Eine Inszenierung
Natürlich ist der Blog-Titel eine kleine Provokation, ich glaube aber, dass sich das „Evangelium“ selbst so versteht. Jedenfalls behaupten rhetorisch begabte Prediger dies auf der Kanzel immer wieder. Ein Ärgernis, sagt man, ein Skandalon. Andererseits wird auch gern gesagt, dass die Aufführung einer Passion kein Theaterstück sei, während manche Bach-Enthusiasten beteuern, ihr Idol hätte der größte Opern-Komponist aller Zeiten werden können. Zugegeben: ich selbst schreibe dies auch nicht als „Gläubiger“ und bedauere doch sehr, dass die heutige Jugend – von den mitteljungen Erwachsenen zu schweigen – nicht mehr imstande ist, eine Bach-Passion mit Ergriffenheit zu hören. Und zu sehen! Während ich bis lange nach Mitternacht sitze und mich nicht losreißen kann. (Keine Kunst: Ich habe 100 mal in meinem Leben mitgespielt.) Zuerst habe ich gar nicht bemerkt, dass es eine „Inszenierung“ ist, so sparsam sind ihre Mittel. Zunächst wundert einen vielleicht nur die bunte, wenn auch ordentliche Kleidung der Chorsänger… aha … sie sollen Leute wie ich und du repräsentieren, keine Festspielbesucher. Dann sehe ich Bewegungen der Sänger bzw. der Sängerin, „Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten“, es ist nicht lächerlich, man erlebt nur, wie sie die Standorte wechselt. Oder der Chor: da erheben sich Einzelgruppen von ihren Sitzen, mit ihrem jeweiligen Ruf „Lasst ihn kreuzigen!“, – zum Glück noch nicht ganz wie eine demonstrierende Masse. Am tiefsten prägt sich ein, wie der Sänger Tareq Nazmi sich verhält, wenn er schweigt: er hört aufmerksam und freundlich zu. Das soll nicht heißen, dass er weniger bemerkenswert singt, im Gegenteil, gerade durch seine darüber hinausreichende geistige Präsenz steigert sich auch die Wirkung der zurückgenommen-ausdrucksstark gesungenen Christus-Worte, jeder Ton triff ins Herz. Und die Präsenz hält an, wenn er „gestorben“ ist: die Gambe hebt an mit „Es ist vollbracht“, er aber verharrt an der Seite sitzend, vornübergebeugt (nicht so pathetisch wie Rodins Denker, eher sanft, vielleicht etwas resignativ), und er bleibt für die anderen Interpreten zentraler Blickpunkt.
Ich muss mich unterbrechen und die Leser zu einem eigenen Urteil ermuntern, nein, zu keinem Urteil. Beachten Sie doch einfach, ob es irgendwo eine Geste zuviel, eine aufdringliche Einstellung, eine rein theatralische Wirkung gibt. Selbst dort, wo die herrscherliche Geste üblich ist; mir gefällt es, dass der Dirigent weder den Animateur noch den großen Visionär gibt. So wie er – möchte man selbst zuhören können.
Bis zum 27. März 2016 gibt es Gelegenheit, die ganze Aufführung, die sich mit Recht ein Gesamtkunstwerk nennen dürfte, nachzuerleben: ich werde noch mehrmals eintauchen und überprüfen, ob meine nächtliche Begeisterung mich nicht über die Realität hinweggetragen hat. Ja, ich gebe zu: ich habe nicht nur gesessen und geschaut, sondern auch eine halbe Flasche Rosado (Salamandra) dabei getrunken. Das ist nicht viel auf zwei Stunden verteilt, und ich bereue nichts! Die Situation des Zuhörers ist ein Teil der Aufführung.
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Auch die Ankündigung ist nicht reißerisch:
Bachs Johannes-Passion in einer Licht- und Rauminszenierung, die über eine herkömmliche Konzertaufzeichnung hinausgeht. Chor, Orchester und Solisten musizieren und agieren im Mittelschiff der gotischen St. Lorenzkirche Nürnberg.
Die neue Aufstellung unterstreicht die dramatischen Aspekte von Bachs packend-expressiver Passionsdarstellung. Für hohe musikalische Qualität sorgen ein exzellentes Solistenensemble, der Chor des Bayerischen Rundfunks und das Ensemble Concerto Köln unter der Leitung von Peter Dijkstra.
Der Name der Regisseurin sollte noch hervorgehoben werden: Elisabeth Malzer. Nicht zu vergessen – die szenische Gestaltung: Folkert Uhde.
P.S. August 2017
Was ich damals nicht wusste: die Produktion ist auch auf DVD herausgekommen, und sie stand am 16. Mai auf der Bestenliste (Vierteljahrespreis) beim Preis der Deutschen Schallplattenkritik, Näheres HIER.
P.S. April 2019
Anders liegt der Fall bei der Johannespassion unter Simon Rattle, Regie Peter Sellars. Vielzuviel äußerliches Drama. Aufdringlich z.B. die Gesten des Chores in Chorälen und Turba-Auftritten. Laienspiel.