Archiv der Kategorie: Musik

Immer wieder Mozart

Mozart A-dur Mozart A-dur alt

Zwei Ausgaben der Mozart-Sonaten: die eine im Henle Verlag, München 1977, die andere im Peters Verlag Leipzig, aus der Übe-Epoche meines Vaters, sagen wir ca.1920.

Mir scheint der für die Interpretation entscheidende Punkt in der Ausführung der Sforzati zu liegen. Sie stehen im Notentext, und wenn er nicht vollständig im Original vorliegt, so ist es doch kaum denkbar, dass sie der Willkür eines Bearbeiters zu verdanken sind. Aber wie erklären wir uns (oder dem Schüler) den Akzent auf dem schwachen Taktteil in Takt 4 und in Takt 7 ? Jeder rühmt das Thema, aber niemand sagt uns, was diese scheinbar sinnlose Hervorhebung zu bedeuten hat. Es ist leicht gesagt, dass die eigentliche Betonung auf dem darauf folgenden Akkord liegt – hervorgehoben gerade durch das plötzliche Piano. Nach der „voreiligen“ Betonung am „falschen“ Ort.

Gibt vielleicht das dreimalige Sforzato im zweiten Teil, in Takt 11 und 12, rückwirkend Aufschluss?

Mozart Sforzato

Angesichts der Weichheit des Themas in den ersten Takten ist die Hartnäckigkeit in diesen Takten erstaunlich, die Insistenz auf dem Melodieton e“ und die Rückkehr zur weiblichen Endung der ersten Zeile, nebst Wiederkehr (Reprise) des Anfangsmotivs; die Rückkehr mittels eines starken Mittels, der Zwischendominante in Gestalt des Leitetones dis‘. Was war geschehen? Zum ersten Mal war am Anfang des zweiten Teiles die Subdominante aufgetaucht, der D-dur-Akkord in Takt 9. In seinem Gefolge zugleich die Vorwegnahme des abschließenden (definitiven) Aufstiegs der Melodie zum hohen a“ in Takt 17.

Mozart A-dur Detail a  Takt 17f:  Mozart A-dur Detail bb

Man vergleiche einmal (es weihnachtet gerade) das vielgerühmte Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ mit der Mozart-Melodie, um den Riesen-Abstand zu ermessen, besonders zum schwächlich wiederholenden, quasi aufzählenden Charakter des Liedes, der im Fortgang zu einer bedeutender Überbietungsemphase zwingt: Unmittelbar nach der wiederum repetierenden Melodiephrase „nur das traute hochheilige Paar / holder Knabe im lockigen Haar“, die von ferne an die Mozart-Takte 9-11 erinnern.

Die folgende Stelle in der Variation II

Mozart A-dur crescendo

entspricht genau der oben schon wiedergegebenen Stelle des Themas:

Mozart Sforzato

Und so wird der latente Sinn der sforzato-Takte offenbar. Als eine dynamische Steigerung, deren Ziel als piano (statt forte) völlig zurückgenommen wird: es ist zu delikat, um damit herauszuplatzen: wie ein Geheimnis, das man versehentlich beinahe laut ausgeplaudert hätte. Was ist das Geheimnis? Die Rückkehr zum unbegreiflichen Grazioso-Thema.

Ein entscheidender Punkt bei der Charakteristik dieses Themas und der ganzen 18taktigen Ausformung: die Quinte des Grundtons, der „schwebende“ Ton E wird unentwegt angeschlagen – die einzigen Akkordanschläge auf denen er vollständig fehlt, sind die Sforzato-Anschläge auf dem schwachen Taktteil in Takt 7 und Takt 15, sowie in Takt 17 – und in Takt 18, hier ausgerechnet auf dem Schlussakkord (!). Bemerkenswert, dass der Ton in Takt 4 (an der Stelle, wo er an sich homolog zu den anderen Sforzato-Akkorden des Satzes fehlen dürfte) doch „noch“ präsent bleibt in Gestalt des Vorhaltes. Der aufmerksame Notenlesen wird allerdings auch bemerkt haben, dass ich zwei Stellen übergangen habe, an denen der Ton E ebenfalls fehlt, nämlich im Subdominant-Einsatz Takt Takt 5 und 6, und wie zum Ausgleich folgen in Takt 7 und 8 die drei Sforzati auf dem insistierenden E der Oberstimme. (Für mich ist der Ton E in diesem Thema ein Glockenton.)

Sachdienliche Ausflüge:

Neues vom Henle-Verlag (in den Noten zu vermerken!) Hier
und HIER

Ich kann nicht sagen, dass ich die klingende Musik in diesen Beispielen freudig akzeptiere. Gulda benutzt zweifellos eine alte Ausgabe und ebnet den Unterschied zwischen Sforzato und Piano ein. Ich finde nicht, dass man sich seine Auffassung zueigen machen darf (obwohl ich eine unvergessliche Wiedergabe der Sonate von ihm im WDR Sendesaal miterlebt habe). Andererseits möchte ich auch die vorgeschlagenen neuen Lesarten im folgenden „Henle-Gespräch“ nicht durchweg akzeptieren.*

*plausibel in der Variation 5 (Takt 5 und 6), auch im Menuett (Takt 3 und 33), inakzeptabel aber in Takt 23 ff (muss meines Erachtens a-moll bleiben bis zur Rückleitung nach A-dur in Takt 30).

Musik in politischen Visionen

Neues für meine Sammlung

Ich glaube, es war in den 80er Jahren, als ich mal begonnen habe, alle Fotos, Verse und Karikaturen zu sammeln, in denen Geigenspieler oder Geigen eine Rolle spielten. Es durfte auch eine Viola sein, zumal in der Wendezeit, als durch den ehemaligen Bratschisten Lothar de Maizière reiche Ernte winkte. Mich interessierten in anderem Zusammenhang aber auch Sujets, auf denen zu erkennen war, dass die musizierenden Menschen gar keine Ahnung hatten von den Instrumenten, die sie in Händen hielten. Besonders attraktive Beispiele gab es aus der Modebranche, etwa die in ahnungslosen Händen einer Ohrschmuckträgerin. Ich habe das Sammeln aufgegeben, erst als ich jetzt eine Geige im Handelsblatt sah, war ich wieder fokussiert. Es wird um die Stradivari-Preise gehen, – so mein erster Gedanke. Es ging jedoch wieder einmal um die Redensart, wer denn „die erste Geige spielt“, – fast so beliebt wie die Wendung, wer wohl „die Kuh vom Eis holen“ wird.

Geigenspiel in Politik

Die Kanzlerin besitzt also nur eine erste Geige, vielleicht die ihrer frühen Kindheit, aber ein anderer darf darauf ein Werk interpretieren, das allerdings von ihr dirigiert wird. Ob es ihr bekannt ist, steht nicht zur Debatte.

Und während alle Welt selbstkomponierte Lieder singt, bewegt der Finanzminister nur die Lippen zu einer Melodie, die von anderen geschaffen wurde, vielleicht sogar mit Text. Für die bloße Melodie würde allerdings ein halbgeöffneter Mund genügen, ohne Lippeneinsatz. – Der Schöpfer dieser visionären Bilderwelt ist der Herausgeber des Handelsblattes selbst, Gabor Steingart („Morning Briefing“ 19.12.2017).

Willkommener Anlass für einen Blick in meine Geigen-Sammlung:

Mode Geige Ohrenschmuck

Der Bogen als Säge

Maizière Säge 1 Peter Muzeniek SZ 24.Juli 1990

Maizière Säge 2Gabor Benedek  „Eulenspiegel“ Nr.19/1990

Vielarmiger indischer Geigengott

Doppel Geiger (Foto: „Selbstauslöser“ 1974)

(Reinhard Goebel, der 1990 tatsächlich von der einen Seite auf die andere umsattelte.)

Zugabe 21.12.2017

Soeben wurde mir bekannt, dass Reinhard Goebel in seiner Funktion als Dirigent eines vielköpfigen Ensembles an meinem Geburtstag ein Telemann-Konzert in Berlin geleitet hat. Da ich zu dieser Zeit auf der holländischen Insel Texel weilte, konnte ich nicht eruieren, ob es mir gewidmet war oder vielmehr dem Komponisten zum 250. Todesjahr. Es klingt auf jeden Fall so lebendig, als gehöre es in unsere Zeit!

Heute: Penthesilea

Bonn HIER

Lesen HIER

Wikipedia HIER

Eine Riesenanregung! Erstens die musikalische Qualität der Aufführung, zweitens der faszinierende Komponist Othmar Schoeck, drittens die erneute Kleist-Irritation, ein so unblutiger Verlauf, nichts als drei, vier Pistolenschüsse, so wenig von seiner Sprache, was wollte er überhaupt  s a g e n ?

Kein Schock. Ein sympathisches Gespräch. Wie üblich der Eindruck: man hätte das Programmheft  v o r h e r im Internet lesen müssen (können). Überhaupt: „hätte“. Man hätte die Aufführung zweimal sehen müssen. Mindestens. (Es war aber die letzte Aufführung.)

Penthesilea Gespräch 1 Penthesilea Gespräch 2 Penthesilea Gespräch 3Penthesilea Gespräch 4 + Foto Foto: Thilo Beu

Quelle: Theater Bonn Programmheft Penthesilea Redaktion: Bettina Barta

SCHOECK Nachholbedarf – z.B. das Violinkonzert, gespielt von Stefi Geyer, dieselbe Geigerin die ihren Verehrer Bartók (Deux Portraits) einst abgewiesen hatte. Stand 1947.

Schoeck CD Violinkonzert Horn

Schoeck CD soielt Schoeck

Schoeck CD Lieder

Die blutige Szene in meinem Kleist-Band (um 1970):

Kleist Szene 

Zur Kleist-Interpetation: mir scheint, was in aller Kürze das beste ist, was dazu geschrieben worden ist, steht bei Rüdiger Safranski in dem Buch: Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?

Kein anderer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts hat so lustvoll den Akt des Tötens dargestellt wie Kleist. Das gilt für die Schlußszene der „Penthesilea“, wo die Amazonenkönigin den geliebten Achill, nachdem sie ihn im Kampf getötet hat, mit den Zähnen zerfleischt. Das gilt für die Schilderung des Massakers im „Erdbeben von Chile“: (…).

In den Imaginationen seiner Dichtung hat Kleist die Utopien der Versöhnung von Innen und Außen gestaltet, wie etwa im „Käthchen von Heilbronn“ oder im „Amphitryon“; er hat nicht nur, wie in der „Marquise von O.“, die „schöne Anstrengung“ beschrieben, die einen mit sich selbst bekannt macht und Kraft zur sanften Selbstbehauptung gegen eine ganz feindliche und von aberwitzigen Zufällen beherrschten Welt gibt; er hat nicht nur der schwärmerischen Todessehnsucht Ausdruck gegeben – er hat auch seinen Tötungsphantasien, die aus der Verfeindung nicht nur mit dieser oder jener Wirklichkeit, sondern am Ende aus der Verfeindung mit der Wirklichkeit überhaupt herrühren. Die Wirklichkeit gibt ihm keinen Halt mehr, und wenn er sich nicht in die Gestalten seiner Einbildungskraft hineinlegt, so gähnt ihn draußen und drinnen eine entsetzliche Leere an.

Wenige Wochen vor seinem Tode schreibt er an Marie von Kleist: „So geschäftig dem weißen Papier gegenüber meine Einbildung ist, und so bestimmt im Umriß und Farbe die Gestalten sind, die sie alsdann hervorbringt, so schwer, ja ordentlich schmerzhaft ist es mir, mir das, was wirklich ist, vorzustellen.“

Das Ende naht, als Kleist befürchten muß, daß ihm als Dichter nichts mehr einfällt, daß auch die Einbildungskraft, dieser letzte Halt, versiegen könnte. Von diesem Augenblick an sucht Kleist in den Berliner Salons nach einer Frau, die mit ihm zusammen in den Tod gehen will. Man muß genau sein: Kleist hat nach einer Frau gesucht, die sich von ihm töten läßt, ehe er selbst Hand an sich legt. Als er schließlich in Henriette Vogel diese Person gefunden hat, schreibt er triumphierend an Marie von Kleist (an die er zuvor dasselbe Ansinnen gestellt hatte): er habe eine Freundin gefunden, „die mir unerhörte Lust gewährt, sich … so leicht aus einer ganz wunschlosen Lage, wie ein Veilchen aus einer Wiese, herausheben zu lassen“.

Quelle Rüdiger Safranski: Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? Über das Denkbare und das Lebbare / Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 2005 (Carl Hanser 1990) Seite 47f.

Ich finde, man muss das wissen und Kleist durchaus nicht als „bloßen“ Klassiker und auch nicht nur als Mann seiner Zeit sehen. Sein Napoleon ist unser Hitler, mit allen gedanklichen Komplikationen, die sich daraus ergeben.

Man muss auch das Ende der Geschichte kennen:

Er stellt sich vor, wie sein Tod auf die Freunde wirken wird. An Marie von Kleist schreibt er: „Erst, wenn ich tot sein werde, kann ich mir denken, daß sie mit dem vollen Gefühl ihrer Freundschaft zu mir zurückkehren werden.“ Er stellt sich auch genußvoll vor, wie die Angehörigen trauern werden. Mit Henriette zusammen stellt er sich vor, wie man sie finden wird, „auf dem Wege nach Potsdam, in einem sehr unbeholfenen Zustande, indem wir erschossen da liegen …“

Die letzten Augenblicke sind so beschwingt, weil in ihnen die Einbildungskraft Regie führt. Sie hat die absolute Macht ergriffen, ist stärker als jene „erdhafte“ Wirklichkeit in uns, die nicht sterben will.

Aber sie verlangt nach beglaubigenden Zuschauern. Abwesenden Zuschauern: deshalb die zahlreichen Abschiedsbriefe, die die Adressaten gewissermaßen zu Zeugen machen. Anwesende Zuschauer: deshalb richten es die beiden so ein, daß sie fast unter den Augen ihrer Wirtsleute in den Tod gehen.

Es folgt die Schilderung des Doppelselbstmords am 20. November 1811 in unmittelbarer Nähe des Gasthauses.

Dieses Schlußtableau ist Kleists letztes Werk. Es ist ein Werk, das zugleich ganz innerlich und ganz äußerlich ist. Es ist innerlich, denn im Sterben will Kleist auf eine nicht mehr überbietbare Weise zu sich selbst kommen. Die Macht des Äußeren ist gebrochen, weil er sich selbst den Tod gibt. Zugleich aber triumphiert die Macht des Äußeren. Denn was vom ‚Verfasser‘ dieses letzten Werkes, der Inszenierung des Selbstmordes, übrigbleibt, wird zur Beute der Obduktionsärzte. (…)

Quelle Safranski a.a.O. Seite 49 f.

Mozart loben

Gesunde Hemmungen

Kürzlich habe ich mal wieder Mozarts Klaviersonaten aufgeschlagen und bin beim Allaturca gelandet, dass man gern überschlägt, weil es halt „zu populär“ ist. Ja, gerade deshalb übt man’s nicht, weil man sich ein bisschen lächerlich dabei vorkommt. Besonders bei den Tschingderassa-Teilen, mit den Holzhammer-Vorschlägen im Bass und dem Gerassel im Diskant. Aber die Sechzehntel-Ketten im fis-moll/A-dur-Teil: kannst Du das eigentlich richtig gleichmäßig, ohne den kleinsten Stolperer in den Dreh- oder Angelpunkten?  Gut, man hat sich schnell hinein verbissen, plötzlich wieder in Begeisterung; eine sportliche Sache. Man arbeitet sogar den allerletzten Teil noch penibel aus, damit gerade der Lärm perfekter klingt (die drei Vorschlagsnoten im Bass nicht irgendwie, sondern VOR der Eins, damit der Hauptton im Bass genau mit der Eins der rechten Hand zusammenfällt usw.), und dann stecke ich tagelang im Satz davor, im Menuett, Schöneres gibt es nicht, das Trio, ein „Reigen seliger Geister“, Balance beobachten in diesem wundersamen Klaviersatz mit übergreifender linken Hand, das alpenländische Flair, die tschilpenden Spatzen… 100 Mal, das darf kein Ende haben! Und schließlich der erste, der Variationensatz, – ohne das Thema: da gibt es eine heilige Scheu, es ist zu schön, um es anzufassen. Und das Schlimmste – jeder, JEDE, die es hört, sagt: Ah, das ist Mozart, das ist schön. Wie arrogant soll man eigentlich reagieren, um diese Seufzer in die Schranken zu weisen!? NEIN, das meine ich nicht. Bitte keinen Mozart aus der Weihnachtsbäckerei! Es beginnt also damit, dass ich mir das Wort „schön“ verbitte. (Oder doch nicht, die Höflichkeit verbietet’s.) Wie oft haben wir schon (in Bonn!) darüber diskutiert. Jemand hat einen Töpferkurs absolviert und sagt: „Ich bin auch Künstler!“ Und man kann nur sagen: Gewiss, aber ich nicht, es lebe Joseph Beuys! Und schon hat das Mozart-Lob ein Ende.

Zurück zu Mozart, – wie kann man darüber sprechen? Endlich habe ich den Text gefunden, indem ich mal wieder das Zauberbuch „Denken und Spielen“ aufgeschlagen habe. Es hat kein Register, aber ich habe im Laufe der Jahre selbst eins auf der Innenseite des Einbandes angelegt. Ich werde das Richtige finden…

Uhde Stichworte Index Uhde Cover

ZITAT Seite 168

Mozart Uhde

ZITAT Seite 400 f (Notenbeispiele weggelassen)

(…) oder auch an jenes Variationenthema der A-Dur Sonate KV 331, ([folgt 1 Zeile Thema im Original] das so bekannt und in aller Ohren ist und dennoch sein Geheimnis, seinen Zauber so selbstverständlich bewahrt. Wie im verklärten Anschauen müßte es dargestellt sein, ganz für sich und ohne die mindeste Initiative auf den Prozeß hin, der dann – im Grunde überraschend – aus diesem einzigartigen, einer Fortsetzung unbedürftigen musikalischen Moment hervorgeht. Wie zögernd steigen dann in der ersten Variation zarte subjektive Regungen auf, die sich in Variation 2 kräftigen und in das klagende Cantabile der dritten in a-moll münden. Aber hinter ihr zieht schon das sanfte Leuchten der vierten herauf, und dieser Augenblick darf vom Interpreten nicht expressiv gestaltet, sondern nur passiv hingenommen werden, er ist ein Geschenk wie nur das Thema. Das Adagio, Variation 5, artikuliert in betontem Kontrast dazu das eindringlichste subjektive Espressivo, ehe die sechste Variation in distanzierter Vitalität den Fernblick auf das Finale eröffnet, dessen Janitscharen-Nachklänge sich im Gesamtzusammenhang des Werkes so befremdlich ausnehmen. Indessen ist das fast mechanistische Figurenwerk dort als äußerster Kontrast zum beseelten Beginn zu verstehen: zwischen diesen beiden Polen rezeptiver Charaktere schwingt der gestische Rhythmus dieses Werks.

Bei Beethoven, Schubert und späteren Komponisten bildet die Musik dann nahezu programmatisch solche Inseln rezeptiven Charakters im Strom als Widerpart zum voranschreitenden Drama oder zum rastlosen Immerweiter, ja selbst zur lyrisch bewegten Kundgabe. Weithin lebt seitdem die musikalische Gestalt vom Wechsel dieser Charaktere. Er konstituiert mit den Sinn. Beethoven, der Protagonist schrankenloser Subjektivität, hat radikaler als jemals einer zuvor den objektiven Widerstand in seiner Musik dargestellt und die Charaktere freier subjektiver Beseelung denen von Notwendigkeit konfrontiert. Im ergreifenden Dialog prägt dies Programm den langsamen Satz des G-Dur-Klavierkonzerts.

(Uhde/Wieland Denken und Spielen Seite 400-404)

*   *   *

Selbstverständlich gilt diese Auffassung nicht generell für Mozart. An anderer Stelle führen die Autoren aus, wie sinnvoll es ist, gerade bei Mozart von Ich-, Du- und Wir-Charakteren zu sprechen.

Daß nun spontane musikalische Regungen sich oft an einem Gegenüber artikulieren, das zeigt sich strukturell schon im allgegenwärtigen Spiel von Frage und Antwort. Musik sagt nicht nur Ich, sie sagt Ich und Du und Wir. Der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, der vor allem die Kammermusik als Diskurs galt, war dies gegenwärtig. Klaviermusik versetzt häufig Kammermusik auf ihr eines Instrument, und es ist eminent fruchtbar, solch kammermusikalischen Diskurs aufzuspüren.

Mozarts Sonate F-Dur KV 533 ist, vor allem in ihrem 1. Satz, quasi ein Klaviertrio.

(…)

Nur der weitere Verlauf kann darüber Auskunft geben, ob einer allein für sich, im inneren Dialog weiterdenkt oder ob gleichsam eine andere Person eingreift und eine neue Wendung herbeiführt. Blickt man in dieser Weise gerade auf Mozart, so mag sich ein Vorhang öffnen: viele seiner Instrumentalstücke offenbaren sich frei verstanden als Opern en miniature. Formale Analyse könnte nur Vorstufe zu einer Betrachtung sein, die ein Stück als Handlung wechselnder Charaktere und Situationen auf imaginärer Bühne sieht. Kundgabe eines Einzelnen, Dialog, Ensemble, Chor, das vokale Element also, steht gegen orchstrale Aktion; und so treten in Mozarts Instrumentalmusik vielerorts vokale und instrumental-orchestrale Charaktere einander gegenüber.

(Seite 386 F-Dur-Sonate KV 332)

Die Musik kennt aber neben Monolog, Diskurs, Koaktion imaginärer Individuen auch kollektive Wir-Charaktere. Märsche, Prozessionsgesänge, Hymnen, Choralgestalten gehören dazu, nicht weniger aber Charaktere ungeregelter Massenbewegung, von Getümmel und Tumult. Das solistische Denken neigt dazu, nur „Ich“ zu sagen und übersieht leicht diesen pluralen Ausdruck. Werden aber gewisse Stellen nicht als Gesten eines ich, sondern eines Wir verstanden, so weitet sich die musikalische Gebärde, vertieft sich der musikalische Atem; und der überanstrengte, falsch-titanische Gestus, der einem Einzelnen zumutet, was nur Viele tun können, entspannt sich.

(Seite 389 zu Beethoven Diabelli 1. Variation, auch Schubert!)

Nachbemerkung

Ich hätte gern noch eine andere Frage geklärt (und würde einen Schüler danach befragen): was bedeutet in Mozarts Thema (s.o.) das sf im 4.Takt auf dem 3. Achtel. Wozu dieser Eingriff in den „natürlichen“ Schwerpunktverlauf? Ist es purer Mutwille bei Mozart, – so wie oft bei Beethoven? Wie stark darf das Sforzato denn sein? Der Akkord auf 3 hat ja außerdem einen Vorhalt (ein e“ vor d“), eine Dissonanz, die als solche bereits betont wirkt.

Erinnerung 1987

Festival auf dem Bonner Marktplatz

Eine Überraschung, die heute über Facebook (Manfred Bartmann) kam, ein Stück WDR-Folkfestival (später „Weltmusikfestival“ genannt) auf Youtube : die irische Gruppe Patrick Street mit Andy Irvine, dazu das Tanzpaar mit den unaussprechlichen Namen (der Tänzer erzählte, auch ein irischer Moderator habe sie im Fernsehen kurzerhand Donnicken o‘ Monnicken genannt), bei uns gab es die bewährten Moderatoren Bettina Böttinger und Tom Schroeder , die alle Namen und noch mehr gelernt hatten (Begrüßung bei 4:25). Redakteure der Sendung waren Dieter Kremin (TV WDR) und Jan Reichow (Hörfunk WDR). Angeschlossen waren Sender wie Radio bzw.TV Moskau, Lissabon, Helsinki, Amman, live: Sofia, ČSSR, UDSSR. Und auf diesem Wege kam auch wohl dies irische Fragment ins Netz.

Kürzlich waren wir mal wieder dort, am Tatort:

Bonn Rathausplatz Markt 170709 Bonn Beethoven am Rathaus

Niemand wusste, ob es im jeweils nächsten Jahr weitergeht, und erst recht nicht, dass es noch 16 Jahre erfolgreich weitergehen würde. (Das unwiderruflich letzte, ich glaube: 27. Festival, seit den 90er Jahren umbenannt in „WDR Weltmusikfestival“, fand im Jahre 2003 statt).

1981 auf dem Domplatz in Köln 1982 ebenfalls (s. folg. Video ) 1986 auf dem Marktplatz in Bonn

  hier

Festival Köln 1983 Festival Bonn 1986 Plakat

Ich kann es bei den Namen der Irish Dancers nicht so belassen; hier sind die beiden in einer noch 15 Jahre älteren Aufnahme: Celine Hession und Donncha O’Muineachain:

Clip from 1972. Celine Hession & Donncha O Muimhneacháin *(R.I.P) dance two slip jigs: Fig for a Kiss & Kid on the Mountain. The fiddle player is Paddy Glackin. The young lad sitting beside Seamus Ennis is the one & only Noel Hill. The greatest concertina player to ever grace this earth.

Über Celine H. siehe hier. *Abschied von Donncha M. hier

Gerhaher gestern

Schmerztherapie Schubert in Düsseldorf

Gerhaher Titelbild Gerhaher Editorial

Christian Gerhaher gibt beeindruckende Interviews (mich erinnert er merkwürdigerweise an Matthias Brandt). Ich zitiere hier aus der Süddeutschen (Magazin 4/2015), das ich zu lesen empfehle. Von wegen „Trösterin Musik“:

Kann Musik Sie trösten?
Tut mir leid, aber diesen Zweck sehe ich für mich nicht. Wohl aber kann sie mich aufregen, ja sogar nerven. Wenn ich zum Beispiel frühe Symphonien von Tschaikowsky höre, kriege ich Beklemmungen, und meine Kehle zieht sich zusammen. Es gibt in dieser Musik keine Luftlöcher. Jede Sekunde ist ausgefüllt, alles tönt übervoll. Ich möchte aber niemanden ärgern und kann umgekehrt gut damit leben, dass nicht viele Menschen meine Begeisterung für Mendelssohns Reformationssymphonie teilen.

Finden Sie es banal, wenn andere Menschen sich von Musik trösten lassen?
Nein, aber ich höre Musik eben weder um getröstet noch um unterhalten zu werden. Musik von Bach, Beethoven, Schubert, das ist keine Vergnügung, genauso wenig wie Musik von Velvet Underground oder The Cure. Es geht um Tod, Verlust und Einsamkeit, um das Fehlen des ideal Vollkommenen, um problematische Seelenzustände und Defizite, die ich interessant finde, und das nicht unbedingt wegen ihrer Nähe zu meinem Leben. Musik schafft oft erst die Erschütterung, die einen dazu bringt, sich nach Trost zu sehnen – und den kann sie dann wunderbarerweise auch noch selbst spenden.

Na, also doch! Wenn Sie unbedingt woanders weiterlesen wollen, bitte hier.

Gerhaher Programm Tonhalle Nov 2017

Am Schluss, nach einigen „Vorhängen“, sagt er: das letzte Lied – von Schubert, leises Lachen im Saal: das letzte Lied des Schwanengesangs soll heute auch sein letztes sein: die Taubenpost. Gibt es eigentlich Leute, die dieses Lied als das schwächste der späten Sammlung bezeichnen? Vielleicht nur, wenn man es noch nicht von Gerhaher gehört hat. Was ist das für eine Epiphanie! Sie heißt – die Sehnsucht. Kennt ihr sie?

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„Schwanengesang“ Christian Gerhaher & Gerold Huber 1999 HIER Taubenpost bei 47:42

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CHRISTIAN GERHAHER ERKLÄRT UND SINGT „DIE SCHÖNE MÜLLERIN“ HIER

betr. auch das „lyrische Ich“.

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Eine hörenswertes BR-Interview mit Christian Gerhaher: HIER. (21:51)

insbesondere zu Mahler „Ich bin der Welt abhanden gekommen“

Organik

Eine neue Übepraxis? (Ungeordnete Notizen)

Zwei Zitate

Alles beginnt damit, dass ich Anfang der 80er Jahre erkennnen muss, dass weder die Schulmedizin noch die Alternativmedizin noch die Musikpädagogik noch die angebotenen Bewegungsverfahren, wie z.B. Alexandertechnik, Feldenkrais oder Yoga, in der Lage sind, mich von den Schmerzen in meinen beiden Armen zu befreien.
Die Schmerzen sind durch das Geigespielen entstanden.
Und ich stehe als Musiker quasi vor dem Aus.

*  *  *

Technische Bewegungen erkennen Sie daran, dass irgendetwas im Körper festgestellt wird, um gegenüber dem festgestellten Körperteil ein anderes Körperteil zu bewegen und vor allem in der Bewegung zu kontrollieren.
Ein typisches Beispiel dafür ist z.B. bei Streichern, Bläsern und Pianisten, dass der Rumpf fixiert wird, um demgegenüber die Bewegungen der Arme und Hände zu kontrollieren.
Das technische Prinzip ist das Training von isolierten Bewegungen. Das technische Prinzip stammt aus der Maschinen- bzw. Motorenwelt. In einem Automotor macht dieses Prinzip Sinn: Es gibt einen festen Motorblock mit Zylindern, und demgegenüber bewegen sich die Zylinderkolben. Was in einer Maschine Sinn macht, ist aber in einem Organismus sehr ungeeignet.

Diese Zitate stammen (mittelbar) aus einem Lehrgang, den ich nur vom Hörensagen* kenne, den ich aber so weit wie möglich aus den schriftlichen Vorgaben erschließen möchte. Zum Verlinken dieser Vorgaben soll dieser Blogbeitrag dienen. Es geht nicht allein um Geigespielen, das Üben eines Instrumentes überhaupt, oder um die Behandlung der Stimme. Es geht um den sinnvollen „Gebrauch“ des eigenen Körpers.

Da ich immer gern an etwas anknüpfe, was ich schon kenne, und sei es aus alter Zeit, als ich noch wenig damit anfangen konnte, wodurch aber eine tiefer sitzende Motivation geweckt wird, nenne ich die Worte, die mir etwas bedeuten. Selbst wenn ich zwischenzeitlich eine Opposition dazu gebildet hatte: „Gebrauch des Körpers“ (Alexandertechnik) und „Organische Stadtbaukunst“ (eine Theorie meines Onkels).

*Mailzitat Teilnehmerin S.R.: (…) Besonders inspirierend war die umfassende Wirkung! Also die nicht nur aufs reine Kursgeschehen, auf Körperübungen und Instrumentalunterricht begrenzte Erkenntnis, sondern die veränderte Wahrnehmung, die von Wertung, von Zwang, Kritik oder angespanntem Wollen befreite Wechselwirkung mit der Außenwelt – eben Resonanz ! – beim Spazieren durch Berlins Straßen, beim Zugehen auf Menschen, beim Nachdenken über die Elastizität des Lebendigen!

Korrektur: Bei Alexander heißt es anders, nämlich: „Gebrauch des Selbst“. Auf die  „Organische Stadtbaukunst“ folgte später „Die autogerechte Stadt“. Man las dazu irgendwann nur noch die wohlfeile Kritik, eine Stadt solle bitte nicht auto- sondern menschengerecht sein.

Ich persönlich muss mich hüten, bei allen „lebensreformerischen“ Gedanken, die in meinen 50er Jahren grassierten, einschließlich dem eigenen jugendlichen Eifer (von Nietzsche bis Rilke oder Zen, viel später noch Hugo Kükelhaus) einen verborgenen nationalsozialistischen Kern zu argwöhnen. Es handelt sich einfach darum, die Welt der Körper, des Körpers nicht im Auswärts – gegen das „zersetzende“ Reflektieren –  zu isolieren. Das Wort Wechselwirkung im letzten Zitat ist wichtig. In diesem Sinne mache ich mich also an die Web-Seite, die letztlich „nur“ eine Anleitung zum sinnvolleren, bewussteren Geigeüben (Laufen, Atmen, Am-Schreibtisch-Sitzen etc.) bieten soll.

Das Stichwort also lautet ORGANIK oder auch RESONANZ. Man studiere die näheren Ausführungen HIER. (Autor: Thomas Lange)

ZITAT Thomas Lange im Kapitel Audiomotorik

Das Ohr und das Gleichgewichtsorgan bilden eine räumliche Einheit und sind direkt miteinander gekoppelt. Das Gleichgewichtsorgan ist über Nervenbahnen mit allen Muskeln im Körper verbunden. Der Nerv vom Hörorgan und der Nerv vom Gleichgewichtsorgan laufen als achter Hirnnerv in einem Strang zusammen zum Gehirn. So gibt es über das Hören bzw. den Klang einen Weg in das gesamte Bewegungssystem des Menschen. (weiter: hier)

*   *   *

Eine wichtige Grundlage – wenn ich den methodischen Ansatz recht verstehe – ist die Kenntnis das Körpers bzw. seines Knochenbaues und der gegebenen SCHWERPUNKTE. Ich knüpfe auch da an meine Anfänge 1964 an, als ich mir einen kleinen Anatomie-Atlas für Medizinstudenten zulegte, den ich dann im Detail nicht recht verstand. Jedenfalls nicht, wenn ich meine eigenen Bewegungen, ihre Mechanik, dadurch von innen her zu erfassen versuchte. Ich ließ davon ab und machte lieber Musik. Heute finde ich es interessant, vielleicht nur, weil ich die Vergleiche mit dem Prinzip „Mobile“ und den Hinweis auf das Gleichgewichtsgefühl so einleuchtend finde, auch unabhängig von der Musik. Also: keine Scheu vor dem Studium des Baugerüstes! Ich fange so an (und habe allerhand Arbeitspapiere von T.L. auf meinem Pult liegen, die Skelette aber stammen aus einem alten Medizin-Atlas meines Opas, ich werde später eins mit den Schwerpunkten versehen, deren genaue Position ich inzwischen gelernt habe):

Skelett vorn Skelett rück durch Klicken lesbar machen

Skelett Schwerpunkte

(Fortsetzung folgt)

Gewogen und zu leicht befunden

Was wiegt denn schon ein falscher Ton bei Bach?

Ach! Unermesslich viel, wenn er in einem so vollkommenen Notengebilde steckt. Er raubt einem den Schlaf. Unmöglich, dass es sich nur um die Verletzung einer alten Gewohnheit handelt. Andererseits: Die Gewalt des Faktischen in einem gedruckten Text… (Es geht in Takt 10 um den zweiten Ton im Bass: DIS oder nicht vielmehr – EIS?)

Bach WTC Fis Prael falsches DIS

Zudem bin ich ein gebranntes Kind: bei dem Versuch, eine große Geigerin (siehe hier) zu überzeugen, dass Bach selbst ein Vorzeichen in den „Urtext“ einzutragen vergessen hat, bin ich einfach „aufgelaufen“. Sie hält den falschen Ton für eine Frage des künstlerischen Ermessens. Und das wirkt nach, als Enttäuschung, als Widerhaken im Fleisch – nicht als Verletzung der Eitelkeit, sondern der Logik. Wer bin ich denn, dass ich protestiere wie ein Hund, der den Mond anbellt?

Also bitte keine Rechthaberei, wenn es um Bachs Notentext geht, – aber erst recht keine Duckmäuserei. Es darf kein Druckfehler stehenbleiben in Heiligen Texten wie den „Sei Solo“ oder dem Wohltemperierten Clavier von Bach, auch nicht von Gottes eigner Hand.

Ich war gestern zu Besuch in Bonn, und da der Flügel dort, verglichen mit meinem alten „Schimmel“, ein Klangwunder ist, übe ich das vertraute Praeludium in Fis – zudem aus anderen (neueren)  Noten – wie ein fremdgewordenes, „neues“ Stück. Und stolpere genau über die oben abgebildete Stelle, aber erst nach dem achten oder neunten Durchspielen. Der Oktavengleichklang – das Dis in der linken Hand, nachschlagend zum gleichen Ton in der rechten – erscheint mir allzu schwach in einem ansonsten sehr starken Bass-Verlauf, es muss eine Vorhaltwirkung hinein. Oder ist es bloße Gewohnheit, die mich das empfinden lässt? Herrührend aus meinen alten Noten, der Kroll-Ausgabe, die mir immer durchaus zuverlässig erschien. Ich muss das zuhaus überprüfen. Da sitze ich nun. Und finde zuerst in der Studien-Partitur aus Budapest – genau die gleiche (falsche?) Schreibweise, Selbstzweifel beginnen:

Bach WTC I Fis-dur

Und nun die Überraschung: in meinen Übe-Noten, der alten Kroll-Ausgabe, steht es wirklich so, wie ich es mir wünsche… Guter Instinkt oder bloße Gewohnheit?

Bach WTC Fis Kroll

Meine Kopie des Bachschen Urtextes stammt aus den 80er Jahren, wer weiß, wie genau man damals überhaupt kopieren konnte … (Ausrede… denn:) die Kopie ist gerade an der fraglichen Stelle (oben rechts, letzter Takt der Zeile) im Bass nur zu gut lesbar:

Bach WTC Fis Faksimile Fis-dur-Praeludium Faksimile ab Takt 7

Aber doch vielleicht nicht lesbar genug… sieht man nicht um das Dis herum den Hauch eines Kreises, – eines Korrekturzeichens gar? Da kann nur Leipzig oder Berlin helfen. Oder soll ich es zuerst mit einer genauen musikalischen Analyse versuchen, gewissermaßen einer Abschätzung der Wahrscheinlichkeit. Und wie kam Kroll überhaupt dazu, die Stelle anders als andere zu lesen? Wer ist überhaupt dieser Kroll? Nur mein Riemann-Lexikon (10. Auflage Alfred Einstein Berlin 1922), ererbt von meinem Vater, gibt eine Auskunft („lobende Anerkennung“):

Kroll bei Riemann

Um es kurz zu machen: Ich habe nicht herausgefunden, wo Kroll den Ton gelesen hat, der mir jetzt so zu schaffen macht. In den alten Handschriften, die ich bisher in den wunderbaren Digitalisaten des Bach-Archivs durchgesehen habe, ist nicht eine einzige, die den von mir gewohnten und gewünschten Ton in Takt 10 rechtfertigen könnte; hier eine Auswahl:

Bach Quelle a ab Takt 7, 2.HälfteBach Quelle b ab Takt 7Bach Quelle c ab Takt 9Bach Quelle d ab Takt 8, 2.Hälfte

Jetzt habe ich nur noch den Wunsch zu klären, weshalb ich partout dem Ton Eis anstelle des Dis den Vorzug geben wollte und auf welchem Wege ich jetzt mit dem wahren Text Frieden schließen kann – außer durch blinde Unterwerfung.

*  *  *

Um ein wenig in die Praxis zu tauchen: die Pianisten, die ich gehört habe, – Gulda, Koroliov, Schiff -, spielen alle das „Handschrift“- Dis, während das „Kroll“-Eis bei renommierten Cembalisten wie Ton Koopman und Gustav Leonhardt zu finden ist. Ich befinde mich also nicht in schlechter Gesellschaft, staune aber, dass der inkriminierte Ton beim bloßen Hören weniger störend ins Ohr fällt als beim Selberspielen oder beim Durchhören der Einzelakkordfolgen. Auffällig dagegen, dass nach den verschiedenen Klavieren Ton Koopmans Cembalo „unsauber“ klingt. Wahrscheinlich aufgrund der originalen Temperierung. Fis-dur als Tonart ist gewollt heiklen Charakters, wobei allerdings zu bedenken ist, dass Bach hier vielleicht ein Ur-Praeludium in F-dur fortgeschrieben hat…

Was mich eigentlich stört an der Dis-Fassung? (Siehe nochmals das Notenbeispiel ganz oben, Takt 10.) Gewogen und zu leicht befunden! Das Dis, der 2. Ton im Bass, schlägt dem Dis, dem dritten Ton der Oberstimme, hinterher. Der 3. Ton im Bass, ein Cisis, schlägt dem zweimal gehörten Cisis der Oberstimme hinterher. Also: eine (kaum noch) latente Oktavparallele, jedenfalls ein Hauch von Schwäche. Während das Eis als 2. Ton im Bass das Dis der Oberstimme zur Dissonanz macht, die in das Cisis aufgelöst werden will; dieses bleibt dann in dem gebrochenen Akkord aufwärts gegenwärtig, zumal es im Basston Cisis und Fortgang  zum Ais (Gegenbewegung zur Oberstimme) bewahrt und gesteigert wird (als Basis eines Dominantseptimakkords). So dass die Entspannung in der Grundkadenz des Taktes 11 von perfekter Wirkung ist!

NB: Das Doppelkreuz (Cisis) gab es in der Bach-Zeit noch nicht: da das Vorzeichen für Cis ohnehin in die Gruppe der Vorzeichen am Anfang der Zeile eingeschlossen ist, wird es durch ein direkt vor die Note gesetztes Kreuz noch einmal erhöht, – so verstanden ist ein Zeichen für Doppelkreuz eben nicht unbedingt nötig.

Wegen der komplexen Bearbeitungsgeschichte des Stückes lasse ich hier eine Seite aus dem Buch von Alfred Dürr folgen, das ich ohnehin jedem Clavieristen wärmstens empfehlen kann. In diesem Fall gibt es auch Einblick in eine typische Urtext-Problematik und ist sprachlich nicht unbedingt leichte Kost:

Dürr Praeludium in Fis

Quelle Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter 1998 ISBN 3-7618-1229-9

Ich lasse es bei dieser imperfekten Auflösung. Das Leben geht weiter. Und ich gestehe: in Zukunft spiele ich den Takt 10 manchmal so, dass ich das tiefe Eis einem höheren Eis als Vorschlag vorangehen lasse und dann in Oktaven weiterspiele (Eis – Dis – Cisis – Ais), auch den ganzen Takt 11, und erst ab Takt 12 wieder original. Ich mache die Schwäche zur Stärke! Und wenn Sie dann aus symmetrischen Gründen auch den Bass der beiden Schlusstakte in Oktaven spielen wollen: ich weiß von nichts…

Mystisches Hören?

Nichts für Zweifler

HÖREN Farmer Zitat

Quelle Musikgeschichte in Bildern Band III: Musik des Mittelalters und der Renaissance / Lieferung 2 / Henry George Farmer: ISLAM VEB Deutscher Verlag für Musik Leipzig / ohne Jahr (JR Juni 1967 nach der Orient-Tournee + Wechsel der Studienrichtung). Zitat aus Einleitung Seite 8.

Ich habe in frühen WDR-Sendungen häufig daraus zitiert (z.B. ab „Wir Europäer“), um anzudeuten, dass orientalische Musik eines besonderen Hörens bedarf. Eine gute Ermahnung zweifellos, aber zugleich eine, die zu einer völlig falschen Hörerwartung führen kann (indem sie den Verstand auszuschalten sucht). Das wusste ich auch damals schon, aber ich dachte, es kann nicht schaden darauf hinzuweisen, dass man fremder Musik keinesfalls mit einem Spontan-Urteil begegnen sollte. Im Grunde habe ich vor allem an Geduld, Gewöhnung und Wiederholung (Übung) geglaubt. Mit anderen Worten: an kulturelle Prägung. Nicht mystische Einweihung oder Erleuchtung. Und erst recht keine Trunkenheit. Aber was nur soll denn das sein (im gedruckten Zitat): Musik per se ???

Was fällt Ihnen zu dem Thema ein – innerhalb unserer Kultur? Vielleicht das berühmte Miserere von Gregorio Allegri.

Eine Zwischenfrage also: macht Sie das folgende Video (samt Audio-Anteil) frömmer … oder musikalischer? Oder beides? Oder beides nicht?

Stichworte:

Suggestion des Raumes und des Lichtes (Vorstoß in höchste Höhen, räumliche Entsprechungen, Koordinaten), mittleres Predigerparlando, Wiederholungen, Erfahrungen des Christentums, Hoch und Tief, Irdische und Himmlische Musik, Ek-stase, Bachs „Musik für die Himmelsburg“… Mozarts, Mendelssohns frühe Begegnung mit dem Miserere von Allegri, Entzauberung = Entschlüsselung der Harmoniefortschreitungen. Mysterium der Geheimhaltung.

Kürzlich erhielt ich eine Mail von Peter Pannke , in der sich der Indien- und Sufi-Kenner kritisch zu einem Blogartikel äußerte und zur Erläuterung ein Gespräch beifügte, das Hinweise zum Musikhören enthält. Zu meiner Überraschung begegnete ich hier auch dem Mystiker wieder, den ich aus  Henry George Farmer’s oben wiedergegebenem Islam-Text kannte: Al-Hujwiri.

ZITAT

Wie weit ist es den außerhalb der Sufi-Tradition Lebenden und mit ihren Inhalten nur wenig oder gar nicht Vertrauten überhaupt möglich, diese Musik und Gesänge „richtig“ hören?

PANNKE: Es geht immer um kulturelle Muster, Hörgewohnheiten und Hörerziehung. Je mehr man durch ständiges Hören mit einer Musik vertraut wird, desto mehr kann man entschlüsseln. Ich habe häufig indische oder pakistanische Musiker zu Gast und gehe mit denen auch in die Philharmonie oder zu Pop-Konzerten und bin jedesmal überrascht, was sie dabei wahrnehmen oder wie sie das entschlüsseln. Es gibt eine Ebene von Hören, die kulturell und lernbedingt ist. Aber gleichzeitig besteht noch eine andere Ebene. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass es innerhalb jeder Kultur Menschen gibt, die einen spontanen Zugang haben zu dieser Musik und sie entschlüsseln können, also die kalligrafische Bewegung der Töne in einem dreidimensionalen Raum wahrnehmen. Anderen gelingt das nicht. Sie hören nur eine Monotonie. Dieser Unterschied ist nicht kulturell bedingt, sondern hängt vom Einzelnen ab.

Als Europäer sollte man in Erwägung ziehen, dass es Formen der Vermittlung von Traditionen, von Wissen, von Erkenntnis gibt, die anders sind, als die ihm vertrauten und die eben durch das Hören funktionieren. Wenn mir in Europa jemand eine Geschichte erzählt, stelle ich dabei einen qualitativen Unterschied fest zu dem Empfinden, wenn mir in Pakistan ein Musiker eine Geschichte erzählt, die er wirklich glaubt und die er auch so erzählt, als ob er sie selbst erlebt hätte und in der er lebt und die deshalb eine andere Form von Energie vermittelt. Man spürt das existenzielle Interesse. Die Kommunikation ist in der pakistanischen Kultur, wo Literatur immer als etwas Klingendes betrachtet wird, viel mehr auditiv als in unserer. So ist es zum Beispiel bei uns kaum mehr üblich, Gedichte zu lernen und zu rezitieren. Aber indem wir diese Fähigkeit nicht mehr entwickeln, verlieren wir auch einen gewissen kulturellen Zugang. In Pakistan sind die Texte von Shah Latif ein lebendiges Gut, das die Menschen jederzeit abrufbar haben.

Würden Sie sagen, dass das Hören in der östlichen Kultur generell einen höheren Stellenwert besitzt als in der westlichen?

PANNKE: Es war für mich eine sehr interessante Erfahrung, mich mit dem Phänomen des Hörens und der Einsicht, wie man durch Hören zu Erkenntnis kommt, innerhalb der islamischen Kultur auseinanderzusetzen. Ich machte dabei eine ganz ungewöhnliche Entdeckung. Ali al-Hujwiri, der Stadtheilige von Lahore, dem ein gigantischer Schrein gewidmet ist, den jährlich Millionen Besucher aufsuchen, schrieb ein Buch mit dem Titel „Kashf-al-Mahjub“. Dieses Buch wird in der Literatur häufig zitiert, weil Hujwiri darin viele Details erläutert wie etwa die Bedeutung der Flicken auf dem Derwischgewand und Ähnliches. Unter anderem wird Hujwiri mit der Aussage zitiert, dass es keine Etymologie für das Wort Sufismus gibt. Schlägt man nämlich irgendein Buch über den Sufismus auf, kommt man bereits nach wenigen Seiten an eine Stelle, wo es heißt, Suf bedeute Wolle, das verweise auf das Gewand der Asketen und daher stamme der Begriff Sufismus. Diese Erklärung existierte bereits im 12. Jahrhundert und Hujwiri kritisiert diesen etymologischen Ansatz. Seiner Darstellung zufolge liegt der Ursprung des Begriffs vielmehr auf klanglichem Gebiet. Entscheidend ist also die Klangzusammenstellung des Wortes Suf und nicht seine Bedeutung.

Diese Aussage weckte mein Interesse und so ließ ich mir das Buch über Fernleihe kommen. Es gibt in Deutschland nur ein einziges Exemplar, eine Übersetzung von Nickelsen, die 1923 erschien. Als ich das Buch in Händen hatte, stellte ich fest, dass es vor mir noch niemand gelesen hatte. Die Seiten waren nicht einmal aufgeschnitten. Ich stellte aber auch fest, dass es eines der faszinierendsten Bücher ist, die ich je gelesen habe. Die ursprüngliche Fassung ist in Persisch geschrieben, in einer sehr verschlüsselten Sprache mit vielen Bedeutungsebenen. Offensichtlich geht es um die Vermittlung eines Codes innerhalb eines Ordens. Im Schlusskapitel setzt Hujwiri sich mit dem Erlebnis des Hörens auseinander. Er erörtert das gemeinsame Hören von Tönen als spirituelles Erlebnis der Sufi-Zusammenkunft. Aus dem Indischen kenne ich die ungeheuer komplexe Philosophie über die Entstehung von Gedanken und Sprache durch Hören. Aber ich wusste nicht, dass es eine Entsprechung im islamischen Bereich gibt. Genau wie die Inder klassifiziert Hujwiri das Hören als höchste Sinneserfahrung. Sein Buch ist für mich ein zentraler Text der Menschheitsgeschichte, der eigentlich in jedem philosophischen Seminar gelesen werden sollte. Aber leider kennt ihn niemand.

Quelle privat, ©Peter Pannke

*  * *

Als ich dieses Interview las, schien es mir zunächst wie eine Bestätigung meiner schlichten These von der kulturellen Prägung des Hörens. Um so mehr interessierte es mich, als es dann in eine andere, subjektiv orientierte Richtung weiterging:

 Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass es innerhalb jeder Kultur Menschen gibt, die einen spontanen Zugang haben zu dieser Musik und sie entschlüsseln können, also die kalligrafische Bewegung der Töne in einem dreidimensionalen Raum wahrnehmen. Anderen gelingt das nicht. Sie hören nur eine Monotonie. Dieser Unterschied ist nicht kulturell bedingt, sondern hängt vom Einzelnen ab.

Um welche Musik es sich handelt, wird nicht weiter spezifiziert. Die interkulturellen Begegnungen finden in der Philharmonie statt, oder (!) es sind Popkonzerte. Handelt es sich „in der Philharmonie“ um differenzierte Werke der klassischen westlichen Geschichte? Ein Sinfonie-Konzert zum Beispiel? Auf der einen Seite indische (oder pakistanische) Musiker, die keine Erfahrung mit dem Hören westlicher Klassik haben, auf der anderen Seite – ein typisches Werk dieser Tradition, nehme ich an – sagen wir: die vierte Sinfonie von Brahms, und schon möchte ich schwören: es gibt keinen spontanen Zugang, keine „Entschlüsselung“ durch den fremden Rezipienten. Unmöglich. Könnte es sich nicht um eine allzu euphemistisch projizierte Deutung von Seiten des „Versuchsleiters“ handeln? Zumal schon etwas wolkig von einer kalligrafische[n] Bewegung der Töne in einem dreidimensionalen Raum statt von einem komplexen Musikwerk die Rede ist. Man verzeihe mir, wenn ich gerade von einem erfahrenen Wanderer zwischen den Welten detailliertere Beschreibungen seiner Erfahrungen und Beobachtungen erhoffe.

Im Fall eines Popkonzertes könnte man die Äußerungen, sofern sie sprachlich eindeutig sind, wahrscheinlich positiver einordnen: da gibt es vom Gestischen über den Rhythmus bis zu formal auffälligen Momenten der Musik (Refrains) zahlreiche überkulturell identifizierbare und deutbare Eigenheiten. Zumal die harmonischen Eigenarten der Popmusik – verglichen mit Klassik – zumeist klischeehafter in Erscheinung treten und selten bedeutungstragend sind.

Über das Hören jedoch, das Hudjwiri in seinem Buch offenbar zum Thema macht, kann ich mir kein Urteil erlauben. Ich würde zumindest unterscheiden wollen, ob es sich um Einzeltöne als akustische Erscheinung (von außen) handelt oder ob man sie selbst hervorbringt, vielleicht sogar mit eigenen Körperbewegungen verbindet. Wiederum anders läge der Fall, wenn (s.o.) „das gemeinsame Hören von Tönen als spirituelles Erlebnis der Sufi-Zusammenkunft“ gemeint ist. Daran ist vermutlich fast alles in langen Jahren eingeübt und aufeinander abgestimmt!

Das Hören im westlichen Konzertsaal, in einer gleichgestimmten (?) Gemeinschaft, ist ja ebenfalls eine mit den gesellschaftlichen Konventionen eingeübte Erfahrung, aber wiederum eine andere als etwa das einsame (?) Musikhören mit Kopfhörern, zuhaus in einem stillen Zimmer, nicht unbedingt „völlig losgelöst“, aber vielleicht im verschärften Elitebewusstsein, – wie auch der Eremit. Und all dies ist vorgeprägt durch Erziehung, fremde Einwirkung, durch erworbene oder durch teilweise bzw. weitgehend selbstgesteuerte, ja: erarbeitete Rahmenbedingungen.

So auch die ebenfalls westliche Hörweise, die im nachfolgenden Zeitungsartikel (heute, 6. November) zum Ausdruck kommt. Sie hat mit einer restriktiven Popmusik-Sozialisierung zu tun – die klassischen Erfahrungen fehlen, trotz der studienbedingten Fähigkeit, sie zu etikettieren, – was ich schon aus Fairnessgründen unkommentiert lassen möchte. Hat also wiederum mit einem Gemeinschaftsgefühl zu tun, mit dem jugendlichen Bewusstsein, einer Neuen Welt anzugehören und die klassische Welt mit einem sterilen Akademismus gleichzusetzen, also: auszuschließen. Verständlich die nicht weiter reflektierte Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen, „in der tobenden Menge eines Rockkonzerts“ abzugehen. Es geht überall ums Leben.

Rheinische Post Klassik bzw Gegw a

Mallarmé in Musik

Ein Gedicht lesen und hören

Dieser Artikel dient aktuell der Vorbereitung auf ein Konzert mit Christian Gerhaher am 15. November 2017 in der Tonhalle Düsseldorf.

Mallarmé Soupir

Quelle Stephane Mallarmé: Sämtliche Gedichte / Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1984 (Verlag Lambert Schneider Heidelberg) Übersetzung: Carl Fischer.

Das folgende Youtube-Beispiel beginnt mit „Soupir“! Falls extern gewünscht, s.u.!

Obiges Video im externen Fenster (zum Mitlesen der Musik unten): HIER

Debussy Soupir a

Soupir

Mon âme vers ton front où rêve, ô calme sœur,
Un automne jonché de taches de rousseur
Et vers le ciel errant de ton œil angélique
Monte, comme dans un jardin mélancolique,
Fidèle, un blanc jet d’eau soupire vers l’Azur!
– Vers l’Azur attendri d’Octobre pâle et pur
Qui mire aux grands bassins sa langueur infinie
Et laisse, sur l’eau morte où la fauve agonie
Des feuilles erre au vent et creuse un froid sillon,
10 Se traîner le soleil jaune d’un long rayon.

Debussy Soupir b   Debussy Soupir c

Dasselbe Gedicht in der Vertonung durch Maurice Ravel (1913):

Seufzer

Mon âme vers ton front où rêve, ô calme sœur,
Un automne jonché de taches de rousseur
Et vers le ciel errant de ton œil angélique
Monte, comme dans un jardin mélancolique,
Fidèle, un blanc jet d’eau soupire vers l’Azur!
– Vers l’Azur attendri d’Octobre pâle et pur
Qui mire aux grands bassins sa langueur infinie
Et laisse, sur l’eau morte où la fauve agonie
Des feuilles erre au vent et creuse un froid sillon,
Se traîner le soleil jaune d’un long rayon

Zu Deiner Stirn, o stille Schwester, wo verträumt
ein Herbst bestreut mit roten Sommerflecken säumt,
und hin zum Himmel Deiner Engelsaugen hebt
sich schweifend meine Seele, wie ein Strahl aufschwebt
weiß im schwermütigen Park zum Blau, Seufzer der Treue!
– zur zartern, des Oktobers blasser reiner Bläue,
die endlos Schmachten aus dem großen Becken scheint
und auf dem stehnden Wasser, wo vom Wind vereint
todfalbe Blätter eine kalte Furche schneiden,
der gelben Sonne Strahl lang schleppen läßt im Scheiden.

Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/gedichte-8032/7 (hier) Übersetzung: Richard von Schaukal / Verlag Karl Alber Freiburg im Breisgau

*  *  *

Die youtube-Aufnahme mit Sandrine Piau (s.o.) weiterlaufen lassen, ab 2:55 folgt:

Placet futile

Placet futile

Belanglose Bittschrift

Princesse! à jalouser le destin d’une Hébé
Qui poind sur cette tasse au baiser de vos lèvres,
J’use mes feux mais n’ai rang discret que d’abbé
Et ne figurerai même nu sur le Sèvres.

Fürstin! Das Schicksal einer Hebe zu beneiden,
die zu der Lippen Kuß auf dieser Tasse steigt,
verbrauch ich meine Glut, doch ist mein Rang bescheiden,
nackt selbst wird ein Abbé auf Sèvres nicht gezeigt.

Comme je ne suis pas ton bichon embarbé,
Ni la pastille ni du rouge, ni jeux mièvres
Et que sur moi je sais ton regard clos tombé,
Blonde dont les coiffeurs divins sont des orfèvres!

Ich kann mich nicht in deinen bärtigen Schoßhund kleiden,
und weil auch Naschwerk, Schminke, Spieltand von mir schweigt,
doch deine Blicke mich geschloßnen Lids nicht meiden,
Du Blonde, der ein Gott als Goldhaarschmied sich neigt:

Nommez nous… toi de qui tant de ris framboisés
Se joignent en troupeau d’agneaux apprivoisés
Chez tous broutant les vœux et bêlant aux délires,

Laß mich… von der so zahlreich himbeerfarbnes Lachen,
zu zahmer Lämmer Trupp vereint, bei allen grast,
in Wünschen weidend, blökend, wann Begierde rast,

Nommez nous… pour qu’Amour ailé d’un éventail
M’y peigne flûte aux doigts endormant ce bercail,
Princesse, nommez nous berger de vos sourires.

laß mich… daß Amor ihn auf seine Fächerschwinge
mal‘, wie er Flöte fingernd es zum Schlafen bringe,
Fürstin, laß mich dein Lächeln als sein Hirt bewachen!

Quelle wie oben / oder hier Übersetzung: Richard von Schaukal / Verlag Karl Alber Freiburg im Breisgau

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