Archiv der Kategorie: Literatur

Wolkenlektüre

Von der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen

Juist Wolke 1 20150923

Juist Wolke 2 20150923

Juist Wolke 3 20150923

Kermani Cover rück

Juist Wolke 4a 20160925

Juist Wolke 5a 20160926

Juist Wolke 7 20150926

Das Buch hatte ich dabei, weil mich die SZ-Rezension neugierig gemacht hatte (ohne dass mir bewusst war, dass sie von einem Kirchenmann stammte): „Wünschelrute der Sinnlichkeit“ (23.08.2015), – und weil ich nun einmal verbale Bilderdeutungen liebe. Ich sehe dann besser. Hier also in Gestalt der Auseinandersetzung eines Moslems mit dem Christentum, vielleicht preiswürdig, für mich allerdings von sekundärer Bedeutung: Warum soll ich dergleichen in 100 Stichworten aufs neue durchdenken, dabei auf Bilder schauend, die eindrucksvoll genug sind, aber keine theologische oder philosophische Autorität haben? Zumal mir weder das Thema Islam noch das Thema Christentum persönlich auf der Seele brennt. Gut, der Autor interessiert mich seit Ende der 90er Jahre. Der Vertrauensvorschuss schwand hier allerdings schon mit der gespielt naiven Schmähung des Kunsthistorikers Jacob Burckhardt, während immer mehr in den Vordergrund trat, was der Kirchenmann in seiner Rezension als Vorwurf zu entkräften suchte: es handelt sich nicht so sehr um neue Aspekte der Ästhetik als um ein Stück „Erbauungsliteratur“. Deren Zeiten aber sind doch wohl vorbei. Einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller? Mit Märtyrerlegenden? Ehrlich gesagt ist mir die Sprache der Wolken lieber als solche Überdehnung des Didaktischen. Und gerade die herausgekehrte Sinnlichkeit ist mir suspekt. Sie hat keine Sprengkraft, außer in jugendbewegten Arbeitskreisen eines Kirchentags. Unbedingt zeigen zu müssen, dass es sich bei den Heiligen um Menschen aus Fleisch und Blut oder gar wie Du und ich handelt. Dass die Andacht bei der Bildbetrachtung flöten geht, wenn man Druck auf der Blase hat. Dass der ekstatische Gesichtsausdruck durchaus irdischer Natur sein kann, nun auch die Verzückung des Heiligen Franziscus wie schon länger die Verzückung der Heiligen Theresa triebhaften Ursprungs, wir wissen es, aber wie eindringlich hat uns z.B. Johann Sebastian Bach versichert: „Wir aber sind nicht fleischlich, sondern …“ – nun? – geistig oder geistlich? – jedenfalls „der Geist hilft unserer Schwachheit auf“!

Die Muskelfasern, die Falten, die die Kleidung der vier Personen und rechts unten das bläuliche Tuch werfen, die Barthaare, Brustwarzen und Bauchfalten Petri, seine dreckigen Fingernägel und die beinah schwarze Fußsohle, die der untere Scherge links unten dem Betrachter genau auf Kopfhöhe hinhält, der ausgeleuchtete Hintern des Schergen, der dadurch nicht schöner wird, die Maserung des Holzes, der Glanz auf dem Nagel und der Schaufel, die physische Anstrengung, die eine Kreuzigung für den Henker bedeutet, der Brotberuf, der sie nun einmal für die Henker gewesen sein wird – alle Welt rühmt heute Caravaggios derben Realismus, an genau dem sich die Kritiker früher stießen: Er wolle nur beweisen, schimpfte Jacob Burckhardt, „daß es bei allen heiligen Ereignissen der Urzeit eigentlich ganz ordinär zugegangen sei“. Das stimmt natürlich, denn es geht außerhalb von Heilsgeschichten und Romanzen immer ordinär zu; man könnte sogar sagen, daß das Ordinäre als ein Kontrast gerade dort am stärksten hervortritt, wo sich das Heilige oder die Liebe tatsächlich ereignen. Bei der Kreuzigung Christi hat es schließlich auch keine Filmmusik gegeben, sondern werden Jugendliche wie auf dem Ballermann gejohlt und fahrende Händler ihre Äpfel angepriesen haben. Der Vorwurf kehrt sich gegen seinen Urheber, denn er zeigt, wieviel mehr Caravaggio vom Heiligen begriffen hat als Jacob Burckhardt. (Seite 124)

Falls wir’s hier noch nicht begriffen haben, dann wenn wir die kopfüber hängende Lage des Petrus bei der Kreuzigung recht bedenken: „die Schmerzen müssen ihn jetzt schon zerreißen, ihm schwindelt, wie an den Augen zu erkennen ist, und gleich schießt ihm auch noch alles Blut in den Kopf. Wahrscheinlich wird er sich übergeben müssen, Herr Burckhardt.“ (Seite 127)

Vielleicht kann man über Märtyrer so reden, damit wir begreifen, dass es schlimm war, was sie erduldeten, aber einen genialen Kunsthistoriker wie Jacob Burckhardt muss man doch so nicht abkanzeln… (allenfalls … so wie hier, unter dem Punkt „Kritik“).

Im Namen Sigmund Freuds: Ich will nicht der Prüderie und dem Duckmäusertum das Wort reden, ich habe John Bergers Buch über das Sehen („Das Bild der Welt in der Bilderwelt“) im Sinn, auch Christina von Brauns großes Werk „Versuch über den Schwindel“, Untertitel: „Religion, Schrift, Bild, Geschlecht“, – kurz: mir fehlt das Aufklärerische, der kühne philosophische und wissenschaftliche Gedanke. Und mich stört immer noch, was Kermani so schwergefallen sein musss zu akzeptieren, das Kreuz im allgemeinen, und im besonderen das stählerne, das er sich in Rom auf seinen Schreibtisch gestellt hat. (Seite 53)

(Handyfotos JR)

Nachtrag 21. Oktober 2015

Navid Kermani sagt:

Mystik, das klingt nach etwas Randseitigem, nach Esoterik, nach einer Art Untergrundkultur. Nichts könnte mit Bezug auf den Islam falscher sein. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war der Sufismus fast überall in der islamischen Welt die Grundlage der Volksfrömmigkeit. Im asiatischen Islam ist er es bis heute. Zugleich war die islamische Hochkultur, insbesondere die Dichtung, die bildende Kunst und die Architektur, durchdrungen vom Geist der Mystik. Als die geläufigste Form der Religiosität bildete der Sufismus das ethische und ästhetische Gegengewicht zur Orthodoxie der Rechtsgelehrten. Indem er an Gott vor allem die Barmherzigkeit hervorhob, im Koran hinter jeden Buchstaben sah, in der Religion stets die Schönheit suchte, die Wahrheit auch in anderen Glaubensformen erkannte und ausdrücklich vom Christentum das Gebot der Feindesliebe übernahm, durchdrang der Sufismus die islamischen Gesellschaften mit Werten, Geschichten und Klängen, die aus einer Buchstabenfrömmigkeit allein nicht abzuleiten gewesen wären. Der Sufismus als der gelebte Islam setzte den Gesetzesislam nicht etwa außer Kraft, aber er ergänzte ihn, machte ihn im Alltag weicher, ambivalenter, durchlässiger, toleranter und durch die Musik, den Tanz, die Poesie vor allem auch sinnlich erlebbar.

Kaum etwas davon ist übrig geblieben. Wo immer die Islamisten Fuß fassten, angefangen schon im 19. Jahrhundert im heutigen Saudi-Arabien bis zuletzt in Mali, machten sie zuerst den sufischen Festen ein Ende, verboten die mystischen Schriften, zerstörten die Gräber der Heiligen, schnitten den sufischen Führern die langen Haare ab oder töteten sie gleich. Aber nicht nur die Islamisten. Auch den Reformern und religiösen Aufklärern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts galten die Traditionen und Sitten des Volksislams als rückständig und veraltet. Nicht etwa sie haben das sufische Schrifttum ernst genommen, sondern es waren westliche Gelehrte, Orientalisten wie die Friedenspreisträgerin von 1995, Annemarie Schimmel, die die Handschriften ediert und damit vor der Vernichtung bewahrt haben.

Ich höre nachträglich die Rede Navid Kermanis zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und empfehle sie weiter: man kann sie hier in voller Länge hören. Und hier nachlesen. Ein guter Ansatz zur unumgänglichen Selbstkritik des Islam? Die Kritik kann noch weiter gehen… Aber der richtige Nerv ist getroffen.

Übrigens: Auch die Rezensionen zu dem haltlosen Buch von Hamed Abdel-Samad sollte man zur Kenntnis nehmen, bevor man sich von unwissenschaftlichen Suggestionen und Verzerrungen hinreißen lässt: hier. Und auch hier.

Das Foto in der Süddeutschen, das Kermani beim Tee mit Martin Mosebach zeigt, bei dem es sich wohl um den vielzitierten „katholischen Freund“ handelt, erinnert mich an eine Lektüre Ende 2007, „Das Beben“ von MM, das ich begann, weil es in Rajasthan spielt, und vorzeitig beendete, indem ich an den Rand schrieb: „preziöse Prosa“. Und mir fällt ein Buch ein, das ich im Jahre 1987 nach wenigen Seiten beendete, es hieß „Das Leben Muhammads“ und war mir mit einem netten Begleitbrief von einem Dr. Djavad Kermani übersandt worden:

Kermani Muhammad Brief

Offenbar hat er sich auf Sendungen mit Aufnahmen der Konzerte bezogen, die Moh. Reza Shadjarian damals für den WDR gegeben hatte: siehe das Foto hier. Es war die letzte Zeit der Khomeini-Ära, und ich habe, glaube ich, auf den Brief nicht im erwarteten Sinne reagiert, weil es mir wirklich „nur“ um iranische Musik, Kultur und Poesie ging. Werde ich jetzt das Buch lesen? Ich glaube nicht.

Kermani Muhammad Titel

Nur eine Strophe von Pindar verstehen…

Oder sogar mehrere Strophen?

Es geht um Pindars 12. pythische Ode, die „dem Midas, Aulosspieler von Akragas“ gewidmet ist. Der Anlass für mich, dieses Thema zu behandeln, ist weiterhin das Buch, in dessen Mittelpunkt gerade dieses griechische Gedicht steht: „Musik und Rhythmus bei den Griechen“ von Thrasybulos Georgiades. Ich gebe als erstes die dort abgedruckte erste Strophe der Dichtung, ins Deutsche übertragen von Franz Dornseiff. Sie folgt im Buch auf eine wörtliche Übersetzung, der wiederum der griechische Originaltext und ein Schema des Versmaßes vorangeht, das einem helfen soll, den griechischen Vers im rechten Rhythmus zu lesen. Vorweg sollte man möglicherweise die Frage klären: Wer ist Pindar überhaupt? (Er lebte von 522 v.Chr. bis 446 v.Chr.) Oder vorweg: Was sind die pythischen Spiele? Was hat es mit Akragas auf sich, dem Fluss und der Stadt gleichen Namens, aus der offenbar der Aulosspieler Midas stammt?

Ich lese also den Text. Ich verweile bei jeder Zeile, löse einen Kernsatz heraus: Worum bittet der Dichter?

PINDAR 1 a

Er bittet die Stadt, das Loblied (die „Bekränzung“) anzunehmen und den Midas selbst [ehrenvoll zu empfangen], der bei den pythischen Spielen („aus Pytho“) ganz Hellas besiegt hat in einer Kunst, die dort einst (von Pallas Athene) erfunden wurde.

Hier die Alternativ-Übersetzung eines berühmten Altphilologen, Friedrich Thiersch (1784-1860):

Dir flehen wir, Freundin der Lust, vor Städten des Menschengeschlechts / Herrlichste, Persephona’s Sitz, wohnend an Akragas‘ Bett / Auf Triften der Heerden die schönumbaute Höh‘, o Königin, / Nimm die Bekränzung des Sieges hold an, die, bey Ewigen und / Bey Männern geehret, von Pytho aus dem Midas Ruhm gewährt, / Ihn selber zugleich, der da Hellas weit besiegt durch Kunst, so einst / Pallas erfand und der furchtbaren Gorgonen / trauervoll vortönend Weh darstellt, Athana,

Von ihm stammen auch Erläuterungen, die hier wiedergegeben seien:

Zu „o Königin“:

Er ruft Akragas an, die Nymphe des Flusses, der diesen Namen trug, und die Vorsteherin der Stadt gleichen Namens, die an seinem Bett an einer Anhöhe erbaut war, und mischt die Bezeichnungen, welche ihr als der Göttin und der Stadt zukommen.

Zu Athana:

Athene leitete den Perseus zum Mord der Gorgone Medusa, der Tochter des Phorkos oder Phorkys. Als er dieser das Haupt abgehauen, wehklagten um sie ihre beyden Schwestern Stheno und Euryale, und zugleich erklangen einstimmend aus den Köpfen der Schlangen, die ihre Häupter umgaben, jene feinen Töne, welche auf Rohr nachahmend, die Athene erfand.

Und vorweg zum „Flötenspieler“:

„Dieser siegte in der 24. Pythiade Olymp 72,3 vor Chr. 490. im Jahre der Schlacht bey Marathon) und in der fünfundzwanzigsten. Auch soll er in den Panathenäen gesiegt haben. Man erzählt, dass diesem Flötenspieler ein eigener Zufall begegnete. Denn während er im Wettkampfe blies, brach ihm das Zünglein (Mundstück) doch er flötete auf den Rohren, wie auf einer Syrinx weiter. Die Zuhörer aber ergötzten sich an dem fremden Klang der Töne, und so siegte er.“ Der S c h o l. (Quelle)

Die Flöte nämlich bestand aus einem langen Schaft, aus welchem in einer Reihe kleine Rohrpfeifen hervorragten, die mit den Fingern, wie an unsern Flöten, geschlossen und geöffnet wurden. Dadurch bekam sie Ähnlichkeit mit einer Syrinx, nur daß bey dieser die Pfeifen verschiedner Länge und nicht durch Zwischenräume getrennt waren.

Die Angabe, dass es eine Flöte war (und nicht etwa eine „Oboe“), ist sehr fragwürdig, und offenbar vom Kommentator aus seinem eigenen, einem anderen Umfeld erschlossen. (JR)

Und wie gehts weiter? Die 2. und 3. Strophe erzählt, wie Athene „jene feinen Töne“ (?), den „gewundenen Klagegesang“ [er]fand:

PINDAR 1 b

Phorkos (oder Phorkys) ist der Meeresgott, der gemeinsam mit Keto die Gorgonen Medusa, Euryale und Stheno gezeugt hat. Seriphos (Serifos) = griechische Insel, auf der Polydektes als König herrschte. Danae ist die Mutter des Perseus, sein Vater ist Zeus, der ihn durch „goldenen Regen“ gezeugt hatte. (JR)

PINDAR 1 c

Ich unterbreche die „Intensiv-Lektüre“, um die Ankunft einer neuen CD zu ehren, die möglicherweise zur Arbeit passt. (Kein Zufall!)

Creta Lyra CD (bitte anklicken!)

Fortsetzung PINDAR Strophe IV

PINDAR 2

Ich bringe zum Abschluss die inhaltliche Zusammenfassung, die Georgiades gelungen ist:

Der Gesang beginnt mit der Anrufung der Stadt Agrigent, die PINDAR sich als wirkendes Wesen vorstellt. Sie soll den bekränzten MIDAS empfangen, der Griechenland (das Griechenland im engeren Sinn) im Aulosspiel, jener von ATHENA erfundenen Kunst, besiegte. PINDAR sagt nun, wie das Aulosspiel durch ATHENA erfunden wurde: Als PERSEUS MEDUSA enthauptete, hörte ATHENA das Klagen der Schwestern. Und nachdem sie PERSEUS von seinen Mühen erlöst hatte, erfand sie das Aulosspiel, und zwar eine bestimmte Weise, um jenes herzzerreißende, lauttönende Wehklagen darzustellen. Sie übergab den Menschen diese Modellweise, die, als ruhmvolle Mahnerin, das Volk zu Wettkämpfen zusammenführte und nannte sie die Viel-Häupter-Weise (wohl in Anspielung auf die vielen Köpfe der Schlangenhaare der MEDUSA und ihrer Schwestern.) Diese Weise durchzieht das dünne Kupfer und das Schilfrohr (nämlich das Mundstück) des Aulos – das Schilfrohr, das in der Nähe der Stadt der Chariten mit den schönen Reigenchören, im heiligen Bezirk der Kephisis (am Kopiassee in Böotien) wächst, das Schilfrohr (und somit der Aulos), das ein treuer Zeuge der Tänzer ist. Der Gesang schließt mit einem Rückblick, mit einer Besinnung auf das soeben Vernommene, die sich sowohl auf PERSEUS‘ Tat und die Erfindung des Aulos durch ATHENA als auch auf den Sieg des MIDAS bezieht: Wenn ein Glück den Menschen zuteil wird, so geschieht dies nicht ohne vorausgegangene Mühe. Bringen kann es vielleicht sogleich ein Dämon, denn das Schicksal ist unabwendbar. Die Zeit wird kommen, die, wenn sie einen auch mit Unverhofftem traf, wider Erwarten manches gibt, manches aber noch nicht.

Quelle Thrasybulos Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen / Zum Ursprung der Musik / rororo rde Rowohlt Hamburg 1958 (Seite 9)

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Aulos player ca. 480 BC. From tomb 22 of the Gaggera necropolis in Selinunte, Sicily. Wikimedia

Das Hören der Worte

Von Klang und Rhythmus 

Selten hört man gut gesprochene Lyrik. Auch nicht von prominenten Schauspielerinnen oder Schauspielern, gerade von ihnen nicht. Diese Form der Sprache und des Sprechens kommt offenbar als Ausbildungsfach nicht vor. Sprechen? Es ist doch typisch, dass angesichts dieses Themas zuerst das Wort „hören“ auftauchte („Selten hört man gut gesprochene Lyrik“), nicht das Wort „sprechen“. In Bantels Lexikon „Grundbegriffe der Literatur“ (1962)  lese ich: „die eigentliche lyrische Haltung … ist das liedhafte Sprechen“ (nach W.Kayser). Wie aber verwandeln sich Worte in Musik und Rhythmus? Indem ich sie als solches höre, – auch wenn das Gegenüber nicht erfreut ist, sagt schon mal jemand: ich höre deine Worte wie Musik. Sie mögen als bloßer Inhalt gemeint sein, in den Ohren der Liebe wird daraus Musik. Sie sind mit einem besonderen Fühlen verbunden, einem Fühlen, das Außen und Innen verbindet.

Manchmal findet man den lapidaren Satz: „Lyrik verlangt den Sprachklang, muß also laut gelesen werden“, so in meinem alten Schulbuch „Griechische Lyrik“ (Rudolf Beutler 1952), aber habe ich das je in einer deutschen Gedichtsammlung gefunden? Gewiss, Lautmalereien, Klangspielereien  wurden in der Analyse erwähnt, aber sprach man darüber, wie es klingen muss, wenn man die Verse spricht, über den Tonfall, – der allerdings ebensoviel mit Sinn wie mit Melodie zu tun hat?

Wolfgang Kayser sagt in seinen Vorlesungen zur Geschichte des deutschen Verses (1960):

Sicher ist in den Jahrhunderten seit der Erfindung der Buchdruckerkunst und wohl besonders durch die allgemeine Schulpflicht unser Ohr zugunsten des Auges vernachlässigt worden. Andere Jahrhunderte und andere Kulturformen verfügten über ein ungleich feineres und geschulteres Gehör, als wir es heute besitzen. Nur so ist es zu erklären, daß in Rom die Plebs, also das literarische ungeschulte Volk, bei einem fehlerhaften Vers zu pfeifen begann; ich habe es in Portugal, wo ein großer Teil der Bevölkerung noch nicht lesen und schreiben kann, selber erlebt, wie sich unter dem Volk Unbehagen ausbreitete, wenn beim Rezitieren siebensilbiger Verse eine Unregelmäßigkeit unterlief. Wer bei uns hört noch etwa inmitten des Blankverses sechshebige Zeilen, wie sie etwa bei Grillparzer vorkommen? Sicher ist unser Gehör, seitdem wir lesen können, für den rein akustischen reiz der Dichtung stumpfer geworden. Es steht dahin, ob wir diese Tatsache mit dem üblichen Hinweis, daß früher alles besser war, bedauern sollen. Es ist möglich, daß gewisse Vorgänge in der Versgeschichte mit dem Gehörverlust in Zusammenhang stehen. So scheint es, als ob die Zeile an Bedeutungsschwere eingebüßt hätte, ja als ob auch eine Tendenz bestünde, die Bedeutung der Strophe zu mindern, eine Bewegung, die wir etwa seit der Romantik, wie wir sehen werden, verfolgen können. (…)

Aber unsere akustisch beschränktere Aufnahmefähigkeit für Dichtung hat wohl noch einen anderen Grund: das Auswendiglernen, ein Prozeß, durch den das Gelesene ja auf die Ebene des gesprochenen Wortes gehoben wird, ist so gut wie ganz aus der Übung gekommen. Noch die vorige, also meine Generation, konnte eine Fülle von Gedichten ihrer Lieblingsschriftsteller: Rilke, George, Hofmannsthal auswendig. Die heutigen Studenten setzen mich immer wieder durch den Mangel an auswendig Gewußtem (par coeur, also vermittels des Herzens Gewußtem, wie der Franzose sagt) in Erstaunen.

Quelle Wolfgang Kayser: Geschichte des deutschen Verses / Zehn Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten / Francke Verlag Bern und München 1960 (Seite 12 f)

Wenn wir intuitiv zu wissen glauben, wie ein Gedichtvortrag klingen sollte, muss es uns eigentlich erstaunen, dass der offenbar völlig andere Vortrag eines antiken Gedichtes nicht mehr Aufmerksamkeit erregt hat und intensiver diskutiert wurde; meist genügte – auch in der Fachliteratur – der Hinweis, dass es sich um quantitierende Metrik handelt. Kein Wort darüber, dass selbst die im Alltag gesprochene Sprache der alten Griechen quantitierend ablief, die absolute Länge oder Kürze der Silben lag nicht im Ermessen der Sprecher. Und die Akzente, die man heute in den griechischen Wörtern sieht und als „Akzente“ auffasst, bedeuteten lediglich Tonhöhen-Unterschiede! Sicherlich keine willkürlichen, sondern etwa eine Quinte…

Hat man es gewusst? Hat man darüber gestaunt? Hat man je in Betracht gezogen, dass ein ganz anderes Denken und Fühlen dahinterstecken muss?

Hat man wahrgenommen, dass ein Buch wie „Musik und Rhythmus bei den Griechen“ von Georgiades eine Revolution bedeuten musste? Man kann es nicht beiläufig zitieren, wie dieser Fachmann altgriechischer Metrik. Er  w u n d e r t  sich nicht, er tut so, als sei die Sprach-Musik im Alltag eine alltägliche Geschichte:

Die griechische Dichtung ist  q u a n t i t i e r e n d, sie beruht auf dem geregelten Wechsel langer und kurzer Silben im Gegensatz zur byzantinischen und modernen Dichtung, die akzentuierend ist, d.h. einen dynamischen, expiratorischen Iktus hat. Auch der bei Marsch- und Arbeitsliedern hinzutretende Rhythmus gibt dem griechischen Wort keinen dynamischen Akzent; das Fehlen des Iktus ist eine linguistische Erscheinung, die nicht durch Tanzen, Marschieren, Dreschen, Mahlen, Schmieden u.ä. während des Singens aufgehoben werden kann. Die Akzente bezeichnen musikalische Tonhöhen (Barytonese, Oxytonese), durch die gerade ein Sprechtonfall (Iktus) ausgeschaltet wird. Der Rhythmus der griechischen Sprache ist also zugleich sprachlicher und musikalischer Natur.

Quelle Dietmar Korzeniewski: Griechische Metrik / Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1968

Und genau anschließend an diesen Satz findet man die Anmerkung mit der Nennung des Georgiades-Buches, aber auch zweier winziger Artikel, worin sich zeigen mag, dass die Wissenschaft längst informiert ist, aber niemand sich wundert und der Erwähnung wert findet, dass hier ein riesiges Potential an Erkenntnis zu erschließen wäre.

Korzeniewski Anmerkg Georgiades Quelle wie vorher

Nur noch ein einziger Hinweis zum musikalischen Anteil findet sich im Kapitel zum Hexameter:

Der Hexameter ist also von Haus aus kein Sprechvers wie der iambische Trimeter, sein Vortrag erfolgte wohl ursprünglich in einer Art Sprechgesang.

Korzeniewski Hexameter Quelle wie vorher

Es ist diese merkwürdige Erfahrung, die dem Musikethnologen geläufig ist: unter allen Kulturäußerungen anderer Völker werden die musikalischen am wenigsten wichtig genommen. Weil die Ohren  dafür nicht ausgebildet sind. Und was man nicht aufschreiben kann, ist nicht recht vorhanden. – Man könnte einwenden: niemand von uns hat Homer sein Epos vortragen hören. Gut, aber haben Sie sich schon mal Zeit genommen, einem Epensänger aus Japan oder aus Niger zu lauschen? (Das ist nicht das gleiche, natürlich nicht, aber – unser Interesse könnte das gleiche sein.)

Es entstehen viele Fragen, auf die Georgiades eingeht: wann die griechische Sprache etwa ihren quantitierenden Charakter verloren hat, wie sich diese Einheit von Rhythmus, Musik und Sprache (musikēauflösen konnte, – was geschah geistesgeschichtlich, bewusstseins-geschichtlich? Ich zitiere etwas wahllos:

Es scheint, daß Ansätze zu einer Wandlung ziemlich früh vorhanden sind: Gegen Ende des 5. Jahrhunderts v.Chr., also noch in der Blüte der klassischen Zeit, findet man gewisse Anzeichen, die man dahingehend deuten muß. Um diese Zeit entstand der ’neue Dithyrambos‘, dessen Neuerungen die konservativ Eingestellten sehr beunruhigten. Man warf PHRYNIS und TIMOTHEOS vor, daß darin die musikalische Komponente zu selbständig sei, daß sie eigene Wege gehe. Hier also begann wohl eine Trennung zwischen ‚Dichten‘ und ‚Komponieren‘. Sie zeigten sich wahrscheinlich am deutlichsten in der Rhythmik: Bis dahin hatte allein die Sprache den Rhythmus bestimmt. Das Verhältnis der langen zu den kurzen Silben war in der Sprache gegeben. Jetzt begann man, die Silben freier zu behandeln. (…)

Die Sprache verlor ihre rhythmisch-körperhafte Festigkeit. Die Wörter verloren ihren Eigenwillen. Sie leisteten keinen festen Widerstand mehr. Sie bekamen etwas Schattenhaftes. Sie ließen sich nicht nur neinem selbständigen musikalischen Rhythmus, sondern auch dem Willen des Subjekts anpassen. Sie wurden willige, geschmeidige Instrumente im Dienste des Sprechenden. Eine neue Art des Sprechens bahnte sich an: das, was wir heute unter ‚Sprechen‘ verstehen, ein Sprechton, der dem Bedeutungszusammenhang dient und darüber hinaus auch eine in jeder Hinsicht subjektive Färbung annehmen kann (…). (Seite 49 f)

Der antike, der Musikē innewohnende Rhythmus scheint aber so tief in der Seele jener Menschen verwurzelt gewesen zu sein, daß er für sich weiterzuleben vermochte, selbst nachdem die Einheit, die Musikē, sich aufgelöst hatte. Als der altgriechische feste Leib der Sprache, der Musikē, zusammenschrumpfte und sich in die abendländische Sprache verwandelte, hinterließ er die Hülle, die nunmehr ein Eigenleben zu führen begann, als ‚Musik‘ und als rein musikalische, von der Sprache unabhängige Rhythmik. (Seite 53)

(Fortsetzung folgt)

Ach, noch leben die Sänger; nur fehlen die Taten, die Lyra
Freudig zu wecken, es fehlt, ach! ein empfangendes Ohr.

(Friedrich Schiller)

Von der Angst zur Höflichkeit

Timor Dei

Heute kam ich am Gymnasium Schwertstraße vorbei, hörte die typischen Pausengeräusche aus dem Innern, fragte mich, ob in Solingen wohl schon an den Schulen das rufende Sprechen eingeübt wird, ein Schreien fast; mir erschien es seit je als eine ortsgebundene Taktik, auch bei kleinen Meinungsverschiedenheiten sofort den ganzen Luftraum zu besetzen, noch ehe man an den Austausch von Argumenten gehen kann. Die Frage ist, ob sich eine weitgehend höfliche Auseinandersetzung unter Jugendlichen überhaupt durchsetzen ließe (höflich durchsetzen?), ehe nicht die Grundregeln der Logik und des Sprachverständnisses erlernt und als solche (an)erkannt wurden. „Bauchgefühl“ und „emotionaler Einsatz“ stehen gesellschaftlich hoch im Kurs. Während ich noch überlegte und meine gestrige Zeitungslektüre zu rekapitulieren suchte, hatte ich schon das Smartphone gezückt und den ehernen Schuleingang fotografiert:

Spruch Schwertstraße fern

Es ging mir um den Spruch, der mich wiederum an den Spruch am gelben Gemäuer meines alten Gymnasiums in Bielefeld erinnerte; ich habe ihn schon früher einmal beschworen: nämlich hier. DEO ET LITERIS, – in genau dieser Schreibweise, die unter Altsprachlern noch elegant problematisiert werden konnte. Und immerhin waren es ja zwei Bereiche, die durch das „Et“ nicht nur verbunden, sondern auch sichtbar getrennt wurden. Und hier? Gibt es hier überhaupt noch Latein, so dass man klären könnte, wie es zur Furcht Gottes kommen konnte, ob das Wort mehr mit Ehrfurcht oder mit Angst zu tun hat, in jedem Fall aber als Furcht vor Gott verstanden werden muss, was bei gottesfürchtigen Kindern natürlich außer Zweifel steht. Und sicher geht es nicht darum, den TIMOR DEI nach dem Vorbild des heiligen Augustinus (oder Kierkegaards?) unter dem Doppelaspekt von Furcht und Angst zu betrachten. Aber ist es nicht ein Schlag ins Gesicht der Philosophie, dass eine solche „Emotion“ von vornherein als der Weisheit Anfang  apostrophiert und gewissermaßen petrifiziert wird? Warum eine solch massive, freiheitsberaubende Vorgabe?!

Spruch Schwertstraße nah

Die erwähnte Zeitungslektüre betraf eine der zahllosen „Gewissensfragen“, die niemand so brillant behandeln kann wie ein gewisser Dr. Dr. Rainer Erlinger im Magazin der Süddeutschen. Diesmal ging es um ein – sagen wir – Übermaß an Höflichkeit, überraschend war mir nur, dass wir es täglich anwenden, etwa wenn ich frage: „Darf ich um das Salz bitten?“ Ich erwarte natürlich nicht, dass der andere mit „ja“ antwortet und weiterfrühstückt, als sei nichts gewesen. Er soll handeln, als hätte ich gesagt: „Bitte, gib mir das Salz!“ Es soll aber so scheinen, als ließe ich ihm eine Alternative, es geht schließlich um die Freiheit des Menschen.

Ich erlebte einmal die Situation, dass ich, vergeblich nach einem Stift suchend, mein Gegenüber fragte: „Haben Sie vielleicht einen Stift?“, und er antwortete ausgesucht höflich: „Darf es auch ein Rotstift sein?“, was ich bejahte, worauf die Entgegnung kam, „tut mir leid, hab ich auch nicht!“ Das hatte er schon vorher gewusst, er war jedoch ein Spaßvogel. Davon ist jetzt nicht die Rede. Auch nicht von der sprichwörtlichen japanischen Höflichkeit, die dem, der etwa nach dem Weg zum Bahnhof fragt und in eine Richtung weist, um keinen Preis eine Korrektur zumuten mag: „Ja, das ist richtig, aber noch besser wäre es, Sie gingen diesen Weg …“ und dabei verschämt in die Gegenrichtung weist. Ob es heute noch genau so ist, kann ich nicht sagen: Im Jahre 1973 beschrieb Dietrich Krusche in seinem Buch „Japan – Konkrete Fremde / Eine Kritik der Modalitäten europäischer Erfahrung von Fremde“ das Phänomen der japanischen Ritualisierung der Höflichkeiten auf den Seiten 75 bis 85. Zitat zur Auskunft, wie denn das Wetter sei: „Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich sagen, die Sonne scheint.“

Heute gibt es dazu – wie ich aus der SZ-Kolumne der „Gewissensfragen“ lerne – eine Theorie, die nicht nur Japan, sondern uns alle betrifft: sie heißt nun „psycholinguistische Theorie der Höflichkeit“ und wurde 1987 von Penelope Brown und Steven C. Levinson vorgelegt. Auf die Vorarbeiten bezieht sich Harald Weinrich 1986 in seiner großen Rede „Lügt man im Deutschen, wenn man höflich ist?“, im pdf. nachzulesen hier.

Das ist ein sehr nützlicher Hinweis, dennoch finde ich, dass der hochintelligente Ratgeber des süddeutschen Magazins am Ende doch nicht ganz zufriedenstellend argumentiert. Es geht um ein Schild im Wartezimmer: „Sie dürfen noch kurz Platz nehmen.“ Früher habe es geheißen: „Bitte nehmen Sie doch Platz“.

Unter Berücksichtigung der Theorie der Höflichkeit sagt Erlinger nun, die Psychologie unterscheide

ein positives Gesicht, ein Bedürfnis nach Anerkennung, und ein negatives Gesicht, das Bedürfnis nach Freiheit und Autonomie. Höflich zu sein, bedeutet in dieser Theorie, sogenannte face threatening acts, Handlungen, die das Gesicht des Gegenübers bedrohen, zu vermeiden. Hier geht es um das klassische Problem der Aufforderung, etwas zu tun, die, auch wenn sie mit einem „Bitte“ versehen wird, das Gegenüber in seiner Freiheit und Autonomie, dem negativen Gesicht, bedroht. Deshalb wird sie sprachlich verkleidet (…)

„Sie dürfen noch kurz Platz nehmen“ sollte man nicht wörtlich als anmaßende Erteilung einer Erlaubnis auffassen, sondern als – sprachlich etwas unglücklichen – Versuch, eine direkte Aufforderung, die ja trotz „bitte“ etwas von einer Anordnung hat, zu vermeiden. Deshalb liegt darin auch keine Arroganz, sondern im Gegenteil das Streben nach Höflichkeit.

Quelle Süddeutsche Zeitung Magazin „Gewissensfrage an Dr. Dr. Erlinger“ 19. Juni 2015 Seite 6

Mir scheint, dass hier etwas unberücksichtigt bleibt, was nicht nur sprachlich leicht verunglückt ist, sondern ebenso nach dem Reglement der Höflichkeit: das Wörtchen „kurz“, das eine unerträgliche Einschränkung meiner Freiheit avisiert, da ich möglicherweise geplant hätte, mich für eine sehr lange Zeit im Wartezimmer einzurichten, etwa in Anbetracht einer guten Lektüre.

Im Ernst: hier soll mir suggeriert werden, dass die Wartezeit ohnehin nur kurz ist, ich soll sie aber höflicherweise in meine Verantwortung übernehmen (für den Fall, dass es doch länger dauert). Wie lange werde ich unter diesen Umständen mein Gesicht wahren können?

Im aktuellen SPIEGEL (Nr. 26 / 20.6.2015 Seite 125) macht sich Nils Minkmar gerade Gedanken, ob der heute gängige Konversationsbeginn „Alles gut?“ wirklich geeignet ist, die früher übliche Formel „Wie geht es Ihnen?“ zu ersetzen.

Es war gegenüber der heute beliebten Formel ein nicht invasiver Gruß: Er bezog sich im Verständnis der meisten Zeitgenossen auf die Gesundheit oder den frischen Moment und überließ es weitgehend dem Befragten, wie er es verstehen sollte.

„Alles gut?“ ist dagegen eine fragende Wendung mit nahezu kindlichem Vollkommenheitsanspruch. Wie schockiert wären alle, wenn man sie glattweg verneinte. Es ist der Gruß in einer Kultur, in der auch die Erwachsenen sich jederzeit fühlen möchten wie Pippi Langstrumpf im Süßigkeitenladen, und einer digitalen Ökonomie, die vom Versprechen lebt, dass auch der entlegenste Wunsch … [nein, nein, nein!]

Ich schlage vor, zunächst einmal den Gruß, die Begrüßung, nicht mit dem harmlosest möglichen Gesprächsbeginn gleichzusetzen; es ist doch nur eine Ermunterung, die Andeutung einer Gesprächsbereitschaft (also nach dem „Guten Tag“ oder „Grüß Gott“, bzw. über diesen Gruß, meinetwegen auch über ein erstes „Hallo“, hinaus).

Noch fragwürdiger als die „Alles gut?“-Frage zu Beginn ist wohl die „Alles klar!“-Behauptung zum Abschluss; sie sollte einen nie zu erneuter Nachfrage veranlassen, etwa: was haben Sie gesagt:  A l l e s klar? das hätte ja nicht einmal Aristoteles von sich sagen können! Also könnten Sie mir vielleicht erklären, warum mich der Wandspruch aus einem bayrischen Wirtshaus mein Leben lang verfolgt: „Trink Gott und nicht iß vergiß!“ ??? Und zwar auch, wenn ich gerade den Rätselspruch von aller Weisheit Anfang  an einer Schule betrachte? So steht es wohl heute noch dort als Menetekel an der Wand, im Gasthof Adler neben dem Schloss Kirchheim bei Mindelheim, Bayrisch Schwaben,  in kunstvoll gegliederter, ziselierter Schrift:

Trink          GOTT

Und            Nicht

Iß                 Vergiß

              !

Nicht vergessen: Dante, Mozart

Es ist nur eine Gedächtnisstütze:

Damals auf Texel erinnerte mich ein Zeitungsartikel an Vorarbeiten zu Dante, die im alten Blog vergraben sind. Es soll ja nun erstmal weitergehen, als sei nichts geschehen:  HIER (Friedrich Christian Delius)

Ein interessanter Artikel im Blog „Faustkultur“ dürfte in diesem Sinn weiterführen: HIER (Stefana Sabin)

2 CDs begleiten mich auf Autofahrten: Warum gerade Sinfonien von Carl Friedrich Abel? Gleicht nicht eine der anderen zum Verwechseln? Erstens ist das nicht richtig, zweitens geht es mir um Mozart, drittens um die Übung „strukturellen Hörens“ (Felix Salzer), die ich rekapituliere anlässlich der Grundlagen klassischer Harmoniegänge und ihrer formelhaften Verwertung in der Popmusik. Wieso Mozart? Das soll der nächste Beitrag zeigen, ein Text aus dem Jahre 2005, in dem ich mich mit dem Kind Mozart in der „Sonatenkindheit“ beschäftigt habe und den ich, soweit ich weiß, noch nirgendwo wiedergegeben habe, abgesehen von der TACET-Veröffentlichung.

Abel Cover 1 Abel Cover 2

Zugleich erinnere ich mich an eine SWR-Sendung, die – aus meiner Sicht – an das Booklet zum „Kind Mozart“ anknüpfen sollte, aber auch Hinweise geben sollte, weshalb man Mozart heute oft unterschätzt, ohne zu wissen warum. Hier ist der Anfang des Skriptes vom Dezember 2006 , Bestandteil einer Sendereihe zum 250. Geburtsjahr des Komponisten.

SWR2 Mozart 2006 Musik Spezial: Musikfeuilleton / 21. Dezember 22:03 Uhr bis 23:00 Uhr / Es-dur: Mozart bricht auf! Vom bloßen Dreiklang zur Seelenlandschaft / Von Jan Reichow

Mozart ist schön! Das weiß jeder. Das weiß man schon, ohne genauer hinzuhören. Man weiß es schon so genau, dass man es sich leisten kann, nur noch mit halbem Ohr zuzuhören. Das ist doch Mozart. Das kenn ich. Und man weiß, dass alles gleich schön ist, bemerkt kaum noch, dass man mit einem Füllhorn von angenehmen Motiven überschüttet wird, die sich [dann] alle als irgendwie zusammengehörig erweisen, denn der Eindruck unhinterfragbarer Schönheit ist von vornherein da. War immer schon da.

Aber stellen Sie sich vor, Sie müssten einem gutwilligen Jugendlichen erklären, was eigentlich Mozarts Schönheit ausmacht, – es hat doch überhaupt nichts geholfen, ihn zur Pop-Ikone zu erklären! Zunächst müsste man wohl den Begriff Schönheit streichen und durch etwas anderes ersetzen, z.B. durch den der Lebendigkeit, – obwohl das auch nicht gerade cool klingt.

Den größten Fehler aber könnte man machen, indem man so beginnt:

1) Kleine Nachtmusik: die ersten 4 Takte (auf Klavier in D-dur) ca. 0:10

Zwei Akkorde, Tonika und Dominante, die prominentesten der klassischen Musik, – man könnte auch sagen: die abgegriffensten -, in plakativer Position: einmal rauf, einmal runter, und dann geht’s los!

„Eine kleine Nachtmusik“ – dass sie so übermäßig bekannt wurde, liegt weniger daran, dass sie womöglich anderen Werken Mozarts überlegen ist, als daran, dass es in der Nazi-Zeit einen populären Mozartfilm dieses Titels gab.

Also etwas anderes: Noch einmal die beiden Akkorde, in einer anderen Version: beide in melodisch absteigenden Formen, harmonisch bewegt, – es öffnet sich, es schließt sich. Und dann kommt – o Wunder – der dritte prominente Akkord, die Subdominante, und der Weg zurück. (Wohlgemerkt: es geht hier nicht um Theorie, sondern um pures Hinhören!):

2) 5039 692 Mozart Klavier-Rondo in D-dur KV 485 (Anfang) ca. 0:15

Ich würde besagtem Jugendlichen übrigens auch nicht Mozarts Violinkonzerte vorspielen. Diese Art jugendlicher Spielfreude ist heute wohl erst nachzuvollziehen, wenn man älter ist. „Heute“ sage ich, weil U-Musik und E-Musik seit langem so strikt getrennt werden, dass gerade das Leichte in der „schweren“ Musik nicht mehr ohne ausgiebige Hör-Erfahrung in seiner tieferen Bedeutung erfasst wird.

Vielleicht sollte man es etwas sportlicher oder – sagen wir – technischer angehen: identifizieren Sie einmal Motive wie das eben gehörte, schauen Sie, wie Sie nebeneinanderstehen, wie sie sich gleichen oder verändern, Bausteine gewissermaßen, die wir im Schnelldurchgang identifizieren. 7 Zitate aus 5 Werken, das sollte in unserer schnelllebigen Zeit kein Problem sein, – ein Sprung alle 10 Sekunden… Bedenken Sie, was das Fernsehen unseren Augen mit dem ständigen Wechsel der Kameraeinstellung zumutet. Aber die eigentliche Aufgabe wäre hier, im Sprung auch die Beziehung zwischen den Sprüngen wahrzunehmen. Achtung …

3) Mozart D-dur-COLLAGE b 2’10

a) 5008 129 Mozart Tr. 1 Kleine Nachtmusik KV 525 ab 0:58 bis 1:11

b) 5039 691 1 Mozart Tr. 1 Streichquartett KV 575 ab 0:11 bis 0:28

c) 5008 129 Mozart Tr. 1 Kleine Nachtmusik KV 525 ab 1:04 bis 1:18

d) 5039 692 Mozart Tr. 2 Klavier Rondo in D KV 485 ab 0:21 bis 0:34

e) 5039 691 1 Mozart Tr. 1 Streichquartett KV 575 ab Anfg. bis 0:35

f) 3101 493 (CD Kopie Tr. 6) Divertimento KV 136 ab Anfg. bis 0:18

g) 5052 662 Tr. 3 Klav.quartett g-moll KV 478 letzter Satz 0:53 bis 1:26

Mozartsche Bausteine, – ausgelesen von Köchelverzeichnis Nr. 136 bis 525; man könnte von hier elegant zu dem gern zitierten „Musikalischen Würfelspiel“ kommen, was sich jedoch verbietet, da es glücklicherweise überhaupt nicht von Mozart stammt. Solche Ideen spukten damals allerdings in rationalistischen Köpfen herum: Musik, die sich von selbst komponiert.

Und wir werden uns nun gleich vom D-dur-Mozart trennen, zuvor aber doch noch einen Blick auf sein Violinkonzert D-dur werfen. Ein Fanfaren-Dreiklang als Starter, und eine schrittweise hingetupfte Reaktion: so schreibt der 20jährige Mozart.

4) Anfang Solo Violinkonzert D-dur KV 211 A.S.Mutter A bis 0:23 0:23

Mehr als 10 Jahre vorher hatte der Knabe das Modell solcher galanten Dialektik in London gelernt und bereits folgendermaßen formuliert:

5) Anfang Mozart Sinfonie D-dur KV 19 A bis 0:13 0:13

Sinfonie D-dur, KV 19. Etwas weiter vorn stand in dem Komponierbüchlein des kleinen Wolfgang schon eine Sinfonie in Es-dur, eigenhändig geschrieben, man gab ihr die Köchel-Nummer 18; aber er hatte sie nur zu Übungszwecken abgeschrieben, das Original stammte von dem in London neben Johann Christian Bach maßgebenden Komponisten Carl Friedrich Abel; also ein Modell, vielleicht vom Vater Leopold empfohlen: „so und nicht anders schreibt man heute eine Sinfonie!“

6) Abel (KV 18) Sinfonie Es-dur Tr. 18 A bis 0:28 0:28

Aber noch bevor der Knabe Wolfgang diese Abel-Sinfonie studierte, hatte er bereits etwas Eigenes in Es-dur geschrieben: seine erste Sinfonie, ein erster Versuch, den Apparat eines ganzen Orchesters zu bewältigen.

Auch hier das Ur-Material des Dreiklangs. Statt des getupften Gegensatzes jedoch eine Fläche von Hornklängen, deren Abfolge einer Harmonielehre-Aufgabe ähnelt.

7) Mozart (KV 16) Es-dur Tr. 1 A bis ca. 0:35 (unter Text) 0:35

Und so weiter – der Text allein bringt wenig – man müsste die Musikbeispiele hören. Und ich weiß, dass gerade die Collage (Beispiel 3) auch für Laien (ich apostrophiere gern die „Jugendlichen“, die für diese Detektivarbeit zu gewinnen wären) gut durchhörbar und durchschaubar wäre, – übrigens auch in der Vorbereitung viel Arbeit gemacht hat.

Können Musiker die Wahrheit sagen?

Nicht einmal über Musik?

Sie ist „eine der großen Jazz-, Blues- und Popsängerinnen der Gegenwart“. Und sie sagt:

Einer der Songs, die mich am stärksten geprägt haben, ist der Death Letter Blues von Son House, einem Sänger und Gitarristen, der wie ich aus Mississippi stammte. Es ist ein mächtiges Stück Musik. Jedes Mal, wenn ich es höre, lässt seine Erhabenheit mich innehalten. Es bestärkt mich darin, nicht an den Tod zu glauben. Ich glaube, wir durchlaufen Wandlungen: Wir reisen hin und her zwischen dem körperlichen und dem körperlosen Zustand.

O.K., wenn das keine Empfehlung ist! Ich werde die Aufnahme zig-mal hören, den Sänger beim Singen anschauen, und ich werde auch den Text mitlesen. Mal sehen, was passiert.

Text: HIER.

Gut, ich bin damit noch lange nicht fertig, werde also wiederkehren. (Fehlen nicht einige Strophen?) Aber was hatte die Sängerin denn – offenbar durch den Son-House-Todes-Text angeregt – außerdem noch gesagt?

Es gibt einen Traum, der mich fast ein ganzes Leben lang begleitet hat: Ich fahre mit dem Auto in die Berge, über wunderschöne Hügel, dann wieder durch weite Ebenen. Mal bin ich allein, mal sitzt jemand auf dem Beifahrersitz. Es ist mein Auto, das beste Auto der Welt, eine Limousine aus Deutschland, außen und innen schwarz, mit einem wundervollen Achtzylindermotor. Gelegentlich höre ich dabei Musik, aber keine, die ich kenne. Es ist Musik aus einer anderen Welt, anders als alles, was ich jemals zuvor gehört habe. Eine Mischung aus allen möglichen Instrumenten. Verrückte Resonanzen, betörende Obertöne, himmlische Klangfarben. Wenn ich aufwache, versuche ich, mich an diese Musik zu erinnern. Manchmal schaffe ich es, ein paar Bruchstücke von ihr aufzuschreiben. Aber sie klingt dann nicht so wie in meinen Träumen.

Heinrich Heine: Buch der Lieder (1827):

Heine Allnächtlich im Traume gr

 

Quelle der ZITATE: ZEIT MAGAZIN Nr. 23 3. Juni 2015 Seite 46 „Ich habe einen Traum“ Ein Gespräch mit Cassandra Wilson, aufgezeichnet von Ralph Geisenhanslüke

Quelle des Heine-Textes: hier

Die Traumvision (über dem Heine-Text) kenne ich doch als Film? Allerdings wohl ohne Musik: Es ist ein Reklame-Spot, vermutlich von Mercedes. Und die Musik, die sie dabei gehört haben will, hat sie vergessen, wie Heine das Wort. Aber sie bestand auch nur aus Sounds. Die nun dank bestimmter Worte imaginativ überzeugen sollen: verrückt, betörend, himmlisch… Und sie leisten einfach nichts. Das vergessene Wort jedoch, das nicht benannte, ist es, das einen wirklich bewegt. (Und vor allem die Musik dazu, die von Schumann stammt.)

„Musik aus einer anderen Welt“? – genügt nicht die, die wir haben? Wieso kommt jemand, der einen leibhaften Menschen singen hört, auf die Idee, von einem körperlosen Zustand zu fabeln? Das kommt nicht aus dem Song, sondern aus einer verschwommenen Metaphysik. Man will die musikalische Inbrunst, die man spürt, an allerhöchster Stelle beglaubigt finden.

Aber Musik braucht keine Beglaubigung. Wozu an Worte klammern?

Das Wort, in einer taumelnden Welt

(Z.B. am Morgen ratlos erwachend)

Heute war es etwa die Erinnerung an die gestrige Lektüre der FAZ, Donnerstag, 21. Mai, die Sonne schien, ein starker Wind wehte, der Wald – in 20 Metern Entfernung – stand grün und rauschte, der Buchfink schlug „ohn‘ Unterlass“. Nichts Finsteres. Es war die Überschrift – „Der frechste Dichter aller Zeiten“ – und die Tatsache, dass damit DANTE gemeint ist, und die Schlusszeilen – mit der Kenntnis des ganzen Artikels:

Ein Freudenfest der Sprache, ein Triumph der Poesie über Politik, Poesie und, notabene, Theologie. Als wäre die Dichtung, als wäre die Kunst das einzig Konstante in einer taumelnden Welt.

Und dann am nächsten Morgen Schubert hören (mit Kirschnereit), ein Buch von Georgiades aufschlagen und die Zeilen über Beethoven lesen (‚dona nobis pacem‘), warum er diese Überschrift dafür wählte: ‚Bitte um innern und äußern Frieden‘.

Auch dies erscheint als Folge dieser eigentümlichen Haltung, die das Wort als gegenwärtiges Geschehen, als Handeln auffaßt. Denn wir können sagen: Das Wort entsteht bei dieser Einstellung dort, wo das Ich auf die Außenwelt stößt. Innenwelt kann hier nicht ohne Außenwelt existieren. Dies ist das wesentliche Merkmal der Wiener klassischen Musik, ein nur ihr eigenes Merkmal. Dieser Drang nach Vergegenständlichung des Ich, nach Verinnerlichung der Außenwelt prägte auch die Eigenart von Beethovens Komposition und veranlaßte die Überschrift ‚Bitte um innern und äußern Frieden‘.

Da habe ich also den Katalysator, wissend, dass es an dieser Stelle auf Schubert hinausführen soll, den ich gerade gehört habe, zu dem ich eine schöne Einführung des Pianisten gelesen habe (über die Wanderschaft als Prinzip). Und zugleich ist da dieser Zeitungsartikel über „die Attraktivität der ‚Commedia‘ mit ihrem Jenseitskonzept als Spiegel des Diesseits“:

In den Berlusconi-Jahren wurde Dante fast zum Massenautor, vor allem dank Roberto Benigni. Ich kann nur empfehlen, auf Youtube zu schauen und zu hören, wie Benigni in großen Sälen, auf großen Plätzen Dante sprechend lebendig macht.

Und schon habe ich alles zusammen, was ich brauche, um aus eigenem (?!) Antrieb aktiv zu bleiben. Meine Außenwelt (Dante – aufgrund der Empfehlung von Kurt Flasch, der von FCD als Auslöser genannt wird, mir aber voriges Jahr in Bonn in ähnlicher Funktion begegnet ist), Schubert, Georgiades, ein vorläufig unbestimmbares neueres Erinnerungsfragment, das die Erscheinungweisen von Musik betrifft, die geöffnete Tür, den Wald, den Buchfinken, 1 CD, 1 Zeitungsseite. Der Autor: Friedrich Christian Delius. Merkwürdig genug, dass er auf Dante gekommen war wie ich, aber eigentlich gar nicht so merkwürdig, wenn man dies liest:

Ungelesen, angelesen, achtel- oder halbgelesen, wahrscheinlich gibt es kein Buch in den Regalen der Literaturfreunde in aller Welt, das so selten komplett gelesen wurde wie Dantes „Göttliche Komödie“. Auch ich brauchte mehrere Anläufe. Vier Jahrzehnte lang wollte der goldverzierte 100. Band der Fischerbücherei, den mein Vater, hessischer Landpfarrer und Italien-Freund, in den fünfziger Jahren gekauft und nicht gelesen hatte, von mir aufgeschlagen und gewürdigt werden. Hin und wieder fasste ich Mut, jedes Mal auf den ersten Seiten scheiternd. (…)

Es musste erst Kurt Flasch 2011 mit den zwei großformatigen Bänden, mit seiner präzisen Prosafassung und der „Einladung, Dante zu lesen“ kommen, damit ich die 14 233 Verse noch einmal von vorn und dann bis zum Ende las.

Meer Hafen Texel

In der Tat ging es mir ähnlich, angefangen von dem 100. Fischer-Buch-Band in den 50er Jahren bis hin zum 13.12.2011, als ich erlebte, wie Kurt Flasch seine neue Übersetzung in der Buchhandlung Böttger in Bonn vorstellte und ich „von Stund‘ an“ das Inferno las.

Und folge FCD weiterhin mit Zustimmung und Anteilnahme:

Aber warum? Die Lektüre bleibt ja strapaziös. Bei aller Begeisterung für poetische Raffinesse, bei aller Bewunderung der Phantasiekraft, bei aller Neugier auf den politischen Dante – es gibt genügend öde Passagen, die uns heutige Leser resignieren lassen. Wir verzweifeln an unserer Unbildung, wir ermüden auf den kosmologischen, philosophischen, mystisch-theologischen Etappen am Läuterungsberg und im Paradies. Warum ich durchhielt, kann ich nur erklären, wenn ich ein Betriebsgeheimnis preisgebe.

Ja, bitte – aber welches denn? Warum geht das Zitat nicht weiter? Damit der Leser, die Leserin selbst, sage ich mir, ähnliche Überlegungen anstellt wie ich, – der ich heute morgen gewissermaßen das gleiche Betriebsgeheimnis – wie so oft – in die Praxis umgesetzt habe. Ich höre Schuberts Sonate a-moll D 845, die ich mir schon Mitte der 50er Jahre in den Noten meines Vaters durchgesehen hatte, später war es die andere, frühere Sonate in a-moll, die ich 1959 gründlich studiert habe (als privater Schüler von Hanns-Ulrich Kuntze in Detmold), mühsam fand ich Zugang – mir erschien sie unnötig schwer – , nur der Ernst des Lehrers vermittelte eine leise Vorstellung davon, dass in der Musik etwas ganz anderes passierte (und passieren musste), als ich ahnte. Aber erst Jahre später (durch das Schubert-Buch von Gülke)  begriff ich, dass dies auch in Worten angedeutet werden sollte. Dass dies vielleicht sogar die Voraussetzung sei, zu Schubert vorzustoßen und nicht nur im Vordergrund bei 1000 „schönen Stellen“ stehenzubleiben.

Und auch heute noch geht es mir so, dass ich beglückend finde, wenn jemand, der Schubert wunderbar in klingende Musik übersetzt, zugleich (wie Alfred Brendel) imstande ist, eine Ahnung davon verbal zu übermitteln. Die Anwendung des Betriebsgeheimnisses also heute morgen: Die ebenso einfache wie ohrenöffnende Einführung des Pianisten Matthias Kirschnereit in sein Schubert-Programm zu lesen, zu beherzigen und dann die große Sonate in a-moll von ihm zu hören. Er ist kein effektvoller Redner, was ihn auszeichnet, ist Glaubwürdigkeit:

Mein Klavierlehrer in Windhuk, Namibia, gab mir einst das Scherzo in B von Franz Schubert auf – es sollte das erste Werk des Komponisten sein, welches ich spielte. Ich mochte das kleine Stück: pianistisch nicht sonderlich anspruchsvoll, charmant und heiter – und schon damals faszinierte mich der Umstand, dass der launige Hauptgedanke mal wienerisch behaglich, mal frech und kapriziös daher kommt. Das Erzählen von Geschichten auf dem Klavier hat mich von Anbeginn fasziniert und ich lese hinter den Tönen und Harmonien, Phrasen und Perioden, Seelen- und Naturzustände.

Jahre später erlernte ich während des Detmolder Studiums die a-Moll-Sonate op. 42. Hier bekam ich erstmals eine Ahnung von Schuberts Abgründen, Schuberts Sehnsucht und – von Schuberts Wandern. Ich meine, dass in der Musik Franz Schuberts die Idee des Wanderns ein stilbildendes Charakteristikum darstellt. Dabei ist das Wandern gewiss vielschichtig zu verstehen. Zum einen im wörtlichen Sinne als das Wandern durch Stadt und Land, mal beschaulich, mal rastlos. Zum anderen sehe ich in Schuberts Wandern eine Metapher für die mehr oder weniger permanente Sehnsucht nach glücklicheren Umständen, bis hin zum erlösenden Tod. Besonders eindrücklich manifestiert sich dieses Sujet in den Liederzyklen „Schöne Müllerin“, wo das rauschende Bächlein zum engsten Vertrauten des Protagonisten wird, sowie in der „Winterreise“, wo auch die letzten verbliebenen Hoffnungen zu erfrieren scheinen.

So oder ähnlich hat man es vielleicht oft irgendwo gelesen, aber in dieser einfachen Form – ohne intellektuelles Muskelspiel – und im Zusammenhang mit einer vollkommen glaubwürdigen Interpretation bedeutet es mir als Motivation viel mehr als ein paar Seiten Moments musicaux von Adorno, so sehr ich sie schätze, und in anderen Fällen als Betriebsgeheimnis zu Rate ziehe. – Doch dazu Weiteres von FCD, dem Schriftsteller:

Jeden Morgen vor der Arbeit an einem Prosatext pflege ich mich mit einem Klassiker zu dopen. Zwei, drei Seiten inhalieren, wenige Minuten nur, es kann „Dichtung und Wahrheit“, Jean Paul oder Joseph Roth sein, auch die neuen Übersetzungen der „Kartause von Parma“ oder „Tristram Shandy“, derzeit ist es Jaroslav Hašeks „Die Abenteuer des guten Soldaten Svejk im Weltkrieg“. Mit dem Echo solcher Meisterprosa im Ohr wird es leichter, die Kriterien scharf zu halten und die eigene Sprachmelodie zu finden.

Flaschs Dante half mir 2012 bei der Erzählung „Die linke Hand des Papstes“. Ich arbeitete in Rom, jonglierend mit meinen Erfahrungen, Beobachtungen und Entdeckungen aus zwölf und mehr Rom-Jahren. Da tat es gut, jeden Morgen vor der Arbeit einen Gesang, also rund 140 fein rhythmisierte Zeilen aus der „Göttlichen Komödie“ zu lesen, teils im Original, teils im Flasch, teils im Vezin, mit möglichst wenig Kommentar. Schnell war mit klar, dass Dante mein Verbündeter war.

Was für gute Worte! Genau das möchte ich auch: Franz Schubert zum Verbündeten gewinnen. Nicht unbedingt dank Kirschnereits Interpretation, es begann ja viel früher. Und ich will auch die kleine Ernüchterung nicht unerwähnt lassen, die mir das Werbevideo bereitet, das der Verlag oder die Agentur bereitstellt. Nicht die Worte, die in etwa dasselbe wiedergeben, was der CD-Text des Künstlers schon in aller Kürze bot. Mich interessiert nicht, wie der Künstler einherschreitet oder probeweise die Posen einnimmt, die zu einem nachdenklichen Foto führen mögen. Die Musik bedarf dessen nicht, und der Künstler eigentlich auch nicht.  Hier  Die Kurzweil der fragmentierten Augenblicke ist es kaum, die den Unschlüssigen zu überreden vermag, sondern vor allem die konzentrierte Beobachtung der langen Wanderung von Sonatenanfang bis Sonatenende. Inbegriffen Momente der Ratlosigkeit und des Zweifels. Nonstop 37 Minuten. Man sollte nicht glauben, mit einem Querschnitt auch nur einen Abglanz dessen wahrzunehmen, was den ganzen Schubert ausmacht. Meine Empfehlung: die CD aufzulegen und zuerst die Sonate von Tr. 4 – 7 zu hören. Anschließend – nach einer Bedenkpause – die drei kleineren Stücke Tr. 1, 2 und 3. Und dann könnte wiederum ein Wort aus Kirschnereits Text den Schlüssel liefern, bevor man sich dem „Rest“ der CD überlässt, ein Wort, bei dem allzu feinsinnigen Schubert-Interpreten das Blut in den Adern gerinnt: „eine der triumphalsten Kompositionen Schuberts überhaupt“ – die Wanderer-Fantasie.

Man vergisst, wie oft sich in seinen bedeutendsten Werken „ein dem Leben zugewandter, ausgelassener und gar verwegen draufgängerischer Schubert zeigt“. Das tragische Klischee ist zu einer Wahrnehmungsbehinderung geworden. Denn das Damoklesschwert des Todes hängt über uns allen, – dass wir es wissen, macht uns zu Menschen – aber worauf es ankommt, ist nicht die ziellose Angst und Ratlosigkeit, sondern die erfüllte Zeit, die wir im Zeichen der Kunst verbringen.

Ein letztes Zitat von FCD, damit ich nicht vergesse, weshalb ich mir z.B. eins seiner Bücher besorgen will (gegensätzliche Rezensionen verkraftend, siehe hier):

Ein spezielles Vergnügen also, im skandalsatten und korrupten Rom den Moralisten Dante täglich zehn Minuten bei seinen Gängen und Visionen zu begleiten, bevor ich daran ging, von den Konflikten eines Fremdenführers zu erzählen, vom Geheimnis der linken Hand des Papstes und vom Coup des Augustinus, die Erbsünde zu erfinden und diese Idee dank Bestechung mit achtzig arabischen Zuchthengsten bei Kaiser und Papst durchzupauken. Vergil und Dante mit größtmöglichem Abstand und Respekt in heiterer Bescheidenheit zu folgen, das kann auch im 21. Jahrhundert kein Irrweg sein.

Endlich hatte ich begriffen: Hier schreibt der frechste Dichter aller Zeiten. Und das nicht nur als Gesellschaftskritiker, der seine politischen Gegener und die Schufte seiner Zeit, Päpste und Kaiser inklusive, stracks in die Hölle befördert. Seine größte Frechheit ist keine politische, sondern eine theologische.

Der Dichter schwingt sich zum Weltenrichter auf. Mit der Fiktion seiner Wanderung durch Inferno, Purgatorio und Paradiso nimmt er, natürlich in frömmster Absicht, Gott die schwere Arbeit des millionen- oder milliardenfachen Menschensortierens ab und entthront ihn, zumindest vorläufig, auch wenn er ihm inbrünstig unterworfen bleibt. Das ist der erheiterndste Widerspruch der Commedia, die zu anderen Zeiten als Ketzerei verfolgt wurde.

Quellen

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Mai 2015 Seite 13 Der frechste Dichter aller Zeiten Wer in  die Hölle kommt und wer ins Paradies, entscheidet dieser Poet: Vor 750 Jahren wurde der Weltenretter Dante geboren / Von Friedrich Christian Delius

EDEL Kultur 2012 (Berlin Classics) 0300302BC Franz Schubert Wanderer Fantasie / Matthias Kirschnereit, Klavier

Thrasybulos Georgiades: MUSIK UND SPRACHE Das Werden der abendländischen Musik dargestellt an den Vertonungen der Messe. Springer-Verlag Berlin Göttingen Heidelberg 1954

Nachtrag 1

Angefügt seien ein paar Links zu dem von FCD hervorgehobenen Roberto Benigni: Er rezitiert den ersten Gesang aus dem INFERNO, den Anfang der ganzen Divina Commedia von Dante Alighieri: HIER. Text-Synopse (zum Mitlesen) HIER.

Nachtrag 2 (27. Mai 2015)

Ein Gespräch mit Kurt Flasch in DIE WELT: Hölle, Hölle, Hölle!

Dank an Berthold!

***

Nichts Finsteres. (Zu Pfingsten auf Texel)

WALD Texel

Fiktion und Gefühle

Musik – Bühne – Film

Kürzlich las ich ein Interview mit dem Regisseur François Ozon und es geriet einiges in Bewegung: was sind die Gefühle des Künstlers, wenn er eine Rolle spielt? Im Film ganz anders als auf der Bühne? Spielt er auch Rollen, wenn er am Klavier sitzt? Oder – geigend – die Augen schließt? Auch unglaubwürdig schnell wechselnde Gefühle nach Maßgabe des Komponisten? Wie sehr muss er übertreiben, damit es alle merken? Oder soll er lieber zeigen, dass er den äußeren Ausdruck der Gefühle nur „abruft“? Man will keinen Schauspieler, sondern einen Menschen sehen, der sich erinnert. Wie? Ist denn Schauspieler zu sein ehrenrührig? Nein, aber ein Musiker „spielt“ auf einer anderen Ebene; es passt zu ihm, dass er cool bleibt, während er Leidenschaften entfesselt. Aber bei wem? Darf man auch als Zeuge seiner Entfesselungskünste – betont cool bleiben?

Couperin Miene am Clavecin François Couperin 1717

Man lacht, wenn man sich die Situation vorstellt. Aber ich habe das bei Friedrich Gulda erlebt: er spielte Mozarts A-dur-Sonate in vollkommener Weise, und er schaute dabei ins Publikum: von einem zum andern, mit unbeweglicher Miene, man fühlte sich als Einzelner persönlich gemeint (oder sogar geprüft) , vielleicht weniger von ihm als vom Kunstwerk. „Du musst dein Leben ändern.“

Was ist Leben, was ist Fiktion? Was Wunschdenken? Was Scharlatanerie?

François Ozon wurde gefragt, ob er die Vermischung von Realität und Fiktion auch im wahren Leben schon einmal erlebt habe:

Ja, bei den Dreharbeiten für einen meiner ersten Filme, einen Kurzfilm, ist etwas sehr Dramatisches passiert. Eine der Schauspielerinnen durchlebte eine heftige Krise. Sie verletzte sich während der Dreharbeiten selbst, sie drehte wirklich durch, beschmierte die Wände mit ihrem Blut und kritzelte damit herum. Sie spielte in dem Film eine Frau, die jemanden umbringt, und plötzlich wurde mir klar, dass ich sie als Regisseur so gut auf ihre Rolle vorbereitet und die Geschichte so gut entwickelt hatte, dass sie selbst glaubte, dieser Charakter zu sein. Das machte mir sehr, sehr große Angst.

Quelle Zeitmagazin Nr. 13 26. März 2015 (letzte Seite) „Das war meine Rettung.“ Als eine Schauspielerin durchdrehte, wurde Regisseur François Ozon zu ihrem Psychologen. (Interview: Louis Lewitan)

Soll ich das glauben? Der Regisseur betont auffälligerweise, dass er seine Sache vorher „so gut“ gemacht habe. So gut, dass die Frau nicht mehr weiß, dass sie spielt? An dieser Stelle fing ich an zu begreifen, dass es offenbar einen Riesenunterschied gibt zwischen Theater und Leben, Bühne und Film.

Ich stoße auf folgendes Zitat von Richard Blank („Schauspielkunst in Theater und Film“ Berlin 2001):

Der Alltag ist nicht die Bühne, nicht der Film, und wie verhält sich die Person in diesen Bereichen, die nicht identisch sind? Was ist ‚eine Person als Ganzes‘? Marianne Hoppe machte mich auf einen Aspekt aufmerksam, den ich vorher nicht bedacht hatte. Die Hoppe ist außerordentlich klar im Kopf, hat ein umfangreiches intellektuelles Wissen und die seltene Gabe einer exakten, kühlen Selbsteinschätzung. Als Hannelore Schroth 1987 gestorben war, versuchte ich Marianne Hoppe für eine Rolle zu gewinnen. Sie hat mit fortschreitendem Alter nur noch wenig gedreht und galt als sehr wählerisch. Sie kam in mein Haus, um sich fünf Stunden lang meine Filme mit ihrer verstorbenen Kollegin anzuschauen. Dann sagte sie: „Ich mache die Rolle, okay.“ Als ich mein Entzücken äußerte, unterbrach sie mich: „Aber glauben Sie nicht, dass ich das leisten kann, was die Schroth da bei Ihnen macht!“ Ich war verblüfft. Etwas ratlos erinnerte ich sie daran, dass sie immerhin als die bedeutendste deutsche Schauspielerin der Nachkriegszeit gelte. Sie schien das überhört zu haben, dachte eine Weile nach und sagte dann: „Sie müssen in Ihrem Buch etwas ändern. Streichen Sie alles, wo ich deprimiert oder traurig sein soll!“ Ich glaubte, mich verhört zu haben und antwortete nichts. „Ich kann es nicht“, sagte sie. „Aber gnädige Frau, Sie haben unter Gründgens, in Düsseldorf, auf der Bühne …“ „Die Bühne“, unterbrach sie, „hat nichts mit Film zu tun, rein gar nichts! Auf der Bühne kann ich allerhand darstellen, deklamieren, spielen – aber Film!, da merken Sie doch zumindest bei jeder Großaufnahme, ob einer etwas vortäuscht oder nicht! Im Film muss ich das, was ich spiele, immer auch sein.“ Mir verschlug es die Sprache, und als ich nichts sagte, insistierte sie: „Ich bin weder traurig noch deprimiert. Das mag ein Mangel sein oder ein Tick, aber ich bin es nicht, niemals, basta!“ Ihr Geständnis der Unvollkommenheit war für mich wie eine Offenbarung.

Und ich erinnere mich an einen Text, den ich neuerdings einmal im Zusammenhang mit Diderots Schrift „Paradox über den Schauspieler“ abgeschrieben habe. Ich kannte ihn seit meiner Schulzeit, und zwar aus dem „Deutschen Lesebuch“ (Walter Killy 1958): „Der beseelte und der psychologische Mensch“ von Paul Kornfeld, geschrieben 1918. (Da spielte der Film also noch keine Rolle.) Es ist nirgendwo ersichtlich, ob Kornfeld sich auf den Diderot-Essay bezog; mir war er damals, als ich Kornfeld zum erstenmal las, ohnehin nicht bekannt. (Heute ist das Paradox des Schauspielers für mich ein Fass ohne Boden geworden.)

Der Mensch des Dramas, wie der jeder Kunst, und wie alle Kunst, ist, losgelöst von den Bedingungen der Wirklichkeit und von allen Beschränkungen, Hemmungen und Zufälligkeiten, in Parallelität zu seinem Wesen und Inhalt, pathetisch, und Schauspieler, die Dramengestalten so darstellen, wie diese wären, wenn sie unserem Leben angehören würden, spielen nicht Theater und stellen nicht Kunst dar, sondern verstellen sich nur. Dem Menschen nachzumachen, genügt nicht, um den Menschen darzustellen. So befreie sich also der Schauspieler von der Wirklichkeit und abstrahiere von den Attributen der Realität und sei nichts als der Vertreter des Gedankens, Gefühls oder Schicksals! Muss er auf der Bühne sterben, so gehe er nicht vorher ins Krankenhaus, um sterben zu lernen, und nicht in die Kneipe, um zu sehen, wie man’s macht, wenn man betrunken ist. Er wage es, groß die Arme auszubreiten und an einer sich aufschwingenden Stelle so zu sprechen, wie er es im Leben niemals täte; er sei also nicht Imitator und suche seine Vorbilder nicht in einer dem Schauspieler fremden Welt, kurz: er schäme sich nicht, daß er spielt, er verleugne das Theater nicht und soll nicht eine Wirklichkeit vorzutäuschen suchen, die ihm einerseits niemals voll gelingen könnte, die andererseits aber auch nur dann aufs Theater zu stellen wäre, wenn die dramatische Kunst sich so heruntergebracht hätte, nur eine mehr oder weniger gelungene, und sei es mit Empfindungen, sei es mit moralischen Forderungen, sei es mit Aphorismen durchtränkte Imitation der körperlichen Realität und Psyche des Alltags zu sein.

Wenn der Schauspieler die Gestalten im Erlebnis der Empfindungen oder des Schicksals, das er darzustellen hat, und mit diesem Erlebnis adäquaten Gesten, und nicht in der Erinnerung an Menschen, die er von dieser Empfindung erfüllt oder diesem Schicksal verfallen gesehen hat, formen, ja, sogar diese Erinnerung vollkommen aus seinem Gedächtnis bannen wird, dann wird er erfahren, daß gerade sein Ausdruck eines Gefühls, das doch nicht wirklich und dessen Anlaß nur fingiert ist, reiner, eindeutiger und stärker sein wird, als der jenes Menschen, dessen Gefühl aus wirklichem Anlaß wirklich ist; denn des Menschen Ausdruck kann nie eindeutig sein, weil er selbst nie eindeutig, indem er niemals nur Eines und, wäre er nur Eines, es immer in anderer Beleuchtung ist. Glaubt er nur einem Erlebnis hingegeben zu sein, so sind es doch unzählige psychische Tatsachen, die in ihm existieren und manches verfälschen: der Schatten der gegenwärtigen Umgebung, der Schatten der Vergangenheit fällt auf ihn.

Quelle Das Junge Deutschland / Jahrgang 1 / Nr.1, Berlin 1918 (Rowohlt), zitiert nach „Zeichen der Zeit“ Herausgegeben von Walther Killy Ein Deutsches Lesebuch 4 Fischer Bücherei Frankfurt am Main und Hamburg 1958 (Seite 154)

Eine Erweiterung des Arbeitsfeldes ergibt sich aus der Lektüre von Lee Strasberg’s „Einführung zu Denis Diderots Das Paradox über den Schauspieler“ (1957). Siehe auch den  Wikipedia-Artikel über Strasberg, insbesondere über  seine „Method of Acting“. – Desgleichen aus dem Nachwort der Insel-Ausgabe 1964 von Reinhold Grimm.

… und der Text einer SWR2-Radiosendung von Christian Schärf über das Thema „Denis Diderot und das Paradox des Schauspielers“ vom 8.9.2013. Bemerkenswert hier besonders die Verknüpfung mit Rousseau und mit Hegel (!).

(Hinweise in dieser Thematik verdanke ich Kirsten Lindenau und JMR)

Reinhold Grimm:

Es ist freilich ein dialektischer Zusammenhang. Ursprünglich stand Diderot, der Vorkämpfer einer natürlichen Spielweise, durchaus auf der Seite der sensibilité, die man mit Recht eine ‚Zeitkrankheit‘ des 18. Jahrhunderts genannt hat. Erst allmählich löste er sich von dieser Auffassung, und man wird Dieckmann gern zustimmen, wenn er in diesem Vorgang eine Reaktion Diderots ‚gegen eigene Schwächen oder das, was ihm nun als Schwäche erschien‘, zu erkennen glaubt. Der erste Unterredner im ‚Paradoxe‘ erklärt ausdrücklich: ‚Wenn die Natur je eine gefühlvolle Seele erschaffen hat, so ist es die meinige.‘ Aber bereits ‚Le neveu de Rameau‘, begonnen 1761, zeigt die Wendung an. Am Beispiel des krankhaft reizbaren Neffen, dem das doppelte Attribut des comédien und der sensibilité beigelegt wird, demonstriert Diderot in einer zentralen Szene dieses anderen großen Dialogs, was zu geschehen pflegt, wenn ein Schauspieler von der Gewalt seiner Empfindung übermannt wird. Der Unglückliche nimmt nichts mehr wahr; er verzerrt die Züge, verdreht seinen Leib; ein Strom von Tränen entstürzt ihm, ja Schaum tritt ihm vor den Mund. Dieser Zustand, sagt Diderot, grenze so nahe an den Wahnsinn, daß es stets ungewiß bleibe, ob einer daraus wieder zurückfinde. Auf den Zuschauer wirke eine solche ‚aliénation d’esprit‘, bei aller Bewunderung für den Darsteller, eher peinlich und lächerlich als genial.

Quelle Nachwort von Reinhold Grimm zu Denis Diderot „Paradox über den Schauspieler“ Insel-Bücherei Nr.820 Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Leipzig 1964 (Seite 73f)

Folgendermaßen beschrieb Abbé Raguenet im Jahre 1702 einen italienischen Geiger, der eine Symphonie der Furien interpretierte:

Der Violinist / welcher dergleichen spielet / kann nicht umhin / er muß dadurch aus sich selbst gesetzet und grimmig werden; da martert er gleichsam sein Instrument sowohl / als seinen ganzen Leib / ist sein selbst nicht mehr Meister / drehet und windet sich / als ein Besessener / und kann solches nicht ändern.

Und wie ging die Sache mit François Ozon und seiner Schauspielerin aus?

Ich sagte ihr dann ganz vehement: Du hast kein Recht, das zu tun. Du bist Schauspielerin und spielst bitte nur deine Rolle. Du kaufst jetzt Farbe und streichst die Wände. Das hat sie dann auch getan, mehrfach, weil das Blut nach dem ersten Anstrich wieder durchkam. Es war wie in einem Film. Ich habe mich um sie gekümmert und ihr klargemacht: Es gibt die Fiktion des Films, und es gibt die Realität. Ich wurde im Grunde zu ihrem Psychologen.

Quelle Zeitmagazin (a.a.O. siehe oben)

Nachtrag 5. Juli 2015

Als ich diesen Beitrag vor einigen Monaten schrieb, habe ich nicht bedacht, dass mir darüber eigentlich das Klügste, was es zum Thema gibt, entfallen sein könnte: es steht bei Walter Benjamin.

Definitiv wird die Kunstleistung des Bühnenschauspielers dem Publikum durch diesen selbst in eigener Person präsentiert; dagegen wird die Kunstleistung des Filmdarstellers dem Publikum durch eine Apparatur präsentiert. Das letztere hat zweierlei zur Folge. Die Apparatur, die die Leistung des Filmdarstellers vor das Publikum bringt, ist nicht gehalten, diese Leistung als Totalität zu respektieren. Sie nimmt unter Führung des Kameramannes laufend zu dieser Leistung Stellung. Die Folge von Stellungnahmen, die der Cutter aus dem ihm abgelieferten Material komponiert, bildet den fertig montierten Film. Er umfaßt eine gewisse Anzahl von Bewegungsmomenten, die als solche der Kamera erkannt werden müssen – von Spezialeinstellungen wie Großaufnahmen zu schweigen. So wird die Leistung des Darstellers einer Reihe von optischen Tests unterworfen. Dies ist die erste Folge des Umstands, daß die Leistung des Filmdarstellers durch die Apparate vorgeführt wird. Die zweite Folge beruht darauf, daß der Filmdarsteller, da er nicht selbst seine Leistung dem Publikum präsentiert, die dem Bühnenschauspieler vorbehaltene Möglichkeit einbüßt, die Leistung während der Darbietung dem Publikum anzupassen. Dieses kommt dadurch in die Haltung eines durch keinerlei persönlichen Kontakt mit dem Darsteller gestörten Begutachters. Das Publikum fühlt sich in den Darsteller nur ein, indem es sich in den Apparat einfühlt. Es übernimmt also dessen Haltung: es testet. [Hier bezieht sich Benjamin auf Brecht, den er in einer Fußnote zitiert und bedenkt.] Das ist keine Haltung, der Kultwerte ausgesetzt werden können. (Seite 23 f)

Im nächsten Kapitel setzt Benjamin bei einem Pirandello-Zitat zum Stummfilm an und fährt fort:

Man kann den gleichen Tatbestand folgendermaßen kennzeichnen: zum ersten Mal – und das ist das Werk des Films – kommt der Mensch in die Lage, zwar mit seiner gesamten lebendigen Person aber unter Verzicht auf deren Aura wirken zu müssen. Denn die Aura ist an sein Hier und Jetzt gebunden. Es gibt kein Abbild von ihr. Die Aura, die auf der Bühne um Macbeth ist, kann von der nicht abgelöst werden, die für das lebendige Publikum um den Schauspieler ist, welcher ihn spielt. Das Eigentümliche der Aufnahme im Filmatelier aber besteht darin, daß sie an die Stelle des Publikums die Apparatur setzt. So muß die Aura, die um den Darstellenden ist, fortfallen – und damit zugleich die um den Dargestellten. (Seite 25)

Ich zitiere nur das, was mir im Moment hilfreich ist,- das Umfeld im Original ist aber letztlich unentbehrlich. Zu „Aura“ siehe hier.

Quelle Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie edition suhrkamp SV Frankfurt am Main 1966, 1974, 1977. ISBN 3-518-10028-9

Nachtrag 15.03.25

Wichtige Ausführugen zu Diderots Paradox bei Richard Sennett „Verfall und Ende es öffentlichen Lebens“ Seite 148 ff !

Quelle Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität / Fischer Wissenschaft Frankfurt am Main Juli 1991 (1986)

Macbeth

Für eine Shakespeare-Begegnung dürfte man jederzeit offen sein. Ich habe auf die neue Gelegenheit gewartet, um mich endlich wieder vorbereiten zu müssen, zumal seit ich das neue Buch des Shakespeare-Übersetzers Frank Günther besitze, – das von Denis Scheck so überschwänglich empfohlen worden war, dass man glauben konnte, es verkaufe sich nicht. Unbegründet! Und nun sind darüberhinaus diese Eintrittskarten da. Ich spüre den latenten seelischen Druck „Macbeth lesen!“, sonst nichts, und habe entsprechend viel Zeit. Shakespeare Festival – quasi am Originalschauplatz – in „Originalsprache“ – Anfang Juni. Fest steht: man muss das Werk auf deutsch so gut wie auswendig können, ich weiß das von meinem vorigen Festival mit Romeo & Julia sowie Julius Caesar. Sein Englisch ist auch für Engländer kaum verständlich. Oder sagen wir: minimal zugänglicher als für uns Walther von der Vogelweide. Frank Günther betont offenbar mit Recht (Seite 222) :

(…) Shakespeare ist nicht berühmt für dramatische Erfindungen, Handlungen und Verwicklungen. Fast alle seine Stücke beruhen auf fremden Vorlagen; selbst ausgedacht hat er sich nur drei oder vier Stücke. Er ist nur ein genialer Bearbeiter, der seine Vorlagen allerdings unendlich bereichert hat – und dies vor allem mit dem Mittel seiner kunstvollen Sprache. Shakespeare ist ein Genie der Sprachkunst – und keiner versteht sie mehr…

Man soll also nicht glauben, dass man sie erfasst, wenn man sie live auf der Bühne erlebt: das geht nur mit dem zweisprachigen Text (samt Anmerkungen) in der Hand, – zuhaus. Was die Bühne vermittelt, ist eben das lebendige Bühnenleben. Dazu die Suggestion, dass all dies von der Sprache getragen wird. Die erneuerte Motivation – für Zuhause.

Es ist wie mit großer Musik, die man zu kennen glaubt, der man aber in der Realität oft nicht wirklich gewachsen ist.

Macbeth Eintritt

Macbeth Neuss

Was steht mir zur Verfügung?

Die phantastische Lesung der Übersetzung von Thomas Brasch, Katharina Thalbach 2005 in allen Rollen.

Macbeth Thalbach

Mein Exemplar vom 4.7.59 :

Macbeth 1959

Die überfrachtete Schullektüre aus derselben Zeit:

Macbeth Schule

Der umfangreiche Wikipedia-Artikel.

Man sollte ein solches Werk nicht verkleinern (historisierend verniedlichen), um es zu verstehen, – lieber das Verstehen hinausschieben, nur sammeln, was die Übersicht fördert. Auf den ersten Blick scheint mir wieder die Einführung von Walter F. Schirmer  (Rowohlt) nützlich. (Erster Blick: „Dämonologie“ – historisierend. Zweiter Blick:)

Der Aufbau

Von allen Tragödien Shakespeares hat ‚Macbeth‘ den dramatisch gewaltigsten, dabei den einfachsten Bau. Aus der einen Tat, die der Visionär Macbeth tatsächlich vollbringt, erwächst das gesamte Drama. Zu ihr drängt alles hin: Versuchung, Skrupel und äußerer Anlaß; aus ihr entspringt alles weitere: Furcht, Reue, endlose Greuel und Tod. Nachdem wir durch den Monolog (I,7) einen Blick in Macbeths verstörte Seele getan haben, die alle Skrupel vorwegnimmt und alles Entsetzens inne ist, scheint Macbeth nach dem Königsmord die Kraft zu haben, das Grauen zu überstehen. Aber sofort stehen dem Königtum nach dem Spruch der Hexen Banquo und seine Nachkommenschaft entgegen. So befiehlt Macbeth den Überfall auf Banquo und dessen Sohn Fleance und ihre Ermordung. Nach Banquos Beseitigung und Fleances Flucht ist ihm Macduff im Weg, und trotz der ihn entsetzenden Geistererscheinung des Banquo, trotz der in Wahnsinn verfallenden Lady Macbeth, läßt Macbeth Macduffs Sippe erschlagen, während Macduff selbst entkommt. Als die gerechte Welt unter Siward mit zehntausend Mann gegen ihn zieht, streckt er Siwards Sohn nieder, und noch zu Ende stellt er sich zum Kampf gegen Macduff. Dies Morden der Unschuld, das im ‚Othello‘ noch in einer Gestalt zentrierte, wird hier zum ausweglosen, im Absoluten endenden Gesetz.

Es ist dies das einzige Beispiel bei Shakespeare, daß alles Geschehen in einer Tat wurzelt, und folglich auch das einzige Beispiel, daß die durch eine zerrüttete Welt gehende Shakespearesche Nemesis uns so greifbar erscheint. Um dies zu verstehen, darf man nicht einen Schulbegrif der Schuld im menschlichen Sinne, der den Helden verkleinern würde, herantragen, und muß SCHILLERS Bearbeitung von Shakespeares Macbeth abrücken. Dem Shakespeareschen Drama liegt eine andere Tragödienauffassung zugrunde: In der Erschaffung des Bösen haben sich übernatürliche Mächte mit den unheimlichen Wesensschatten in uns gegen den Menschen verbündet.

Quelle Walter F. Schirmer: Zum Verständnis des Werkes. Zum Text und zur Entstehungszeit des Dramas / Macbeth-Ausgabe Rowohlts Klassiker 1958 Tempel Verlag Berlin und Darmstadt (Seite 160)

Der zitierte Text ist nur der Beginn des Abschnitts, und doch lohnt sich das Ganze, weil es die Aufmerksamkeit auf den inneren Gang des Dramas einstellt, den Frank Günther oben herunterzuspielen schien. Natürlich gelingt dies alles nur dank einer Sprache, die alle psychologischen Vorgänge konkret werden lässt.

Oder?

Ein ganz anderer Zugang: über den Film. Zum Beispiel diesen mit Jason Connery (Sohn von Sean Connery) aus dem Jahr 1997.Vollständig auf youtube HIER.

Leicht mitzulesen in der zweisprachigen Rowohlt-Ausgabe, wenn man die Sprünge im Text vermerkt (man muss den Film ohnehin mehrmals sehen).

Oder das BBC-TV-Drama aus dem Jahr 1988, Nicol Williamson als Macbeth, etwas künstlicher, theater- bzw. schulmäßiger, aber mit fortlaufend eingeblendetem Original-Text. HIER.

Oder die „moderne“ Version aus dem Jahr 2010 (Regietheater), Patrick Stewart als Macbeth, HIER.

* * * * *

Wenn man in dem ersten der oben angeführten Filme (1997) bemerkt (oder kritisiert), mit welcher Hingabe die Schreckensszenen visuell ausgearbeitet sind – die Hexen, die Ermordung Duncans, der Geist Banquos -, so muss man hinzufügen, dass die damalige Phantasie äußerst nahe an der Realität arbeitete: es gab Hexen und Geister aller Art. Shakespeare war ein „kombinatorisches“ Genie, aber kein über seine Zeit so erhabener Denker, dass er die Hölle nur als Symbol begriff. Und er glaubte an die absolute Macht des Königtums, das u. a. auch ihm die Existenz sicherte, verkörpert in Elisabeth I. (bis 1603), danach Jakob I. Der letztere war „furchtsam, abergläubisch und geradezu besessen in seiner Angst vor Hexerei, mit der er sich in seiner Schrift Daemonology 1597 befasste,“ schreibt Frank Günther in seinem Shakespeare-Buch (Seite 149). Und an anderer Stelle:

Und vor allem das Stück Macbeth ist auf Jakob zugeschnitten. Die Hexenszenen sind ein Kotau vor seiner Kennerschaft auf dem Gebiet der Dämonologie. Mit der Banquo-Erzählung dienert sich Shakespeare dem König geradezu an: Banquo ist ein Adliger, den Macbeth ermorden lässt. (…) In der Geisterparade der Hexen sieht Jakob einen Banquo-Nachfolger mit zwei Reichsäpfeln: sich selbst, Jakob, den König von Schottland und England. Jakob sieht sich in Shakespeares Stück wie in jenem Spiegel, den der Schauspieler dem Darsteller des achten Königs hinhält.

Frank Günther „Unser Shakespeare“ dtv München 2014 (Seite 152) – bezieht sich auf Macbeth IV,1 „Acht Könige erscheinen und gehn über die Bühne, der letzte trägt einen Spiegel; Banquo folgt.“

Siehe im Film ab 1:20:22 – Macbeth ruft: Let me know. Why sinks that cauldron? and what noise is this? Die Hexen: Show! Show! Show! Show his eyes, and grieve his heart! Come like shadows, so depart. (Erscheint! Erscheint! Erscheint! Erscheint dem Aug und quält den Sinn: Wie Schatten kommt und fahrt dahin.)

Im Nachwort des zweisprachigen dtv-Textes schreibt Schirmer in dem Abschnitt „Macbeth und die Dämonologie“:

Das, was wir heute sinnbildlich deuten, hat für den Menschen der damaligen Zeit Realität gehabt. Sie haben das Echo der Unterwelt in uns nicht nur vernommen, sondern auch sichtbar erfahren. Shakespeare hat an die Erscheinung von Hexen geglaubt und hat sie als Botinnen der Hölle verurteilt wie seine ganze hexengläubige Zeit. Er vermochte z.B. auch in der Jungfrau von Orléans nichts anderes als eine Hexe zu sehen, die man verbrennen muß (‚Heinrich VI.‘).

Auf die Vertrautheit der Schauspieler und Zuschauer mit dem Bühnenzauber der Hexen lassen auch die Andeutungen ihrer Gesänge (III,5 und IV,1) schließen. So muß der hinter der Bühne gesungene Song: „Come away, come away, etc.“ ein in Shakespeares Zeit so populärer Hexenreim gewesen sein, daß er hier für die Schauspieler nur angedeutet und nicht ausgeschrieben zu werden brauchte. In MIDDLETON’s Drama ‚The Witch‘ findet sich der vollständige Wortlaut: „Come away, come away; / Heccat, Heccat, come away! – Heccat: I come, I come / With all the speed I may.“

Ebenso ist die in Akt IV, Szene I gegebene Bühnenanweisung: „Music and a Song, ‚Black Spirits‘, etc.“ in dem genannten Drama bei Middleton voll aufgeführt als „A charm song about a vessel“: „Black spirits and white: Red spiritts [sic] and gray; / Mingle, mingle, mingle, you that mingle may. / Round, around, around; / All I come running in, all good keep out.“ Doch ist damit nicht Shakespeares Abhängigkeit von Middleton erweisen. Es besteht die Möglichkeit, daß beide Dramatiker REGINALD SCOTT, ‚Discovery of Whitchcraft‘, 1584, als Quelle benutzt haben.

Was uns heute als Gespinst der Phantasie erscheinen mag, war damals differenzierter Glaube: mit Hekates, der Mondgöttin, Hinweis „Upon the corner of the moon / There hangs a vaporous drop profound“ (III,5) ist ein aus Dünsten gebildeter Tropfen von tiefer geheimer Kraft gemeint, den Hekate vom Mond holen will, ehe der Tropfen herabfällt, damit sein Gift zu Macbeths Verblendung wirken kann.

Nicht mehr die Mondgöttin Cynthia, die in der englischen Dichtung Sinnbild für die Königin Elisabeth war, tritt auf, sondern die Mondhexe. Jakob I., der erste Stuart-König, der auch Shakespeares Schauspielertruppe patronisierte, verfaßte selbst [wie schon oben erwähnt] eine ‚Daemonologie‘ (1597 in Edinburgh gedruckt), welche dem herrschenden Hexenwahn neue Nahrung gab.

Quelle Walter F. Schirmer: Zum Verständnis des Werkes. Zum Text und zur Entstehungszeit des Dramas / Macbeth-Ausgabe Rowohlts Klassiker 1958 Tempel Verlag Berlin und Darmstadt (Seite 159 f)

(Fortsetzung folgt)

Dem Programmzettel der Macbeth-Aufführung am 14.05. Mai im prinz regent theater in Bochum (siehe am Ende des Beitrags „Unter Hekubas Leitung“ verdanke ich den Hinweis auf das Buch „Shakespeare heute“ von Jan Kott; es wurde am 1. Mai 1964 von Hans Mayer in der ZEIT besprochen, und dieser anregenden Rezension entnehme ich den Hinweis, dass hier „zwei Deutungsebenen für die Shakespeare-Darstellung gegeben“ seien: nämlich zunächst das „Endspiel des Feudalismus“. Und des weiteren „die Geistes- und Bewußtseinskrise des Menschen im Zeitalter der Renaissance, – des europäischen Humanismus, der großen neuen Naturwissenschaft.“ Mayer erwähnt das „Endspiel“ von Beckett, warnt aber zugleich davor, Shakespeare zu eilig im Lichte unserer modernen Erfahrungen zu lesen; es gehe darum, „ihn zunächst einmal als Zeitgenossen seiner eigenen Zeit verstehen lernen“.

ZITAT:

Bei Kott geht alles von den Königsdramen aus, denn sie geben Shakespeares wirkliche Welt, die Wirklichkeit der Shakespeare-Zeit. „Will man Shakespeares Welt als wirkliche Welt verstehen, so muß man mit den Königsdramen beginnen“, das ist die Grundthese von Jan Kott. Diese Welt der Königsdramen aber ist bei Shakespeare ein statisches Geschehen. Um es mit den Worten von Kott zu sagen: „Jede dieser großen Geschichtstragödien beginnt mit dem Kampf um den Thron oder dessen Befestigung. Jede endet mit dem Tod des Monarchen und der neuen Krönung.“ Ein großer Mechanismus von Machtverlust und Machtergreifung wird demonstriert. Darum werden bei Shakespeare, wie Kott zeigt, die entscheidenden und grauenhaften Ereignisse von Mord und Verrat, Speichelleckerei und Angst als einfache Spielregeln in einem mechanischen und statischen Geschehen dargestellt. Mechanisch und statisch, weil diese Feudalwelt in ihr Endstadium eingetreten, anachronistisch geworden ist.

Vom Endspiel dieser Feudalwelt her aber versteht Kott nicht bloß die eigentlichen Königsdramen, sondern ebenso den „Hamlet“ und den „Lear“. „Richard III. kündigt Hamlet an“, so sagt er, und setzt hinzu: „König Lear ist gleich Hamlet auch eine Tragödie des Menschen, des Zeitgenossen Shakespeare, die politische Tragödie des Humanismus der Renaissance.“

Quelle DIE ZEIT 1. Mai 1964 Shakespeare – von Beckett her verstanden / Von Hans Mayer

Kein Meinungsbutton bitte!

Es geht einfacher

Jeder macht die Erfahrung: schreibe ich allzu kurze Mails, kann ich missverstanden werden. Soll ich statt des ausdrücklichen Hinweises „(kleiner Scherz)“ ein Smiley setzen?

Und suche ich Stoff zu diesem (oder jedem anderen) Thema, so finde ich soviel Hinweise, dass es kontraproduktiv wirkt, nämlich entmutigend. So zum Beispiel als ich zögerte, ein Smiley zu setzen – eigentlich nur angesichts der Frage: wird es sich beim Adressaten als gelbes Mondgesicht realisieren oder nur als graues Buchstaben-Konglomerat? – schon schlug ich die lange Geschichte im SPIEGEL auf und versank wenig später im Uferlosen.

Schauen Sie zum Beispiel hier, bei www.emojitracker.com, überlegen Sie, ob Sie die Warnung beachten wollen: Epilepsy Warning emojitracker is an experiment in realtime visualization of all emoji symbols used on twitter. it updates at the speed of updates on twitter in realtime, and thus contains rapidly updating visuals that may possibly cause problems for those sensitive to such things? I’m not sure, but I don’t want to risk it, so here is a warning!

Ich habe die Warnung weggeklickt und und mich auf Anzeichen von Epilepsie beobachtet. Sicher, das Internet erzeugt ohnehin ein mentales Infarkt-Risiko, glücklicherweise aber nicht Herz und Kreislauf betreffend, sondern eben genau das, mit dem der moderne Mensch täglich umgeht. Ich schaue meine CD-Sammlung an und habe die Beklemmung, in der Hölle alles auf einen Schlag hören zu müssen.

Ich muss es vom Tisch bzw. Bildschirm wegbringen, hinein in diesen Blogbeitrag, in ungeordneter Folge, zunächst der SPIEGEL (Vorsicht, es sieht nach Kundenfang aus!), dann der Wiki-Artikel über Meinungsbuttons (Ansteckplaketten), dann die Sammlung im Deutschen Historischen Museum hier, ich brauche auch die Abgrenzung zwischen Emoji und Emoticon hier , erinnere mich, in meinem eigenen Schreibprogramm die Serie von Wingdings gesehen zu haben, mehr darüber hier, natürlich auch Smiley.

Plötzlich fällt mir auch das Wort Sprachnot ein, – bin ich nicht selbst fortwährend damit konfrontiert? Da überfällt mich die entscheidende Lektüre der Gymnasialzeit: der Lord-Chandos-Brief von Hofmannsthal, tatsächlich in diesen Jahren wieder ein Abitursthema: Sprachkritik; Sprachskepsis, Sprachnot

Was sagt mir all dies? Du bist nicht allein. (kleiner Scherz :))

Ich bemächtige mich des Rilke-Gedichtes:

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.

Und behaupte, dass ich der erste und einzige bin, der sich in diesem Zusammenhang an Peter Handke erinnert, den ich im August 1970 las, wobei mich diese Stelle ganz besonders beeindruckte und sowohl an den Lord-Chandos-Brief als auch an das Rilke-Gedicht erinnerte:

Handke Sprachnot

Quelle Peter Handke: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter – Suhrkamp Frankfurt am Main 1970 Seite 117

PS.

Ich weiß bis heute nicht, was Bloch zuletzt dachte, bevor er die Vorhänge zuzog und hinausging. Leiter, Fahrrad, Brief, Zähneputzen, zwei  Becher … eine Partnerin?

Ob sich Interpretationen mit der Auslegung dieser Passage beschäftigen?