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Können Musiker die Wahrheit sagen?

Nicht einmal über Musik?

Sie ist „eine der großen Jazz-, Blues- und Popsängerinnen der Gegenwart“. Und sie sagt:

Einer der Songs, die mich am stärksten geprägt haben, ist der Death Letter Blues von Son House, einem Sänger und Gitarristen, der wie ich aus Mississippi stammte. Es ist ein mächtiges Stück Musik. Jedes Mal, wenn ich es höre, lässt seine Erhabenheit mich innehalten. Es bestärkt mich darin, nicht an den Tod zu glauben. Ich glaube, wir durchlaufen Wandlungen: Wir reisen hin und her zwischen dem körperlichen und dem körperlosen Zustand.

O.K., wenn das keine Empfehlung ist! Ich werde die Aufnahme zig-mal hören, den Sänger beim Singen anschauen, und ich werde auch den Text mitlesen. Mal sehen, was passiert.

Text: HIER.

Gut, ich bin damit noch lange nicht fertig, werde also wiederkehren. (Fehlen nicht einige Strophen?) Aber was hatte die Sängerin denn – offenbar durch den Son-House-Todes-Text angeregt – außerdem noch gesagt?

Es gibt einen Traum, der mich fast ein ganzes Leben lang begleitet hat: Ich fahre mit dem Auto in die Berge, über wunderschöne Hügel, dann wieder durch weite Ebenen. Mal bin ich allein, mal sitzt jemand auf dem Beifahrersitz. Es ist mein Auto, das beste Auto der Welt, eine Limousine aus Deutschland, außen und innen schwarz, mit einem wundervollen Achtzylindermotor. Gelegentlich höre ich dabei Musik, aber keine, die ich kenne. Es ist Musik aus einer anderen Welt, anders als alles, was ich jemals zuvor gehört habe. Eine Mischung aus allen möglichen Instrumenten. Verrückte Resonanzen, betörende Obertöne, himmlische Klangfarben. Wenn ich aufwache, versuche ich, mich an diese Musik zu erinnern. Manchmal schaffe ich es, ein paar Bruchstücke von ihr aufzuschreiben. Aber sie klingt dann nicht so wie in meinen Träumen.

Heinrich Heine: Buch der Lieder (1827):

Heine Allnächtlich im Traume gr

 

Quelle der ZITATE: ZEIT MAGAZIN Nr. 23 3. Juni 2015 Seite 46 „Ich habe einen Traum“ Ein Gespräch mit Cassandra Wilson, aufgezeichnet von Ralph Geisenhanslüke

Quelle des Heine-Textes: hier

Die Traumvision (über dem Heine-Text) kenne ich doch als Film? Allerdings wohl ohne Musik: Es ist ein Reklame-Spot, vermutlich von Mercedes. Und die Musik, die sie dabei gehört haben will, hat sie vergessen, wie Heine das Wort. Aber sie bestand auch nur aus Sounds. Die nun dank bestimmter Worte imaginativ überzeugen sollen: verrückt, betörend, himmlisch… Und sie leisten einfach nichts. Das vergessene Wort jedoch, das nicht benannte, ist es, das einen wirklich bewegt. (Und vor allem die Musik dazu, die von Schumann stammt.)

„Musik aus einer anderen Welt“? – genügt nicht die, die wir haben? Wieso kommt jemand, der einen leibhaften Menschen singen hört, auf die Idee, von einem körperlosen Zustand zu fabeln? Das kommt nicht aus dem Song, sondern aus einer verschwommenen Metaphysik. Man will die musikalische Inbrunst, die man spürt, an allerhöchster Stelle beglaubigt finden.

Aber Musik braucht keine Beglaubigung. Wozu an Worte klammern?