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Unter Hekubas Leitung

Es ist eigentlich unglaublich, was für ein Gewese aus der Wahl eines Chefs für die Berliner Philharmoniker gemacht wird. Was für ein Hype! Natürlich ist es wichtig für die Künstler, die wissen, dass sie unter diesem künstlerischen Leiter als „Aushängeschild“  weiterhin ihre Einzigartigkeit in Permanenz unter Beweis stellen werden. Die Welt schreit nach Superlativen und „Alleinstellungsmerkmalen“ – und wird sie gehorsamst entdecken, wenn nur die Entscheidung erst da wäre…

Hat man etwas gelernt aus der Karajan-Ära? Kein ehemaliger Chef der Berliner ist im musikalischen Fachgespräch so out wie dieser Streamliner, der doch den Klang der Berliner über Jahrzehnte geprägt hat. Gelernt hat man von den Karajan-Antipoden, allen voran die Alte-Musik-Fraktion, die sich im Laufe der Jahre bis Wagner, Ravel und Bartók vorarbeitete. Und am Ende haben die Berliner selbst ja auch gelernt, indem sie Reinhard Goebel zu Sonderkursen in Sachen Alte Musik bestellten.

Heute dreht Frau Lemke-Matwey wieder einmal eine philharmonische Pirouette in der ZEIT. Und es gibt gleich zwei Artikel an einem Tag in der Süddeutschen (Seite 4 und Seite 11):

Berliner b

Berliner a

Rätselhaft, dass man sich nicht um all die anderen Baustellen der Kultur in Deutschland kümmert. Es macht mehr Spaß, dort zu eifern, wo es quasi von selbst läuft. Warum nicht Bonn, warum nicht Baden-Baden/Freiburg, warum nicht die Kulturradio-Programme im Norden? Was führt eigentlich Tim Renner im Schilde?

Man muss es offenbar noch einmal laut und unmissverständlich sagen: Der Staat stellt Geld zur Verfügung, damit die Künste damit tun und lassen, was ihnen gefällt. Investitionen in Kultur sind nicht an Mehrwerte gekoppelt, sie stehen weder bei pädagogischen noch sozial- oder kulturpolitischen Zielen in der Pflicht. Nicht die Künste haben der Kulturpolitik zu dienen, sondern umgekehrt die Kulturpolitik den Künsten.

Das ist der Deal. Tim Renner kündigt ihn auf. Er betreibt nicht Kulturpolitik, sondern Kreativitätswirtschaftsmarketing. Was Kunst ist, soll mehrwertproduzierende Best Practice werden.

In Gänze nachzulesen bei Dirk Pilz („Nachtkritik“) hier.

Was war es noch, das einst Hamlet so entsetzte?

Sein Auge nass, Bestürzung in den Mienen, / Gebrochne Stimm und seine ganze Haltung / Nach seinem Sinn. Und alles das um nichts! / Um Hekuba! / Was ist ihm Hekuba, was ist er ihr, / Dass er um sie soll weinen?

Shakespeare auf jeden Fall, zum Beispiel auch heute abend: Macbeth in Bochum. Man kann viel von ihm lernen. Auch im Machtgefüge des Kulturbetriebs.

Macbeth Bochum 150514 v.r.: Christoph Wehr,Gerh.Roiß,Kath.Brenner

Macbeth

Für eine Shakespeare-Begegnung dürfte man jederzeit offen sein. Ich habe auf die neue Gelegenheit gewartet, um mich endlich wieder vorbereiten zu müssen, zumal seit ich das neue Buch des Shakespeare-Übersetzers Frank Günther besitze, – das von Denis Scheck so überschwänglich empfohlen worden war, dass man glauben konnte, es verkaufe sich nicht. Unbegründet! Und nun sind darüberhinaus diese Eintrittskarten da. Ich spüre den latenten seelischen Druck „Macbeth lesen!“, sonst nichts, und habe entsprechend viel Zeit. Shakespeare Festival – quasi am Originalschauplatz – in „Originalsprache“ – Anfang Juni. Fest steht: man muss das Werk auf deutsch so gut wie auswendig können, ich weiß das von meinem vorigen Festival mit Romeo & Julia sowie Julius Caesar. Sein Englisch ist auch für Engländer kaum verständlich. Oder sagen wir: minimal zugänglicher als für uns Walther von der Vogelweide. Frank Günther betont offenbar mit Recht (Seite 222) :

(…) Shakespeare ist nicht berühmt für dramatische Erfindungen, Handlungen und Verwicklungen. Fast alle seine Stücke beruhen auf fremden Vorlagen; selbst ausgedacht hat er sich nur drei oder vier Stücke. Er ist nur ein genialer Bearbeiter, der seine Vorlagen allerdings unendlich bereichert hat – und dies vor allem mit dem Mittel seiner kunstvollen Sprache. Shakespeare ist ein Genie der Sprachkunst – und keiner versteht sie mehr…

Man soll also nicht glauben, dass man sie erfasst, wenn man sie live auf der Bühne erlebt: das geht nur mit dem zweisprachigen Text (samt Anmerkungen) in der Hand, – zuhaus. Was die Bühne vermittelt, ist eben das lebendige Bühnenleben. Dazu die Suggestion, dass all dies von der Sprache getragen wird. Die erneuerte Motivation – für Zuhause.

Es ist wie mit großer Musik, die man zu kennen glaubt, der man aber in der Realität oft nicht wirklich gewachsen ist.

Macbeth Eintritt

Macbeth Neuss

Was steht mir zur Verfügung?

Die phantastische Lesung der Übersetzung von Thomas Brasch, Katharina Thalbach 2005 in allen Rollen.

Macbeth Thalbach

Mein Exemplar vom 4.7.59 :

Macbeth 1959

Die überfrachtete Schullektüre aus derselben Zeit:

Macbeth Schule

Der umfangreiche Wikipedia-Artikel.

Man sollte ein solches Werk nicht verkleinern (historisierend verniedlichen), um es zu verstehen, – lieber das Verstehen hinausschieben, nur sammeln, was die Übersicht fördert. Auf den ersten Blick scheint mir wieder die Einführung von Walter F. Schirmer  (Rowohlt) nützlich. (Erster Blick: „Dämonologie“ – historisierend. Zweiter Blick:)

Der Aufbau

Von allen Tragödien Shakespeares hat ‚Macbeth‘ den dramatisch gewaltigsten, dabei den einfachsten Bau. Aus der einen Tat, die der Visionär Macbeth tatsächlich vollbringt, erwächst das gesamte Drama. Zu ihr drängt alles hin: Versuchung, Skrupel und äußerer Anlaß; aus ihr entspringt alles weitere: Furcht, Reue, endlose Greuel und Tod. Nachdem wir durch den Monolog (I,7) einen Blick in Macbeths verstörte Seele getan haben, die alle Skrupel vorwegnimmt und alles Entsetzens inne ist, scheint Macbeth nach dem Königsmord die Kraft zu haben, das Grauen zu überstehen. Aber sofort stehen dem Königtum nach dem Spruch der Hexen Banquo und seine Nachkommenschaft entgegen. So befiehlt Macbeth den Überfall auf Banquo und dessen Sohn Fleance und ihre Ermordung. Nach Banquos Beseitigung und Fleances Flucht ist ihm Macduff im Weg, und trotz der ihn entsetzenden Geistererscheinung des Banquo, trotz der in Wahnsinn verfallenden Lady Macbeth, läßt Macbeth Macduffs Sippe erschlagen, während Macduff selbst entkommt. Als die gerechte Welt unter Siward mit zehntausend Mann gegen ihn zieht, streckt er Siwards Sohn nieder, und noch zu Ende stellt er sich zum Kampf gegen Macduff. Dies Morden der Unschuld, das im ‚Othello‘ noch in einer Gestalt zentrierte, wird hier zum ausweglosen, im Absoluten endenden Gesetz.

Es ist dies das einzige Beispiel bei Shakespeare, daß alles Geschehen in einer Tat wurzelt, und folglich auch das einzige Beispiel, daß die durch eine zerrüttete Welt gehende Shakespearesche Nemesis uns so greifbar erscheint. Um dies zu verstehen, darf man nicht einen Schulbegrif der Schuld im menschlichen Sinne, der den Helden verkleinern würde, herantragen, und muß SCHILLERS Bearbeitung von Shakespeares Macbeth abrücken. Dem Shakespeareschen Drama liegt eine andere Tragödienauffassung zugrunde: In der Erschaffung des Bösen haben sich übernatürliche Mächte mit den unheimlichen Wesensschatten in uns gegen den Menschen verbündet.

Quelle Walter F. Schirmer: Zum Verständnis des Werkes. Zum Text und zur Entstehungszeit des Dramas / Macbeth-Ausgabe Rowohlts Klassiker 1958 Tempel Verlag Berlin und Darmstadt (Seite 160)

Der zitierte Text ist nur der Beginn des Abschnitts, und doch lohnt sich das Ganze, weil es die Aufmerksamkeit auf den inneren Gang des Dramas einstellt, den Frank Günther oben herunterzuspielen schien. Natürlich gelingt dies alles nur dank einer Sprache, die alle psychologischen Vorgänge konkret werden lässt.

Oder?

Ein ganz anderer Zugang: über den Film. Zum Beispiel diesen mit Jason Connery (Sohn von Sean Connery) aus dem Jahr 1997.Vollständig auf youtube HIER.

Leicht mitzulesen in der zweisprachigen Rowohlt-Ausgabe, wenn man die Sprünge im Text vermerkt (man muss den Film ohnehin mehrmals sehen).

Oder das BBC-TV-Drama aus dem Jahr 1988, Nicol Williamson als Macbeth, etwas künstlicher, theater- bzw. schulmäßiger, aber mit fortlaufend eingeblendetem Original-Text. HIER.

Oder die „moderne“ Version aus dem Jahr 2010 (Regietheater), Patrick Stewart als Macbeth, HIER.

* * * * *

Wenn man in dem ersten der oben angeführten Filme (1997) bemerkt (oder kritisiert), mit welcher Hingabe die Schreckensszenen visuell ausgearbeitet sind – die Hexen, die Ermordung Duncans, der Geist Banquos -, so muss man hinzufügen, dass die damalige Phantasie äußerst nahe an der Realität arbeitete: es gab Hexen und Geister aller Art. Shakespeare war ein „kombinatorisches“ Genie, aber kein über seine Zeit so erhabener Denker, dass er die Hölle nur als Symbol begriff. Und er glaubte an die absolute Macht des Königtums, das u. a. auch ihm die Existenz sicherte, verkörpert in Elisabeth I. (bis 1603), danach Jakob I. Der letztere war „furchtsam, abergläubisch und geradezu besessen in seiner Angst vor Hexerei, mit der er sich in seiner Schrift Daemonology 1597 befasste,“ schreibt Frank Günther in seinem Shakespeare-Buch (Seite 149). Und an anderer Stelle:

Und vor allem das Stück Macbeth ist auf Jakob zugeschnitten. Die Hexenszenen sind ein Kotau vor seiner Kennerschaft auf dem Gebiet der Dämonologie. Mit der Banquo-Erzählung dienert sich Shakespeare dem König geradezu an: Banquo ist ein Adliger, den Macbeth ermorden lässt. (…) In der Geisterparade der Hexen sieht Jakob einen Banquo-Nachfolger mit zwei Reichsäpfeln: sich selbst, Jakob, den König von Schottland und England. Jakob sieht sich in Shakespeares Stück wie in jenem Spiegel, den der Schauspieler dem Darsteller des achten Königs hinhält.

Frank Günther „Unser Shakespeare“ dtv München 2014 (Seite 152) – bezieht sich auf Macbeth IV,1 „Acht Könige erscheinen und gehn über die Bühne, der letzte trägt einen Spiegel; Banquo folgt.“

Siehe im Film ab 1:20:22 – Macbeth ruft: Let me know. Why sinks that cauldron? and what noise is this? Die Hexen: Show! Show! Show! Show his eyes, and grieve his heart! Come like shadows, so depart. (Erscheint! Erscheint! Erscheint! Erscheint dem Aug und quält den Sinn: Wie Schatten kommt und fahrt dahin.)

Im Nachwort des zweisprachigen dtv-Textes schreibt Schirmer in dem Abschnitt „Macbeth und die Dämonologie“:

Das, was wir heute sinnbildlich deuten, hat für den Menschen der damaligen Zeit Realität gehabt. Sie haben das Echo der Unterwelt in uns nicht nur vernommen, sondern auch sichtbar erfahren. Shakespeare hat an die Erscheinung von Hexen geglaubt und hat sie als Botinnen der Hölle verurteilt wie seine ganze hexengläubige Zeit. Er vermochte z.B. auch in der Jungfrau von Orléans nichts anderes als eine Hexe zu sehen, die man verbrennen muß (‚Heinrich VI.‘).

Auf die Vertrautheit der Schauspieler und Zuschauer mit dem Bühnenzauber der Hexen lassen auch die Andeutungen ihrer Gesänge (III,5 und IV,1) schließen. So muß der hinter der Bühne gesungene Song: „Come away, come away, etc.“ ein in Shakespeares Zeit so populärer Hexenreim gewesen sein, daß er hier für die Schauspieler nur angedeutet und nicht ausgeschrieben zu werden brauchte. In MIDDLETON’s Drama ‚The Witch‘ findet sich der vollständige Wortlaut: „Come away, come away; / Heccat, Heccat, come away! – Heccat: I come, I come / With all the speed I may.“

Ebenso ist die in Akt IV, Szene I gegebene Bühnenanweisung: „Music and a Song, ‚Black Spirits‘, etc.“ in dem genannten Drama bei Middleton voll aufgeführt als „A charm song about a vessel“: „Black spirits and white: Red spiritts [sic] and gray; / Mingle, mingle, mingle, you that mingle may. / Round, around, around; / All I come running in, all good keep out.“ Doch ist damit nicht Shakespeares Abhängigkeit von Middleton erweisen. Es besteht die Möglichkeit, daß beide Dramatiker REGINALD SCOTT, ‚Discovery of Whitchcraft‘, 1584, als Quelle benutzt haben.

Was uns heute als Gespinst der Phantasie erscheinen mag, war damals differenzierter Glaube: mit Hekates, der Mondgöttin, Hinweis „Upon the corner of the moon / There hangs a vaporous drop profound“ (III,5) ist ein aus Dünsten gebildeter Tropfen von tiefer geheimer Kraft gemeint, den Hekate vom Mond holen will, ehe der Tropfen herabfällt, damit sein Gift zu Macbeths Verblendung wirken kann.

Nicht mehr die Mondgöttin Cynthia, die in der englischen Dichtung Sinnbild für die Königin Elisabeth war, tritt auf, sondern die Mondhexe. Jakob I., der erste Stuart-König, der auch Shakespeares Schauspielertruppe patronisierte, verfaßte selbst [wie schon oben erwähnt] eine ‚Daemonologie‘ (1597 in Edinburgh gedruckt), welche dem herrschenden Hexenwahn neue Nahrung gab.

Quelle Walter F. Schirmer: Zum Verständnis des Werkes. Zum Text und zur Entstehungszeit des Dramas / Macbeth-Ausgabe Rowohlts Klassiker 1958 Tempel Verlag Berlin und Darmstadt (Seite 159 f)

(Fortsetzung folgt)

Dem Programmzettel der Macbeth-Aufführung am 14.05. Mai im prinz regent theater in Bochum (siehe am Ende des Beitrags „Unter Hekubas Leitung“ verdanke ich den Hinweis auf das Buch „Shakespeare heute“ von Jan Kott; es wurde am 1. Mai 1964 von Hans Mayer in der ZEIT besprochen, und dieser anregenden Rezension entnehme ich den Hinweis, dass hier „zwei Deutungsebenen für die Shakespeare-Darstellung gegeben“ seien: nämlich zunächst das „Endspiel des Feudalismus“. Und des weiteren „die Geistes- und Bewußtseinskrise des Menschen im Zeitalter der Renaissance, – des europäischen Humanismus, der großen neuen Naturwissenschaft.“ Mayer erwähnt das „Endspiel“ von Beckett, warnt aber zugleich davor, Shakespeare zu eilig im Lichte unserer modernen Erfahrungen zu lesen; es gehe darum, „ihn zunächst einmal als Zeitgenossen seiner eigenen Zeit verstehen lernen“.

ZITAT:

Bei Kott geht alles von den Königsdramen aus, denn sie geben Shakespeares wirkliche Welt, die Wirklichkeit der Shakespeare-Zeit. „Will man Shakespeares Welt als wirkliche Welt verstehen, so muß man mit den Königsdramen beginnen“, das ist die Grundthese von Jan Kott. Diese Welt der Königsdramen aber ist bei Shakespeare ein statisches Geschehen. Um es mit den Worten von Kott zu sagen: „Jede dieser großen Geschichtstragödien beginnt mit dem Kampf um den Thron oder dessen Befestigung. Jede endet mit dem Tod des Monarchen und der neuen Krönung.“ Ein großer Mechanismus von Machtverlust und Machtergreifung wird demonstriert. Darum werden bei Shakespeare, wie Kott zeigt, die entscheidenden und grauenhaften Ereignisse von Mord und Verrat, Speichelleckerei und Angst als einfache Spielregeln in einem mechanischen und statischen Geschehen dargestellt. Mechanisch und statisch, weil diese Feudalwelt in ihr Endstadium eingetreten, anachronistisch geworden ist.

Vom Endspiel dieser Feudalwelt her aber versteht Kott nicht bloß die eigentlichen Königsdramen, sondern ebenso den „Hamlet“ und den „Lear“. „Richard III. kündigt Hamlet an“, so sagt er, und setzt hinzu: „König Lear ist gleich Hamlet auch eine Tragödie des Menschen, des Zeitgenossen Shakespeare, die politische Tragödie des Humanismus der Renaissance.“

Quelle DIE ZEIT 1. Mai 1964 Shakespeare – von Beckett her verstanden / Von Hans Mayer

Höchstes Glück der Erdenkinder…

… ist doch die … (nun?) … sei nun … (nein!) … sei nur …

Ja, „sei nur die Persönlichkeit“, so steht es da. Und zwar im Zeichen der Suleika. Aber wie kam ich heute nacht drauf? Heute Nacht? Weil ich vorm Einschlafen über Hamlet gelesen hatte. Und spottete noch, dass es wohl „Enkelkinder“ heißen müsste, frühmorgens vor Heiligabend, und „Persönlichkeit des Großvaters“. Erinnerte mich aber , dass ich Adornos „Glosse über Persönlichkeit“ Ende der 60er Jahre noch nach einer auf Tonband genommenen Radiosendung mit eigner Hand aufgeschrieben habe, von Anfang bis Ende, aber letztlich allein durch das Ende derart motiviert:

Wäre er ein richtiger Mensch, so wäre er nicht länger Persönlichkeit, aber auch nicht unter ihr, kein Reflexbündel sondern ein Drittes. Es blitzt auf in der Hölderlinschen Vision des Dichters: „Drum, so wandle nur wehrlos / Fort durchs Leben, und fürchte nichts!“

Shakespeare Titel  Shakespeare Text Cover gr Shakespeare Text Cover kl

Vielleicht erscheint diese geträumte Bildergeschichte im Nachhinein haltlos übertrieben, selbst mir, denn es ging vorerst nur um Hamlet (nein, zuerst über den Mohren von Venedig, nein, den „Mohren“ von Venedig). Wie kam ich in diesem Zusammenhang noch auf den Buchtitel „Wer bin ich und wenn ja wie viele“? Noch zu behandeln: Wie kam eigentlich Monteverdi in seiner Marienvesper auf „Nigra sum“? Wie schwarz ist Clorinda in seinem Combattimento? (Natürlich ist sie weiß! Aber das ist nicht selbstverständlich, sie musste von Tasso weiß gemacht werden.) Es gibt Arbeit! Lese- und Schreib-Arbeit.

Frank Günther zitiert einen Text von Jacob Burckhardt (1860) über die Renaissance, als man in Italien sämtliche Dinge dieser Welt objektiv betrachten lernt; wobei sich zugleich „mit voller Macht das Subjektive erhebt, der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches.“ Und fügt hinzu:

In diesem alten Text schwingt selbstbewusster Jubel über das Geleistete und Erreichte: der Glaube an die unwiderruflichen Werte des abendländischen Individualismus. Sie gehören, wie ein fernsehtauglicher Mode-Philosoph kürzlich sagte, längst in die Mülltonne der Geschichte. Die Begriffe Identität und Individualität, unsere Ich-Konstitution, sind nicht zuletzt durch Performanz-Theorien und Neurophysiologie pulverisiert – sie sind Chimären: Ich ist ein anderer. Ich bin viele. Und die numerische Mehrheit der Weltbevölkerung hat sie nie nachvollzogen; sie sind eine westliche Erfindung ohne Nachfolge.

Quelle Frank Günther: Unser Shakespeare / dtv München 2014 ISBN 978-3-423-26001-5

Ich finde, dass der Satz von der Mülltonne nicht der bedeutendste ist, den „ein  fernsehtauglicher Mode-Philosoph“ hätte sagen können, aber für seinen Namen und für seinen wirklich bekanntesten Satz wäre wohl noch Platz gewesen. Denn wer sich auf diese neue Philosophie-Mode eingelassen hat, könnte gerade dadurch auch potentieller Leser dieses von Denis Scheck bei Markus Lanz dringend empfohlenen Shakespeare-Buches geworden sein. Und sich selbst als Individuum im Hamlet-Kapitel wiedererkannt haben.

ZITAT

Denn in ihm, in seinem Selbst, meint Hamlet, lebt etwas anderes, „was Schau weit übersteigt“. Was ist das, was da in ihm lebt?

Es ist eine Frage, mit der Hamlet sich, das ganze weitere Stück über, weit mehr beschäftigen wird als mit seinem Racheauftrag. Sie beschäftigt auch uns heute mehrals die zeitgenössischen Verstehenshorizonte und die religiös-metaphysischen Implikationen eines Königsmodes und des Rache-Konzeptes. Die Figur Hamlet gilt als der erste Mensch der Neuzeit auf der Bühne. Wie der Kulturhistoriker Jakob Burckhardt aufgezeigt hat, war die Renaissance die Geburtsstunde der Individualität. Im Hamlet beobachten wir die theatralische Darstellung der Geburtswehen, mit denen jenes neue Etwas in die abendländische Welt geboren wurde, dessen letzte Nachfahren wir Heutigen sind: Hamlet steht als Archetypus am Beginn der Geschichte unseres „Ich“.

Denn der Einzelne war nicht immer ein „Individuum“: Er war im Mittelalter Teil einer paternalistischen, strikt religiös ausgerichteten Gemeinschaft, einem domestizierenden Kollektiv aus Familie, Clan oder Volk, das für ihn eine vorgegebene Rolle bereithielt und deren Einhaltung die soziale Kontrolle der Gemeinschaft überwachte. Vom Einzelnen wurde die Ausfüllung dieser Rolle verlangt, aber nicht etwa zum Wohle seines Selbst, sondern im Dienst an Gott und Gemeinschaft. Auch die christliche Einzelseele war nur in Beziehung zu Gott gesehen, war dienend ausgerichtet auf den „Herrn“. Mit Misstrauen betrachtete man Abweichungen: Ein persönlicher „Stil“, eine eigene „Handschrift“, „Selbstverwirklichung“ war kein kulturelles Ideal – im Gegenteil: Der Abweichler erschien negativ als Störelement im konformen Ganzen.

Quelle (s.o.) Frank Günther: „Unser Shakespeare“ Seite 66 (oben: Seite 76)

Zur Geschichte von weiß und schwarz, zu Monteverdi und Tasso ein andermal.