Ein Beispiel
(in Arbeit)
Nach: The Making of Melody (Victor Zuckerkandl „The Sense of Music“ S. 38)
Die erste Bewegung, aufsteigend und absteigend, „weg-von“ und „zurück-zu“ Ton d, lässt den Ton als „1“ erscheinen. Die Wiederholung der Bewegung bekräftigt diesen Ton als Zentrum.
(Im folgenden Beispiel zeigt A, wovon gerade die Rede ist. B ist eine Vorwegnahme, damit von vornherein klar ist, wie die Töne beziffert sein werden.)
Was ist das nächste?
Der fünfte Ton (Ton a), „5“: der Gegen-Pol. Sobald er auftaucht, spüren wir, dass ihm eine potentielle Richtung innewohnt und zwar nach abwärts, zum Ausgangston (dem Ton d), die Tendenz dorthin zurückzukehren.
Die Melodie erfüllt diesen Wunsch:
(absteigende Tonreihe von a nach e).
Jedoch nicht die ganze Strecke. Gerade dort, wo die Spannung am intensivsten ist, wo der Wille eine weitere Bewegung zu machen am deutlichsten ausgesprochen ist – auf dem Ton „2“ (Ton e) –, kommt die Bewegung zu einem Halt. Anwachsende Spannung. Was wird jetzt geschehen?
Was hier geschieht, ist das gerade Gegenteil dessen, was der letzte Ton zu erreichen beabsichtigte. Die Bewegung kehrt sich um, zieht weg von „1“, geht aufwärts, über „3“ und „4“, um wieder „5“ zu erreichen:
Der Gang ist jetzt langsamer als beim Abwärtsgang, die Bewegung scheint neu Atem zu holen vor jedem Schritt, – e/f, f /g, g/a – wir fühlen beinahe, wie sie gegen den Druck der wirkenden Kraft arbeitet.
Mit dem Erreichen des Tones „5“ ist der Gegenpol der wirkenden Kraft erreicht, die Bewegung bestätigt einmal mehr den Willen dieses Tones, und der zweite Versuch des Abstiegs gelingt: (a) – a g f e d. Der Weg ist vollendet, das Ziel erreicht.
Die ganze zweite Hälfte dieser Melodie, von dem Moment, als die Bewegung auf „2“ zum Halt kam, haben wir gewartet auf die Erfüllung, die durch diesen Ton in Aussicht gestellt wurde. Ihre Spannung liegt allem zugrunde, bindet alles zusammen, was folgt, und ist erst aufgelöst am Ende, mit dem Eintritt von „1“.
Der zweite Teil des Chorals ist im Ganzen eine Wiederholung des ersten, aber er beginnt nicht wie der erste. Da ist keine Notwendigkeit für die Wiederholung einer kurzen Phrase, deren Hauptfunktion es war, den Ton „1“ zu etablieren. Gleichwohl sollte der Beginn die Repetition einer kurzen Phrase sein. Wir beginnen also mit der zweiten Phrase a / g f e und wiederholen sie.
Das bedeutet, dass wir jetzt zwei erfolglose Versuche haben; zweimal wird die Bewegung auf „2“ gestoppt. Als Konsequenz ist die Spannung auf diesem Ton sehr erhöht. Was folgt, ist daher mehr als eine bloße Repetition der zweiten Hälfte des ersten Teils: die aufsteigende Phrase wirkt gegen eine (noch) stärkere Kraft, trägt (noch) größeres Gewicht.
Am Ende bringt die Wiederkehr der „1“ dementsprechend eine noch emphatischere Auflösung, macht einen noch stärkeren Abschluss als an der Mittelmarke. Zuckerkandl bringt diese sich wandelnden Kräfteverhältnisse in seinen Bögen und Linien über den beiden Melodiezeilen deutlich zum Ausdruck:
Wir sehen hier zwei Dinge. Erstens, die Aktion der tonalen Kräfte organisiert die Melodie, hält sie zusammen, gibt ihr ihre Bedeutung. Zweitens, die Töne sind in ihren Bewegungen nicht einfach den wirkenden Kräften unterworfen, wie unbelebte Körper der Wirkung der Schwerkraft unterworfen sind; sie sind frei sich zu bewegen mit den wirkenden Kräften oder gegen sie, so wie der belebte Körper des Tänzers frei ist, sich mit der Schwerkraft oder gegen sie zu bewegen.
Die tonalen Kräfte bestimmen nicht die tonale Bewegung, aber sie bestimmen in der Tat eine andere Sache, und dies im striktesten Sinn: die musikalische Bedeutung dieser Bewegung. In unserem Choral war die Bewegung jederzeit frei voranzuschreiten von Ton „2“ zu Ton „1“ oder zu jedem anderen gewählten Ton; aber sobald sie tatsächlich den Schritt „2“ – „1“ wählte, konnte nichts in der Welt dieser Bewegung eine andere Bedeutung geben als „in Übereinstimmung mit der wirkenden Kraft, das Zentrum erreichend, und uns darin nichts anderes hören machen als Bewegung von einem unbalancierten zu einem perfekten Status. Genau so strikt und unmissverständlich wird die Bedeutung jeder anderen Bewegung determiniert durch die vorherrschenden dynamischen ( „kräftemäßigen“, – betrifft nicht Lautstärke!) Situationen.
(Mendelssohn sagte einmal, dass die tonale Sprache zu präzise ist, um in Worte übersetzt zu werden. Wir sehen die Wahrheit dieses Statements. Der Schriftsteller hat einen gewissen Spielraum von Freiheit, die Bedeutung seines Materials, der Worte, zu verändern; ein Komponist hat ihn nicht.)
Die Kräfte, die wir in Aktion beobachtet haben, die verantwortlich sind für den Verlauf dieser einfachen Melodie (einer wunderbaren, herausragenden Melodie in all ihrer Einfachheit), sind dieselben, die den komplexesten musikalischen Organismus formen und zusammenhalten. In dieser Hinsicht ist der Unterschied zwischen einem Volkslied und einer Beethoven-Sinfonie nur ein Gradunterschied. Das Anwachsen der Komplexität mag vergleichbar sein dem von der Arithmetik der Grundschule zur Differentialrechnung; das Prinzip bleibt das gleiche.
(Dieser Text bzw. diese freie Übertragung eines Original-Textes ist die Gebrauchsversion, hergestellt für Folkwang-Vorlesungen 2011. Im Buch von Victor Zuckerkandl „The Sense of Music“ sieht es folgendermaßen aus:)