größenwahnsinn gezeichnet? Läuft es auf etwas hinaus, was man – frei nach Adorno – als spirituelles Brimborium bezeichnen könnte? Einerseits ist immer nachvollziehbar, wenn man statt einer Nummernfolge einen größeren thematischen Zusammenhang schaffen und anbieten will, zugleich aber das Bewusstsein der Rezipienten aktivieren und präparieren will. Die leere Feierlichkeit des bürgerlichen Konzerts wird als ungenügend, als der heutigen Auffassung vom Kunstwerk nicht adäquat empfunden. Man will es vermeiden, bloße Zerstreuung anzubieten, und so bemüht man sich, gewissermaßen den Radius der Assoziationen vorgeben. Aber weiß man überhaupt, was ein großes Variationen-Werk von uns fordert, kümmert man sich eigentlich im Detail um die musikalischen Inhalte? Ich höre in den Berichten über die Goldberg-Variationen immer nur das Thema. Welcher Musiker unterzieht sich der Mühe, sagen wie, ein Werk wie das von Rolf Dammann über die Variationen durchzuarbeiten? Würde es vielleicht genügen, unter der strengen Regie von Marina Abramović 30 mal hintereinander das Thema zu spielen? Und mit Douglas Gordon über das Phänomen Wasser zu meditieren? Was meint Hélène Grimaud mit dem Satz „Die Kunst hält das aus“… Die ZEIT kommt vom Wasser auf Erderwärmung und Schmelzen der Pole und fragt: „Ist das unser Problem? Überfrachten wir die Musik mit unserer Realität?“

Hélène Grimaud: Wenn Sie so wollen, dann ist jede Rezeption eine Überfrachtung, eine Überwölbung mit eigenen Erfahrungen. Die Kunst hält das aus. Für frühere Zeitalter war die Natur ein Wissensspeicher. Man ging hinaus, machte einen Spaziergang, kam zurück und schrieb nieder, was der Wind einem durch die Blätter der Bäume zugeflüstert hatte. Das ist jetzt grob vereinfacht gesagt, so romantisierend war es nicht, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es bis heute gilt. Denn wenn wir uns diesen existentiellen Bezug zur Welt, in der wir leben, bewahrt hätten, wäre es nie so weit gekommen.

…wäre es nie so weit gekommen? Nicht ohne Grund hat sie vorher gesagt: “ (Man) kam zurück…“ Wahrscheinlich hätten wir auch keine Musik, keine Literatur, keine Bilder, wenn wir nicht zurückkämen, reflektierten, objektivierten. Denn die Kunst schließt aus, verzehrt, ignoriert schließlich alles, was nicht Kunst ist. Ich behaupte, dass auch Ravels „Jeux d’eau“ davon profitieren, dass die Künstlerin die Musik reflektiert und nicht das Lichterspiel auf dem Wasser.

Wenn Sie 5 Minuten Zeit haben, hören Sie doch, wie es bei Igor Levit war, auch was er selbst dazu sagt – und wie er das Thema der Goldberg-Variationen spielt: HIER(Nicht mehr abrufbar!)

Wollen Sie sich die Situation optisch vorstellen? HIER finden Sie eine Rezension und ein paar Bilder.

***

Und doch – könnte ich mir selbst in den Arm fallen, in die Tastatur, und versuchen, einen ganz anderen verbalen Ausdruck für dies alles zu finden. Einen Ausdruck des Schreckens und des Abscheus. Was für ein Aufwand wird hier getrieben, um eine Kunstwelt zu errichten, die sich geriert, als gehe es um nichts anderes als um die Beschwörung des wahren Augenblicks, des ungeheuer magischen Moments, der zur Ewigkeit wird. Oder um die technisch hoch aufwendige Installation einer Ewigkeit, die dann hoffentlich zu einem weltentrückten Augenblick zusammenschnurrt, man entfaltet auch die stumme Bildende Kunst – faltet sie geradezu auseinander -, bis sie in der einen genialen Performance zu einer Zeitkunst wird, versucht die Zeitkunst Musik in ein Ritual zu bannen, das uns reinigt und zu hörenden Giganten „entpersönlicht“, nein, ich finde keine Worte, und dann steckt am Ende längst die Erlebnis-Industrie dahinter, die längst alle Bastionen der künstlichen Intensivierung besetzt hat. Und im Saal sitzt allenthalben dieselbe Schickeria wie seit Menschengedenken, neuerdings aber mit dem festen Vorsatz, bei der Wiederkehr des Goldberg-Themas am Ende der Vorstellung in Ohnmacht zu fallen. Und dann hinauszugehen und zu sagen: ich widme diesen Abend den Flüchtlingen oder der Abwendung der Klimakatastrophe, nie war ich der Realität näher als im Moment dieser künstlich verordneten meditativen Einsamkeit in diesem riesigen Saal, der in den alten Zeiten als Waffenhalle (Armory) gedient haben soll. Und dann – ich sage es noch einmal (inszeniere mich womöglich gerade selbst) – versammelt sich da wieder die Menge der elitären Heerscharen und wartet auf die Gänsehaut wie in Bayreuth, wenn endlich das schwere Blech einsetzt. In diesem Fall die absehbare Wiederkehr des  zarten Themas als Wunder der intimsten Massenrührung. Eine Bach-Mirakelperzeption, die schon zu Glenn Goulds Lebzeiten weltweit eingeübt wurde, noch mehr aber nach seinem Tode: in nächtlichen Medien-Séancen mit dem Zeremonienmeister Bruno Monsaingeon.

Ich könnte aber auch an dieser Stelle daran erinnern, dass bestimmte Künstler immer noch eine unvergessliche, bezwingende Wirkung ausüben, indem sie einfach – normal beleuchtet – auf der Bühne stehen oder sitzen und vollendet Beethoven-Sonaten spielen und nicht einmal durch besondere Schönheit des Gesichtsausdrucks, der Haltung, der Gestalt oder der Gesten auffallen, wie Leonidas Kavakos („distanziert und fast mürrisch“), ob mit Enrico Pace oder Daniil Trifonov. Wie geht das? – Eigentlich – nicht so, wie ich es erlebt habe – in meinem Wohnzimmer – vor dem Fernsehapparat –

Ich breche ab, – ich muss noch ein paar einleuchtende Textstellen zur heutigen Funktion der Performance abschreiben. Vielleicht auch noch einmal Wolfgang Ullrichs Buch „Alles nur Konsum“ durchblättern. Oder nein, bei Hanno Rauterberg muss stehen, was ich suche… unter dem entwaffnenden Titel „Die Kunst und das gute Leben“…

***

ZITAT RAUTERBERG

Dass sich das Wesentliche nicht festhalten lässt, dass die Wahrheit im Augenblick liegt und ja ohnehin nur lebendig ist, was wandelbar bleibt, das sind geläufige Topoi des digitalen Zeitalters – in der Performance finden sie ihre ebenso geschmeidige wie unterhaltsame Form. Sie will sich den üblichen Verwertungszwängen entziehen, will kein Produkt sein, mit dem sich handeln und spekulieren ließe. Es ist eine liquide Kunst, die mit Kameras nicht vollgültig einzufangen ist. Man soll, man muss sie mit eigenen Augen sehen, sie zelebriert das Hier und Jetzt, eine wahre nondigitale Erfahrung. Es ist die Kunst der Präsenz. Sie setzt auf Anwesenheit und Körperlichkeit, sie erlaubt es den Besuchern, sich ihrer selbst zu vergewissern: gegenwärtig zu sein.

Manchmal geht es sehr meditativ zu, beispielsweise wenn der Künstler Anthony McCall auftritt, dessen Kunst nichts als Raum, Zeit und Licht sein möchte. Im tiefsten Dunkel erstrahlen dann klirren helle Spots, als hätte der Leuchtstrahl eines Ufos das Museum erfasst. Die Besucher sind es, die hier zu Performern werden: Sie baden im Licht des Künstlers, versuchen es zu ergreifen, eine irreal-reale Erfahrung. Der sogenannten Erschöpfungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts gefällt diese Art von Lebendigkeitsästhetik.

(…) Wo sonst in den Museen ein jeder Besucher für sich vor den Gemälden und Skulpturen steht und die ästhetische Erfahrung in der Regel das auf sich gestellte Individuum meint, legt es die Performance auf etwas Allumfassendes an. Sie verbindet den Raum, das Gezeigte, das Publikum. (…)

Die Performance Art kann auf eine erstaunliche Erfolgsgeschichte zurückblicken, die hat sehr unterschiedliche Spiel- und Spannungsformen entwickelt und mit Marina Abramović oder Tino Sehgal einige der populärsten Künstler der Gegenwart aufzuweisen. Doch ganz gleich, ob eine Performance ekstatisch, sanftmütig oder spielerisch gestimmt ist, ob sie das Irrationale bestärkt oder auf vernunftbetonte Dialoge abzielt, stets bemüht sie sich, die Betrachter aus ihrer gewohnten Rezeptionshaltung herauszureißen. Das Museum habe, so eine verbreitete Annahme, ein konsumbestimmtes Verhältnis zu Gemälden und Skulpturen begünstigt und damit den Besuchern eine passive Rolle verordnet. Daher müsse sich Performance vor allem der Neubelebung widmen: Die starren Formen der Kunst löst sie auf in etwas Atmosphärisches, dem Dauerhaften setzt sie das Ereignishafte entgegen und sie möchte aus dem passiven Betrachter einen aktiven Teilnehmer machen. Atmosphäre, Ereignis und Interaktion können je nach Performance unterschiedlich gewichtet sein, alle drei Aspekte aber treiben auf ihre Weise die Normalisierung der Kunst voran.

Quelle Hanno Rauterberg: Die Kunst und das gute Leben / Über die Ethik der Ästhetik / edition suhrkamp / Berlin 2015 (Seite 58 f) Hervorhebungen in roter Farbe JR

Um noch eine weitere Anregung hinzuzufügen, die sich leicht auf Musik-Aufführungen beziehen lässt. Das Zitat stammt aus dem Vorwort eines Buches, das schon 2004 erschienen ist:

Kunst ist in Bewegung: Theater und Konzertsäle öffnen sich für Installationen und Performances. Galerien machen Platz für Darsteller und Tänzer. Der Gang durch die Stadt ist ein Auftritt. Öffentliche und private Räume werden in ihrer Funktion hinterfragt und können dabei zum Ort für ästhetische Erfahrungen werden. Der Transformation der Räume entspricht eine Neubefragung der zeitlichen Disposition von Kunst. Anfang und Ende, Dauer und Verlauf fallen aus dem Rahmen konventioneller Muster. Damit wird eine ästhetische Praxis generiert, für deren Beschreibung Schlüsselbegriffe wie Dynamik, Prozessualität, Vollzug oder Präsenz kennzeichnend sind.

Solche neuen Produktionsweisen korrelieren mit veränderten Rezeptionsstrategien. Wahrnehmung wird nicht als passive Aufnahme und ausschließlich intellektuelle Beschäftigung mit statischen Objekten verstanden, sondern als sinnlicher und körperlicher Vorgang, der aktive Teilhabe erforderlich macht. Schließlich steht der Status von Zuschauern und Zuhörern selbst auf dem Spiel, wenn ihr Erleben im ästhetischen Vorgang thematisiert wird und sie durch ihre Anwesenheit und Wahrnehmung konstitutiver Teil ästhetischer Prozesse sind.
Wenn Kunst in Bewegung ist, dann gerät auch die tradierte Konzentration auf Werkcharakter und -ästhetik ins Rutschen.

Mit anderen Worten: Die Performativierung der Kunst stellt eine besondere Herausforderung für die Analyse dar. Kunst provoziert Wissenschaft, und die Entgrenzung der Kunst stellt die Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen in Frage.

Quelle Hier Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst / Der Aufführungsbegriff als Modell für eine Ästhetik des Performativen / Hrsg.: Erika Fischer-Lichte, Clemens Risi, Jens Roselt.

Nachtrag zu Hélène Grimaud

Die Wasser-CD, die ich (siehe Bild oben) inzwischen besitze, ist sehr schön zu hören, leider auch beim Arbeiten, wenn ich gar nicht recht zuhöre. Sie plätschert dahin – Schönheit – „wie gleichst du dem Wasser!“ Soll ich über das Wesen des Wassers meditieren oder über die Verflüssigung unserer Seele beim Hören? Ja gern, ich mache alles mit. Aber wenn ich etwas über die Klänge, die mich beieindrucken, wissen will, schaue ich ins Booklet und lese über das erste Stück von Luciano Berio – „Wasserklavier“ No.3 from 6 Encores – per Antonio Ballista:

Die Werke dieses Programms gehen weit über lediglich neue Naturschilderungen hinaus. Ohne sentimental zu werden, regen sie an zu tiefer Versenkung in Wahrnehmungen, Erinnerungen oder Gefühle, die durch Wasser stimuliert werden. Berios Wasserklavier sinnt zunächst mit süßer Melancholie über die vom Wasser symbolisierte Unbeständigkeit der menschlichen Existenz nach.

Das ist alles, und es ist natürlich zu wenig. Denn der Verlag Universal Edition gäbe uns etwas mehr in die Hand:

Wasserklavier aus 6 Encores könnte in der Tat als ideale Zugabe nach jedem Klavierrecital dienen: es ist tonale Musik, die Motive aus Brahms’ Op. 117 sowie Schuberts Op. 142 verwendet. Das Ende bleibt irgendwie offen – mit einem Fragezeichen oder das Gefühl vermittelnd, dass die Musik noch weiter klingen könnte.

Was für eine Vorgabe! Darauf wäre ich nicht gekommen, obwohl mein absolutes Lieblingsstück dabei ist. Op.117 besteht aus drei Intermezzi und Schuberts op.142 aus vier Impromptus, auch lauter Lieblingsstücke von mir. Und ich habe – als ich dies noch nicht wusste – kein einziges Motiv erkannt, jetzt aber fällt es mir wie Schuppen … nein, keine Anspielung in diesem Zusammenhang.

Im Fall Takemitsu verfahre ich ähnlich, der Verlag All Music hilft mir ebenfalls… Haben Sie’s angeklickt? – Aber muss ich denn wirklich alles selber tun?

Der ideale Jesus

Eine Inszenierung

Natürlich ist der Blog-Titel eine kleine Provokation, ich glaube aber, dass sich das „Evangelium“ selbst so versteht. Jedenfalls behaupten rhetorisch begabte Prediger dies auf der Kanzel immer wieder. Ein Ärgernis, sagt man, ein Skandalon. Andererseits wird auch gern gesagt, dass die Aufführung einer Passion kein Theaterstück sei, während manche Bach-Enthusiasten beteuern, ihr Idol hätte der größte Opern-Komponist aller Zeiten werden können. Zugegeben: ich selbst schreibe dies auch nicht als „Gläubiger“ und bedauere doch sehr, dass die heutige Jugend – von den mitteljungen Erwachsenen zu schweigen – nicht mehr imstande ist, eine Bach-Passion mit Ergriffenheit zu hören. Und zu sehen! Während ich bis lange nach Mitternacht sitze und mich nicht losreißen kann. (Keine Kunst: Ich habe 100 mal in meinem Leben mitgespielt.) Zuerst habe ich gar nicht bemerkt, dass es eine „Inszenierung“ ist, so sparsam sind ihre Mittel. Zunächst wundert einen vielleicht nur die bunte, wenn auch ordentliche Kleidung der Chorsänger… aha … sie sollen Leute wie ich und du repräsentieren, keine Festspielbesucher. Dann sehe ich Bewegungen der Sänger bzw. der Sängerin, „Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten“, es ist nicht lächerlich, man erlebt nur, wie sie die Standorte wechselt. Oder der Chor: da erheben sich Einzelgruppen von ihren Sitzen, mit ihrem jeweiligen Ruf „Lasst ihn kreuzigen!“, – zum Glück noch nicht ganz wie eine demonstrierende Masse. Am tiefsten prägt sich ein, wie der Sänger Tareq Nazmi sich verhält, wenn er schweigt: er hört aufmerksam und freundlich zu. Das soll nicht heißen, dass er weniger bemerkenswert singt, im Gegenteil, gerade durch seine darüber hinausreichende geistige Präsenz steigert sich auch die Wirkung der zurückgenommen-ausdrucksstark gesungenen Christus-Worte, jeder Ton triff ins Herz. Und die Präsenz hält an, wenn er „gestorben“ ist: die Gambe hebt an mit „Es ist vollbracht“, er aber verharrt an der Seite sitzend, vornübergebeugt  (nicht so pathetisch wie Rodins Denker, eher sanft, vielleicht etwas resignativ), und er bleibt für die anderen Interpreten zentraler Blickpunkt.

Ich muss mich unterbrechen und die Leser zu einem eigenen Urteil ermuntern, nein, zu keinem Urteil. Beachten Sie doch einfach, ob es irgendwo eine Geste zuviel, eine aufdringliche Einstellung, eine rein theatralische Wirkung gibt. Selbst dort, wo die herrscherliche Geste üblich ist; mir gefällt es, dass der Dirigent weder den Animateur noch den großen Visionär gibt. So wie er – möchte man selbst zuhören können.

Bis zum 27. März 2016 gibt es Gelegenheit, die ganze Aufführung, die sich mit Recht ein Gesamtkunstwerk nennen dürfte, nachzuerleben: ich werde noch mehrmals eintauchen und überprüfen, ob meine nächtliche Begeisterung mich nicht über die Realität hinweggetragen hat. Ja, ich gebe zu: ich habe nicht nur gesessen und geschaut, sondern auch eine halbe Flasche Rosado (Salamandra) dabei getrunken. Das ist nicht viel auf zwei Stunden verteilt, und ich bereue nichts! Die Situation des Zuhörers ist ein Teil der Aufführung.

Johannes Screenshot 2016-03-21 12.18.18 HIER klicken!

Auch die Ankündigung ist nicht reißerisch:

Bachs Johannes-Passion in einer Licht- und Rauminszenierung, die über eine herkömmliche Konzertaufzeichnung hinausgeht. Chor, Orchester und Solisten musizieren und agieren im Mittelschiff der gotischen St. Lorenzkirche Nürnberg.
Die neue Aufstellung unterstreicht die dramatischen Aspekte von Bachs packend-expressiver Passionsdarstellung. Für hohe musikalische Qualität sorgen ein exzellentes Solistenensemble, der Chor des Bayerischen Rundfunks und das Ensemble Concerto Köln unter der Leitung von Peter Dijkstra.

Der Name der Regisseurin sollte noch hervorgehoben werden: Elisabeth Malzer. Nicht zu vergessen – die szenische Gestaltung: Folkert Uhde.

P.S. August 2017

Was ich damals nicht wusste: die Produktion ist auch auf DVD herausgekommen, und sie stand am 16. Mai auf der Bestenliste (Vierteljahrespreis) beim Preis der Deutschen Schallplattenkritik, Näheres HIER.

P.S. April 2019

Anders liegt der Fall bei der Johannespassion unter Simon Rattle, Regie Peter Sellars. Vielzuviel äußerliches Drama. Aufdringlich z.B. die Gesten des Chores in Chorälen und Turba-Auftritten. Laienspiel.

Vom Kitsch

Gesunder Menschenverstand und Alltagsästhetik

Das begegnet einem jeden Tag: Jemand sagt aus tiefstem Herzen, was ihm gefällt, und man kann ihm nicht recht beipflichten. Das hat mit Ästhetik nichts zu tun. Sich wohlfühlen, in der Sonne liegen, etwas sagen, was auf der Hand liegt und ein großes Wesen darum machen, dass es so ist wie es ist. Ja, kannst du denn nicht dankbar sein? Willst du etwa behaupten, Monet hat nur Kitsch gemalt? Usw., usw., es gibt 100 Möglichkeiten, jemandem zum Vorwurf zu machen, dass er nicht in den Chor einstimmt. Es verunsichert die anderen. Ja, und muss man sie nicht in ihren Sorgen ernstnehmen? Sie da abholen, wo sie stehen? Natürlich, aber ja doch. Deshalb darf man auch kein „Dislike“ drücken, wo über Kunst abgestimmt wird und viel gefühlt wird… Übrigens auch über Nicht-Kunst. Der Sonnenuntergang ist immer noch ein Thema. („Das würde man doch keinem Maler abnehmen!“)

Man fällt unentwegt Werturteile. Die Frage ist: Muss ich eigentlich Werturteile fällen? Was ich mir an die Wand hänge und zur steten Erinnerung im Blickfeld behalten will, – muss das etwa Kunstkriterien genügen? (Nein, – aber Geschmackskriterien?) Die Musik, die zufällig läuft und die ich nicht abstelle, – muss sie wertvoll sein? (Mir sagte mal jemand, er werde durch schlechte Musik kontaminiert.) Fest steht: sobald ich Musik höre (oder Ähnliches, z.B. Vogelgesang, entfernte Stimmen oder Rufe), muss ich den Ablauf Ton für Ton beobachten oder sogar analysieren. Auch wenn ich es auf Anhieb banal oder überflüssig finde. Das ist eine alte Gewohnheit. Vielleicht seit der Zeit, als ich ein paar Jahre lang arabische Musik aufgeschrieben habe, die erst durch diese genaue Beobachtung (in der Wiederholung) ihre Schönheit oder Besonderheit enthüllte. Auch manche klassische Musik hat sich so erschlossen, durch ständige Wiederholung. Erst in der Neuen Musik hat sich dieses Mittel zuweilen als wirkungslos erwiesen. (Es funktionierte „tadellos“ bis zu Schönbergs Monodram Erwartung.)

Eine sehr interessante Erfahrung, wenn sich nach einem anfänglichen Wohlgefallen – schließlich Überdruss einstellt. Auch angesichts bestimmter Stimmungen, für die ich ursprünglich empfänglich war, z.B. beim langsamen Satz des Concierto d’Aranjuez, – oder bei der oben auf dieser Seite zugänglichen Pavane von Fauré, während ich die von Ravel sozusagen künstlich vor Abnutzung schütze (sie soll kostbar bleiben: nur Klavier! Orchesterfassung meiden!). Was ist mit Bildern im Hotel, mit denen ich mich abgebe, obwohl ich sie nicht schön finde. Dekorativ? Geschmacklich neutral? Oder sogar lügnerisch? Was erwarte ich denn? (Blumen gehen immer???) Brauche ich etwa, wenn ich mich in der Nähe des Meeres befinde, auch noch Meeresbilder? Aber welche denn? Lieber kahle Wände?  Ein Beispiel aus der Realität:

Kunstbild b

Es irritiert: manchmal sieht es so plastisch aus, als sei es ein Relief. Oder eine Nische in der Wand mit den dargestellten Gegenständen („in echt“). Ich trete näher heran und erkenne sogar die Wiedergabe von Lackbrüchen, als handele es sich um einen Jahrhunderte alten Niederländer. Zur Erläuterung liest man: MARCHÉ aux FLEURS. Ja, genau. Und den Namen: Kathryn White.

Kunstbild a

Man findet sie unter der Adresse http://www.kathrynwhite.com/. Man kann Originale kaufen. Und die Dinge gibt es wirklich. Und das Konzept.

The Art of Kathryn White fuses contemporary materials and techniques with traditional methods. Her versatility allows her to paint in both oils and watercolors and in the centuries-old medium of egg tempera.

All dies hat mit Ästhetik wenig zu tun. So wenig wie die Musik, die ungebeten an mein Ohr dringt. Wenn ich ein Buch über Ästhetik studiere, habe ich alle alltäglichen Irritationen ausgeschlossen. So wie Hegel den „gesunden Menschenverstand“, den er durchaus kennt, aus seinen Überlegungen über Geist oder Bewusstsein ausschließt. Wäre es aber auch möglich, dass ich mich auf einer abstrakten Ebene recht klug verhalte, auf der Ebene des gesunden Menschenverstandes aber tölpelhaft?

Wie nun, wenn die meisten Leute, die so tun, als hätten sie Hegel längst in der Tasche, wirklich nur so tun, als hätten sie…? Und die andern schweigen, weil sie wissen, dass sie es nicht beurteilen können?

Der ungeduldige Leser wird vielleicht fragen: Bitte zur Sache! Ist es nun Kitsch? Oder nicht? Was ist mit dem Sonnenuntergang, dem gestirnten Himmel über dir, dem Blick in die weite Landschaft, was ist mit dem abstrakten Denken, – was mit der Pavane von Fauré, der feinsinnigen Darstellung bloß dekorativer Gegenstände?

Ich erfahre, dass jemand ein schwieriges Buch „Zeile für Zeile“ gelesen hat, und er kommt zu einem Urteil, das mich vermuten lässt, er hat nur nach den belastenden Indizien gesucht, die ihn sagen lassen können: dein Buch ist schlechte Theologie. Du stehst auf der anderen Seite. Und weg mit dem Buch, in den Orkus damit!

Wie sagt Hegel?

Von allen Wissenschaften, Künsten, Geschicklichkeiten, Handwerken gilt die Überzeugung, daß, um sie zu besitzen, eine vielfache Bemühung des Erlernens und Übens derselben nötig ist. In Ansehung der Philosophie dagegen scheint jetzt das Vorurteil zu herrschen, daß, wenn zwar jeder Augen und Finger hat, und wenn er Leder und Werkzeug bekommt, er darum nicht imstande sei, Schuhe zu machen, – jeder doch unmittelbar zu philosophieren und die Philosophie zu beurteilen verstehe, weil er den Maßstab an seiner natürlichen Vernunft dazu besitze. – Es scheint gerade in den Mangel von Kenntnissen und von Studium der Besitz der Philosophie gesetzt zu werden und diese da aufzuhören, wo jene anfangen.

Wir befinden uns noch in der Vorrede des Werkes, an das ich mich zu Anfang dieses Artikels dunkel erinnerte, – was mir noch deutlicher wird im folgenden Satz über das „natürliche Philosophieren“, das man ja auch auf den Schild heben könnte (oder vielmehr: gerade nicht).

Dagegen im ruhigeren Bette des gesunden Menschenverstandes fortfließend, gibt das natürliche Philosophieren eine Rhetorik trivialer Wahrheiten zum besten. Wird ihm die Unbedeutendheit derselben vorgehalten, so versichert es dagegen, daß der Sinn und die Erfüllung in seinem Herzen vorhanden sei, und auch so bei anderen sein müsse, indem es überhaupt mit der Unschuld des Herzens und der Reinheit des Gewissens u. dgl. letzte Dinge gesagt zu haben scheint, wogegen weder Einrede stattfinde, noch etwas weiteres gefordert werden könne.

(…)

Indem jener sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel, beruft, ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muß erklären, daß er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle; – mit anderen Worten, er tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen. Denn die Natur dieser ist, auf die Übereinkunft mit anderen zu dringen, und ihre Existenz nur in der zustande gebrachten Gemeinsamkeit der Bewußtsein[e]. Das Widermenschliche, das Tierische besteht darin, im Gefühle stehen zu bleiben und nur durch dieses sich mitteilen zu können.

Quelle Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes (Herausgegeben von Georg Lasson) Zweite Auflage Leipzig 1921 (Vorrede Seite 46f)

Der geduldige Leser wird den Bezug auf das Tierische, wenn es um seine Gefühle geht, sehr übel nehmen und, wenn er überhaupt die Auseinandersetzung fortzuführen bereit ist, entgegnen: Das kann dein Ernst nicht sein. Bleib doch bitte bei der Sache: Was ist denn nun konkret mit dem Kitsch?

(Fortsetzung folgt)