Sufis, Mystik und Musik

Von der Süddeutschen Zeitung hätte man sich am 6. August  leicht (allzu leicht) überzeugen lassen können, „Warum der Sufismus gar nicht so friedlich ist“, in einem Artikel von Stefan Weidner, nachzulesen HIER. Und ich erinnerte mich bei der Lektüre, dass ich die Mystik in meinen jungen Jahren für einen unanfechtbaren Bereich gehalten habe, nicht ahnend, welche Bundesgenossen man sich damit unvermerkt einhandeln kann. Sachliche Grundlagen für eine Selbsttherapie, die auch die deutsche Romantik und die eigenen 50er und frühen 60er Jahre einbezog, lieferte erst Rüdiger Safranski mit seinem Buch zur Romantik als „einer deutschen Affäre“. Viel später auch die Behandlung des Themas „Mystik und Totalitarismus“ in den Böhme-Studien des Weißensee-Verlags.

All dies im Sinn, hätte ich mich dennoch nicht auf eine Verdächtigung des Sufismus im oben angegebenen Artikel einlassen dürfen, zumal ich schon an anderer Stelle die Position Stefan Weidners fragwürdig gefunden hatte (siehe hier).

Nun ist glücklicherweise eine Entgegnung aus berufenem Munde erschienen. Ilija Trojanow schrieb in der FAZ über den Sufismus als den größten Feind des islamischen Extremismus; er beschreibt ihn als undogmatisch, friedfertig, künstlerisch: „Der Sufismus ist ein Gegenmittel zu Gewalt und Engstirnigkeit der Orthodoxie. Warum der Westen die noch vielerorts lebhaften Traditionen unterstützen und fördern sollte.“ Man kann auch diesen Artikel, der sich explizit auf Weidners Invektiven bezieht, im Internet nachlesen: HIER.

Ich habe Peter Pannkes 1999 erschienene Dokumentation über die Sufis im Industal und ihre Musik wieder durchgeblättert, finde alles ebenso beeindruckend wie damals und im Text des Nachwortes unverändert gültig, zumal auch Grenzen der Identifizierung angedeutet sind. Und wir haben inzwischen zur Genüge gelernt, dass die lebendige Kraft der Sufis nichts gegen blinde Bombenleger ausrichtet:

Wir allerdings könnten von ihnen etwas lernen. Daß es ein Land gibt, in dem die Lehre der Sufis eine lebendige Kraft darstellt, ist im Westen nahezu unbekannt. Einerseits erscheinen sie in westlichen philologischen und literaturhistorischen Darstellungen als Relikt einer fernen Vergangenheit, die für die Gegenwart nicht mehr relevant ist. Dabei wird vergessen, daß es sich um eine vorwiegend mündliche Überlieferung handelt, die nicht in Büchern weiterlebt, sondern im Gedächtnis der Menschen. Die Verse der historischen Sufi-Dichter haben deshalb keine endgültige Gestalt, sondern verändern sich immer wieder; deshalb sind sie hier auch so wiedergegeben, wie sie gesungen werden. Andererseits ist das Umfeld der Schreine gerade in den letzten Jahren auch in Pakistan mehr und mehr Gegenstand der Kritik geworden. Feudale Strukturen wurden und werden nicht nur von Politikern und Großgrundbesitzern, sondern oft auch von den Nachfolgern der Pirs und Sufi-Heiligen weitergetragen, und diese werden mit recht in Frage gestellt. Doch dies ist nicht das Thema dieses Buches. Eine mißliche Folge dieser berechtigten Kritik ist allerdings, daß westliche Journalisten, ohne den kulturellen und sozialen Hintergrund wirklich recherchiert zu haben, bisweilen die Sufi-Kultur im allgemeinen und die Urs-Festivals im besonderen als eine völlig degenerierte Angelegenheit darstellen, die jede geistige Substanz verloren hat. Ich hoffe, daß dieses Buch dazu beitragen kann, auch dieses Zerrbild zu korrigieren.

Peter Pannke

Pannke Pakistan Sufi

Ilja Trojanow im oben verlinkten Beitrag:

Die sufistischen Meister haben bei aller pluralistischen Differenz stets betont, dass Wissen sich ewig verändert und wandelt und die wahre Natur der Realität hinter dem Sichtbaren zu suchen ist, hinter den herrschenden Annahmen, Urteilen und Regeln. Eine unideologischere Haltung kann man sich kaum vorstellen. Passend dazu die intellektuelle Waffe des Humors, anhand der Lehrgeschichten des Schelms Nasreddin Hodscha etwa, der eines Tages gefragt wurde, wie sein religiöses Dogma laute. „Das hängt davon ab“, antwortete er, „welche Häretiker gerade an der Macht sind.“

Bei der Wendung über „die wahre Natur der Realität hinter dem Sichtbaren“ kommt mir einiges in den Sinn, was ich versucht habe, hier zu thematisieren. Zugleich sei der allerletzte Satz des Trojanow-Artikels hervorgehoben:

Denn die baldige Säkularisierung der islamischen Welt ist eine Fata Morgana.

Nachtrag 8. Sept. 2016

„Faustkultur“ (siehe hier)

Ein sehr interessantes Gespräch in diesem Zusammenhang betrifft die neue Situation in Indien. Die Journalistin und Indienkennerin Claire Lüdenbach (CL) befragt den Schriftsteller Pankaj Mishra (PM):

CL: Wenn ich die Musiker gefragt habe, ganz gleich, ob Hindu oder Muslim, keiner machte einen Unterschied zwischen den Religionen. Sie verstanden sich als Sufis, wurde mir häufig gesagt. Da nun aber ein Sufi-Musiker in Pakistan ermordet wurde, fragt man sich, wie lange diese Einheit noch dauern wird.

PM: Die Welt war immer schon ein Ort, auf dem Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen sich vermischten und Kunsttraditionen gründeten. Der moderne Nationalismus hat neue rassische, ethnische Unterschiede eingeführt und betont mit dem Begriff der Staatsbürgerschaft eine bestimmte Form der Identität. Das ist für manche Leute ein Fortschritt. Aber wenn man sieht, was im 19. Jahrhundert passierte, als die Idee der Staatsbürgerschaft entstand: Die größten Opfer waren die Juden. Obwohl sie eingeladen wurden, Staatsbürger zu werden, wurden sie gleichzeitig stigmatisiert. Denn in dem ganzen Prozess der Nationalisierung wurde die Identität wichtig. Wie wir wissen, baut Identität vor allem auf die Identifizierung des anderen. Erst dann identifizierst Du Dich selbst. Mit diesem etablierten Beziehungssystem, glaube ich, so etwas wie die Sufitradition, die aus Vermischung und unbefangener Beziehung zur Religion und der Welt im Ganzen besteht, diese Traditionen sind unmittelbar bedroht von Fundamentalisten auf beiden Seiten.

Das ganze Gespräch und die Hinführung zu den Büchern des Autors Pankaj Mishra ist höchst aufschlussreich, vor allem was den Blick auf Indien in der heutigen Weltsituation (Beispiel Brexit) betriff. Noch einmal der Link: hier.

Nachtrag 31. Okt. 2017

Am 31.10.2017 um 17:57 schrieb Peter Pannke:

Lieber Herr Reichow,

selten im Netz, stieß ich erst jetzt auf ihren Blog, der faszinierende Lektüre verspricht. Die Kontroverse zwischen Weidner und Trojanow, die Sie erwähnen, beruht auf einem terminologischen Mißverständnis. „Sufismus“ ist eine deutsche Wortprägung vom Anfang des 19. Jahrhunderts. Es gibt „den Sufismus“ oder „die Sufis“ ebenso wenig wie „die Christen“, „die Muslime“ etc. In der Tat gab es Sufiorden, die eine zweifelhafte politische Rolle gespielt haben und weiter spielen. Erdogan ist z.B. ein Mitglied des Nakhshbandi-Ordens, wie auch Musharraf. Die „Sufisten“ – welch groteskes Wort – als Bundesgenossen des Westens im Kampf gegen den Extremismus gewinnen zu wollen, beruht m. E. auf Überheblichkeit und Unkenntnis der Lage.

Herzliche Grüße

Peter Pannke

HINWEIS JR

Im Zusammenhang mit diesem Mailwechsel hat mir P.P. freundlicherweise noch das Skript eines Interviews zukommen lassen, das er zum Thema „Spirituelles Hören“ gegeben hat. Ich habe einen Teil davon in einem neueren Artikel abgedruckt und mich damit beschäftigt, siehe HIER.