Kritik an Bachs Formgefühl?
Es ist nicht ganz ernst gemeint, aber bei den Exegeten (Keller, Dürr) schimmert es mehr oder weniger deutlich durch: Bachs Riesenwerk hätte einen gewaltigeren Abschluss verdient. Der eine überlegt, ob die vorhergehende Fuge in b-moll nicht ursprünglich in h-moll gestanden haben könnte , und dann fehlte dem Meister an vorletzter Stelle ein respektable Fuge in b-moll, weshalb er die in h lieber nach b transponierte und – einen Lückenbüßer in h-moll an den Schluss setzte. Sehr unwahrscheinlich. Der andere schaut zum Vergleich auf das Ende von Band I und meint:
Die Schlichtheit dieser Schlussfuge eines 24 Satzpaare umfassenden Großwerks gibt zu denken, zumal sie in auffallendem Gegensatz zum eindrucksvollen Abschluß des WK I steht. Doch gilt es zunächst einmal zu berücksichtigen, daß unser Ideal einer sich bis zum strahlenden Schluß hin steigernden Komposition im wesentlichen der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts entstammt, das uns, angehend von Beethovens 5. Sinfonie, viele Generationen von Monumentalwerken beschert hat, die dem Hörer das Motto „Durch Nacht zum Licht“ als Leitspruch eingeprägt haben.
(Alfred Dürr Seite 437)
Eigentlich gibt es beide Möglichkeiten: man könnte sagen, der Abschluss des Unternehmens sollte ein Höhepunkt sein (aber warum dann nach einem chromatischen Aufstieg von C bis H ausgerechnet auf diesem H stehenbleiben) oder aber: der Steigerungsgedanke spielt tatsächlich überhaupt keine Rolle, es handelt sich um eine Sammlung, die nicht als streng konstruierte Satzfolge Wirkung tun muss. Es darf eben auch leichtfüßige Fugen geben, selbst in der zuweilen prekären Tonart h-moll. Also, – worüber noch diskutieren?
Ich liebe diese Fuge! Und zwar, wie man oben liks in den Noten sieht – seit September 1988, ich habe sie 1998 regelgerecht wiederholt, 2008 leider versäumt, aber jetzt im Zuge des Projektes EE2018 quasi aus Versehen gerade an den Anfang meiner Arbeit gestellt. Und anstatt einer Fugen-Analyse hebe ich jetzt nur noch hervor, – wo mir das Herz aufgeht.
Es beginnt in Takt 29, verstärkt sich in der Sequenz der Takte 32 bis 35, bei Wiedereinsatz des Themas in D-dur, bei den fröhlichen Oktavsprüngen im Diskant (zu Beginn der Fuge schienen sie noch „stilwidrig“), vollends im letzten Takt dieser Seite (dort wo der Name „Brahms“ steht) erfasst mich unweigerlich Rührung, wie bei einer Kindheitserinnerung. Alles unzulässig, ich weiß.
Unnötig zu erwähnen, dass die Beschwingtheit des ganzen Satzes mich veranlasst, die Triller der Mittelstimme ab Takt 18ff unablässig zu üben, bis sie spielerisch verspielt gelingen. Alles wird leicht… Aber ich denke auch an den Anfangschor des Weihnachtsoratoriums (Trillerthema). Vgl. dies mit dem Bass der Fuge oben ab Takt 9. Oder im folgenden nach Dürr (Seite 434). Dieses Beispiel klärt auch, wieso die Trillergeschichte, die man hier so geduldig üben muss, nach Takt 25 im Rest der Fuge überhaupt nicht mehr vorkommt: dieses kontrapunktische Motiv bzw. „Kontrasubjekt 1“ wird durch „Kontrasubjekt 2“ ersetzt! Es hilft im folgenden auch, die etwas seltsamen Oktavsprünge des Themas zu verdecken… Auch Czaczkes beschäftigt sich mit diesem Detail, aber – wie immer und in jeder Hinsicht – erschöpfend (s.u.).
Weihnachtsoratorium Chor 1Dürr zu „Kontrasubjekten“ der Fuge
Man glaube nicht, dass der Gelbstich der alten Kroll-Ausgabe abtörnend wirkt: die beiden Bach-Bände lagen mit anderen Noten 1960 zur freien Bedienung an der Garderobe der Berliner Hochschule (Fasanenstraße), – eine hoch motivierte Zeit, die ich nach Köln zu übertragen suchte. Und auch heute kehrt sie jederzeit zurück.
(Fortsetzung folgt, siehe z.B. hier)
EE2018, 4 Sein, 5 Wirklichkeit, 6 Nichts, 7 Begriff
A propos: Haben Sie einen Begriff von dem, was eine Fuge ist? Oder hören Sie einfach, wie sie klingend vorbeizieht?
Ohne Begriffe könnten wir uns keine Urteile bilden, wir könnten weder Dinge wiedererkennen, noch sinnvoll miteinander kommunizieren. Begriffe spielen eine zentrale Rolle in der Beziehung zwischen unserem Geist und der Welt. Sie ermöglichen es uns, Gegenstände der Welt zu erfassen, und zwar über den Einzelfall hinaus.
Thomas Vašek (a.a.O. Seite 29)
Angenommen, die Welt besteht aus Musik. Kann ich überhaupt ein Thema erfassen? Auch seine Wiederkehr in einer anderen Stimme? Und überall im Kontinuum des komplexen Musikverlaufs? Das wäre das Mindeste. (Aber das soll keine Drohung sein: – es ist ja leicht…)
Aber ist es auch wichtig? – Nur wenn einem die Musik auch eine Welt bedeutet.
Ich könnte am ehesten ernsthaft antworten, wenn mich ein Kind fragen würde: Warum spielst du das immer? Was hast du denn davon? Wird dir das nicht langweilig?
Wenn du mit deinen Freunden (Freundinnen) spielst, Fußball oder Volleyball, wird dir das nicht langweilig? – Nöö, nie, das macht ja Spaß! – Eben! – Ja, aber du spielst ja ganz alleine. – Nein, ich spiele zu dritt. – He? – Drei Stimmen! Das ist wie drei Menschen. Und ich bin sozusagen der Schiedsrichter. Die Regeln sind sind sehr wichtig. Wenn es gut läuft, sind alle glücklich, ohne zu fragen, warum! Und wenn ich mich nachher ausruhe, geht das Spiel in meinem Kopfe immer noch weiter oder sogar ganz genau so, wie es war, und ich bin immer noch glücklich. – Aber wer hat denn dann gewonnen? – Der Schiedsrichter.