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Nicht vergessen: Dante, Mozart

Es ist nur eine Gedächtnisstütze:

Damals auf Texel erinnerte mich ein Zeitungsartikel an Vorarbeiten zu Dante, die im alten Blog vergraben sind. Es soll ja nun erstmal weitergehen, als sei nichts geschehen:  HIER (Friedrich Christian Delius)

Ein interessanter Artikel im Blog „Faustkultur“ dürfte in diesem Sinn weiterführen: HIER (Stefana Sabin)

2 CDs begleiten mich auf Autofahrten: Warum gerade Sinfonien von Carl Friedrich Abel? Gleicht nicht eine der anderen zum Verwechseln? Erstens ist das nicht richtig, zweitens geht es mir um Mozart, drittens um die Übung „strukturellen Hörens“ (Felix Salzer), die ich rekapituliere anlässlich der Grundlagen klassischer Harmoniegänge und ihrer formelhaften Verwertung in der Popmusik. Wieso Mozart? Das soll der nächste Beitrag zeigen, ein Text aus dem Jahre 2005, in dem ich mich mit dem Kind Mozart in der „Sonatenkindheit“ beschäftigt habe und den ich, soweit ich weiß, noch nirgendwo wiedergegeben habe, abgesehen von der TACET-Veröffentlichung.

Abel Cover 1 Abel Cover 2

Zugleich erinnere ich mich an eine SWR-Sendung, die – aus meiner Sicht – an das Booklet zum „Kind Mozart“ anknüpfen sollte, aber auch Hinweise geben sollte, weshalb man Mozart heute oft unterschätzt, ohne zu wissen warum. Hier ist der Anfang des Skriptes vom Dezember 2006 , Bestandteil einer Sendereihe zum 250. Geburtsjahr des Komponisten.

SWR2 Mozart 2006 Musik Spezial: Musikfeuilleton / 21. Dezember 22:03 Uhr bis 23:00 Uhr / Es-dur: Mozart bricht auf! Vom bloßen Dreiklang zur Seelenlandschaft / Von Jan Reichow

Mozart ist schön! Das weiß jeder. Das weiß man schon, ohne genauer hinzuhören. Man weiß es schon so genau, dass man es sich leisten kann, nur noch mit halbem Ohr zuzuhören. Das ist doch Mozart. Das kenn ich. Und man weiß, dass alles gleich schön ist, bemerkt kaum noch, dass man mit einem Füllhorn von angenehmen Motiven überschüttet wird, die sich [dann] alle als irgendwie zusammengehörig erweisen, denn der Eindruck unhinterfragbarer Schönheit ist von vornherein da. War immer schon da.

Aber stellen Sie sich vor, Sie müssten einem gutwilligen Jugendlichen erklären, was eigentlich Mozarts Schönheit ausmacht, – es hat doch überhaupt nichts geholfen, ihn zur Pop-Ikone zu erklären! Zunächst müsste man wohl den Begriff Schönheit streichen und durch etwas anderes ersetzen, z.B. durch den der Lebendigkeit, – obwohl das auch nicht gerade cool klingt.

Den größten Fehler aber könnte man machen, indem man so beginnt:

1) Kleine Nachtmusik: die ersten 4 Takte (auf Klavier in D-dur) ca. 0:10

Zwei Akkorde, Tonika und Dominante, die prominentesten der klassischen Musik, – man könnte auch sagen: die abgegriffensten -, in plakativer Position: einmal rauf, einmal runter, und dann geht’s los!

„Eine kleine Nachtmusik“ – dass sie so übermäßig bekannt wurde, liegt weniger daran, dass sie womöglich anderen Werken Mozarts überlegen ist, als daran, dass es in der Nazi-Zeit einen populären Mozartfilm dieses Titels gab.

Also etwas anderes: Noch einmal die beiden Akkorde, in einer anderen Version: beide in melodisch absteigenden Formen, harmonisch bewegt, – es öffnet sich, es schließt sich. Und dann kommt – o Wunder – der dritte prominente Akkord, die Subdominante, und der Weg zurück. (Wohlgemerkt: es geht hier nicht um Theorie, sondern um pures Hinhören!):

2) 5039 692 Mozart Klavier-Rondo in D-dur KV 485 (Anfang) ca. 0:15

Ich würde besagtem Jugendlichen übrigens auch nicht Mozarts Violinkonzerte vorspielen. Diese Art jugendlicher Spielfreude ist heute wohl erst nachzuvollziehen, wenn man älter ist. „Heute“ sage ich, weil U-Musik und E-Musik seit langem so strikt getrennt werden, dass gerade das Leichte in der „schweren“ Musik nicht mehr ohne ausgiebige Hör-Erfahrung in seiner tieferen Bedeutung erfasst wird.

Vielleicht sollte man es etwas sportlicher oder – sagen wir – technischer angehen: identifizieren Sie einmal Motive wie das eben gehörte, schauen Sie, wie Sie nebeneinanderstehen, wie sie sich gleichen oder verändern, Bausteine gewissermaßen, die wir im Schnelldurchgang identifizieren. 7 Zitate aus 5 Werken, das sollte in unserer schnelllebigen Zeit kein Problem sein, – ein Sprung alle 10 Sekunden… Bedenken Sie, was das Fernsehen unseren Augen mit dem ständigen Wechsel der Kameraeinstellung zumutet. Aber die eigentliche Aufgabe wäre hier, im Sprung auch die Beziehung zwischen den Sprüngen wahrzunehmen. Achtung …

3) Mozart D-dur-COLLAGE b 2’10

a) 5008 129 Mozart Tr. 1 Kleine Nachtmusik KV 525 ab 0:58 bis 1:11

b) 5039 691 1 Mozart Tr. 1 Streichquartett KV 575 ab 0:11 bis 0:28

c) 5008 129 Mozart Tr. 1 Kleine Nachtmusik KV 525 ab 1:04 bis 1:18

d) 5039 692 Mozart Tr. 2 Klavier Rondo in D KV 485 ab 0:21 bis 0:34

e) 5039 691 1 Mozart Tr. 1 Streichquartett KV 575 ab Anfg. bis 0:35

f) 3101 493 (CD Kopie Tr. 6) Divertimento KV 136 ab Anfg. bis 0:18

g) 5052 662 Tr. 3 Klav.quartett g-moll KV 478 letzter Satz 0:53 bis 1:26

Mozartsche Bausteine, – ausgelesen von Köchelverzeichnis Nr. 136 bis 525; man könnte von hier elegant zu dem gern zitierten „Musikalischen Würfelspiel“ kommen, was sich jedoch verbietet, da es glücklicherweise überhaupt nicht von Mozart stammt. Solche Ideen spukten damals allerdings in rationalistischen Köpfen herum: Musik, die sich von selbst komponiert.

Und wir werden uns nun gleich vom D-dur-Mozart trennen, zuvor aber doch noch einen Blick auf sein Violinkonzert D-dur werfen. Ein Fanfaren-Dreiklang als Starter, und eine schrittweise hingetupfte Reaktion: so schreibt der 20jährige Mozart.

4) Anfang Solo Violinkonzert D-dur KV 211 A.S.Mutter A bis 0:23 0:23

Mehr als 10 Jahre vorher hatte der Knabe das Modell solcher galanten Dialektik in London gelernt und bereits folgendermaßen formuliert:

5) Anfang Mozart Sinfonie D-dur KV 19 A bis 0:13 0:13

Sinfonie D-dur, KV 19. Etwas weiter vorn stand in dem Komponierbüchlein des kleinen Wolfgang schon eine Sinfonie in Es-dur, eigenhändig geschrieben, man gab ihr die Köchel-Nummer 18; aber er hatte sie nur zu Übungszwecken abgeschrieben, das Original stammte von dem in London neben Johann Christian Bach maßgebenden Komponisten Carl Friedrich Abel; also ein Modell, vielleicht vom Vater Leopold empfohlen: „so und nicht anders schreibt man heute eine Sinfonie!“

6) Abel (KV 18) Sinfonie Es-dur Tr. 18 A bis 0:28 0:28

Aber noch bevor der Knabe Wolfgang diese Abel-Sinfonie studierte, hatte er bereits etwas Eigenes in Es-dur geschrieben: seine erste Sinfonie, ein erster Versuch, den Apparat eines ganzen Orchesters zu bewältigen.

Auch hier das Ur-Material des Dreiklangs. Statt des getupften Gegensatzes jedoch eine Fläche von Hornklängen, deren Abfolge einer Harmonielehre-Aufgabe ähnelt.

7) Mozart (KV 16) Es-dur Tr. 1 A bis ca. 0:35 (unter Text) 0:35

Und so weiter – der Text allein bringt wenig – man müsste die Musikbeispiele hören. Und ich weiß, dass gerade die Collage (Beispiel 3) auch für Laien (ich apostrophiere gern die „Jugendlichen“, die für diese Detektivarbeit zu gewinnen wären) gut durchhörbar und durchschaubar wäre, – übrigens auch in der Vorbereitung viel Arbeit gemacht hat.

Das Wort, in einer taumelnden Welt

(Z.B. am Morgen ratlos erwachend)

Heute war es etwa die Erinnerung an die gestrige Lektüre der FAZ, Donnerstag, 21. Mai, die Sonne schien, ein starker Wind wehte, der Wald – in 20 Metern Entfernung – stand grün und rauschte, der Buchfink schlug „ohn‘ Unterlass“. Nichts Finsteres. Es war die Überschrift – „Der frechste Dichter aller Zeiten“ – und die Tatsache, dass damit DANTE gemeint ist, und die Schlusszeilen – mit der Kenntnis des ganzen Artikels:

Ein Freudenfest der Sprache, ein Triumph der Poesie über Politik, Poesie und, notabene, Theologie. Als wäre die Dichtung, als wäre die Kunst das einzig Konstante in einer taumelnden Welt.

Und dann am nächsten Morgen Schubert hören (mit Kirschnereit), ein Buch von Georgiades aufschlagen und die Zeilen über Beethoven lesen (‚dona nobis pacem‘), warum er diese Überschrift dafür wählte: ‚Bitte um innern und äußern Frieden‘.

Auch dies erscheint als Folge dieser eigentümlichen Haltung, die das Wort als gegenwärtiges Geschehen, als Handeln auffaßt. Denn wir können sagen: Das Wort entsteht bei dieser Einstellung dort, wo das Ich auf die Außenwelt stößt. Innenwelt kann hier nicht ohne Außenwelt existieren. Dies ist das wesentliche Merkmal der Wiener klassischen Musik, ein nur ihr eigenes Merkmal. Dieser Drang nach Vergegenständlichung des Ich, nach Verinnerlichung der Außenwelt prägte auch die Eigenart von Beethovens Komposition und veranlaßte die Überschrift ‚Bitte um innern und äußern Frieden‘.

Da habe ich also den Katalysator, wissend, dass es an dieser Stelle auf Schubert hinausführen soll, den ich gerade gehört habe, zu dem ich eine schöne Einführung des Pianisten gelesen habe (über die Wanderschaft als Prinzip). Und zugleich ist da dieser Zeitungsartikel über „die Attraktivität der ‚Commedia‘ mit ihrem Jenseitskonzept als Spiegel des Diesseits“:

In den Berlusconi-Jahren wurde Dante fast zum Massenautor, vor allem dank Roberto Benigni. Ich kann nur empfehlen, auf Youtube zu schauen und zu hören, wie Benigni in großen Sälen, auf großen Plätzen Dante sprechend lebendig macht.

Und schon habe ich alles zusammen, was ich brauche, um aus eigenem (?!) Antrieb aktiv zu bleiben. Meine Außenwelt (Dante – aufgrund der Empfehlung von Kurt Flasch, der von FCD als Auslöser genannt wird, mir aber voriges Jahr in Bonn in ähnlicher Funktion begegnet ist), Schubert, Georgiades, ein vorläufig unbestimmbares neueres Erinnerungsfragment, das die Erscheinungweisen von Musik betrifft, die geöffnete Tür, den Wald, den Buchfinken, 1 CD, 1 Zeitungsseite. Der Autor: Friedrich Christian Delius. Merkwürdig genug, dass er auf Dante gekommen war wie ich, aber eigentlich gar nicht so merkwürdig, wenn man dies liest:

Ungelesen, angelesen, achtel- oder halbgelesen, wahrscheinlich gibt es kein Buch in den Regalen der Literaturfreunde in aller Welt, das so selten komplett gelesen wurde wie Dantes „Göttliche Komödie“. Auch ich brauchte mehrere Anläufe. Vier Jahrzehnte lang wollte der goldverzierte 100. Band der Fischerbücherei, den mein Vater, hessischer Landpfarrer und Italien-Freund, in den fünfziger Jahren gekauft und nicht gelesen hatte, von mir aufgeschlagen und gewürdigt werden. Hin und wieder fasste ich Mut, jedes Mal auf den ersten Seiten scheiternd. (…)

Es musste erst Kurt Flasch 2011 mit den zwei großformatigen Bänden, mit seiner präzisen Prosafassung und der „Einladung, Dante zu lesen“ kommen, damit ich die 14 233 Verse noch einmal von vorn und dann bis zum Ende las.

Meer Hafen Texel

In der Tat ging es mir ähnlich, angefangen von dem 100. Fischer-Buch-Band in den 50er Jahren bis hin zum 13.12.2011, als ich erlebte, wie Kurt Flasch seine neue Übersetzung in der Buchhandlung Böttger in Bonn vorstellte und ich „von Stund‘ an“ das Inferno las.

Und folge FCD weiterhin mit Zustimmung und Anteilnahme:

Aber warum? Die Lektüre bleibt ja strapaziös. Bei aller Begeisterung für poetische Raffinesse, bei aller Bewunderung der Phantasiekraft, bei aller Neugier auf den politischen Dante – es gibt genügend öde Passagen, die uns heutige Leser resignieren lassen. Wir verzweifeln an unserer Unbildung, wir ermüden auf den kosmologischen, philosophischen, mystisch-theologischen Etappen am Läuterungsberg und im Paradies. Warum ich durchhielt, kann ich nur erklären, wenn ich ein Betriebsgeheimnis preisgebe.

Ja, bitte – aber welches denn? Warum geht das Zitat nicht weiter? Damit der Leser, die Leserin selbst, sage ich mir, ähnliche Überlegungen anstellt wie ich, – der ich heute morgen gewissermaßen das gleiche Betriebsgeheimnis – wie so oft – in die Praxis umgesetzt habe. Ich höre Schuberts Sonate a-moll D 845, die ich mir schon Mitte der 50er Jahre in den Noten meines Vaters durchgesehen hatte, später war es die andere, frühere Sonate in a-moll, die ich 1959 gründlich studiert habe (als privater Schüler von Hanns-Ulrich Kuntze in Detmold), mühsam fand ich Zugang – mir erschien sie unnötig schwer – , nur der Ernst des Lehrers vermittelte eine leise Vorstellung davon, dass in der Musik etwas ganz anderes passierte (und passieren musste), als ich ahnte. Aber erst Jahre später (durch das Schubert-Buch von Gülke)  begriff ich, dass dies auch in Worten angedeutet werden sollte. Dass dies vielleicht sogar die Voraussetzung sei, zu Schubert vorzustoßen und nicht nur im Vordergrund bei 1000 „schönen Stellen“ stehenzubleiben.

Und auch heute noch geht es mir so, dass ich beglückend finde, wenn jemand, der Schubert wunderbar in klingende Musik übersetzt, zugleich (wie Alfred Brendel) imstande ist, eine Ahnung davon verbal zu übermitteln. Die Anwendung des Betriebsgeheimnisses also heute morgen: Die ebenso einfache wie ohrenöffnende Einführung des Pianisten Matthias Kirschnereit in sein Schubert-Programm zu lesen, zu beherzigen und dann die große Sonate in a-moll von ihm zu hören. Er ist kein effektvoller Redner, was ihn auszeichnet, ist Glaubwürdigkeit:

Mein Klavierlehrer in Windhuk, Namibia, gab mir einst das Scherzo in B von Franz Schubert auf – es sollte das erste Werk des Komponisten sein, welches ich spielte. Ich mochte das kleine Stück: pianistisch nicht sonderlich anspruchsvoll, charmant und heiter – und schon damals faszinierte mich der Umstand, dass der launige Hauptgedanke mal wienerisch behaglich, mal frech und kapriziös daher kommt. Das Erzählen von Geschichten auf dem Klavier hat mich von Anbeginn fasziniert und ich lese hinter den Tönen und Harmonien, Phrasen und Perioden, Seelen- und Naturzustände.

Jahre später erlernte ich während des Detmolder Studiums die a-Moll-Sonate op. 42. Hier bekam ich erstmals eine Ahnung von Schuberts Abgründen, Schuberts Sehnsucht und – von Schuberts Wandern. Ich meine, dass in der Musik Franz Schuberts die Idee des Wanderns ein stilbildendes Charakteristikum darstellt. Dabei ist das Wandern gewiss vielschichtig zu verstehen. Zum einen im wörtlichen Sinne als das Wandern durch Stadt und Land, mal beschaulich, mal rastlos. Zum anderen sehe ich in Schuberts Wandern eine Metapher für die mehr oder weniger permanente Sehnsucht nach glücklicheren Umständen, bis hin zum erlösenden Tod. Besonders eindrücklich manifestiert sich dieses Sujet in den Liederzyklen „Schöne Müllerin“, wo das rauschende Bächlein zum engsten Vertrauten des Protagonisten wird, sowie in der „Winterreise“, wo auch die letzten verbliebenen Hoffnungen zu erfrieren scheinen.

So oder ähnlich hat man es vielleicht oft irgendwo gelesen, aber in dieser einfachen Form – ohne intellektuelles Muskelspiel – und im Zusammenhang mit einer vollkommen glaubwürdigen Interpretation bedeutet es mir als Motivation viel mehr als ein paar Seiten Moments musicaux von Adorno, so sehr ich sie schätze, und in anderen Fällen als Betriebsgeheimnis zu Rate ziehe. – Doch dazu Weiteres von FCD, dem Schriftsteller:

Jeden Morgen vor der Arbeit an einem Prosatext pflege ich mich mit einem Klassiker zu dopen. Zwei, drei Seiten inhalieren, wenige Minuten nur, es kann „Dichtung und Wahrheit“, Jean Paul oder Joseph Roth sein, auch die neuen Übersetzungen der „Kartause von Parma“ oder „Tristram Shandy“, derzeit ist es Jaroslav Hašeks „Die Abenteuer des guten Soldaten Svejk im Weltkrieg“. Mit dem Echo solcher Meisterprosa im Ohr wird es leichter, die Kriterien scharf zu halten und die eigene Sprachmelodie zu finden.

Flaschs Dante half mir 2012 bei der Erzählung „Die linke Hand des Papstes“. Ich arbeitete in Rom, jonglierend mit meinen Erfahrungen, Beobachtungen und Entdeckungen aus zwölf und mehr Rom-Jahren. Da tat es gut, jeden Morgen vor der Arbeit einen Gesang, also rund 140 fein rhythmisierte Zeilen aus der „Göttlichen Komödie“ zu lesen, teils im Original, teils im Flasch, teils im Vezin, mit möglichst wenig Kommentar. Schnell war mit klar, dass Dante mein Verbündeter war.

Was für gute Worte! Genau das möchte ich auch: Franz Schubert zum Verbündeten gewinnen. Nicht unbedingt dank Kirschnereits Interpretation, es begann ja viel früher. Und ich will auch die kleine Ernüchterung nicht unerwähnt lassen, die mir das Werbevideo bereitet, das der Verlag oder die Agentur bereitstellt. Nicht die Worte, die in etwa dasselbe wiedergeben, was der CD-Text des Künstlers schon in aller Kürze bot. Mich interessiert nicht, wie der Künstler einherschreitet oder probeweise die Posen einnimmt, die zu einem nachdenklichen Foto führen mögen. Die Musik bedarf dessen nicht, und der Künstler eigentlich auch nicht.  Hier  Die Kurzweil der fragmentierten Augenblicke ist es kaum, die den Unschlüssigen zu überreden vermag, sondern vor allem die konzentrierte Beobachtung der langen Wanderung von Sonatenanfang bis Sonatenende. Inbegriffen Momente der Ratlosigkeit und des Zweifels. Nonstop 37 Minuten. Man sollte nicht glauben, mit einem Querschnitt auch nur einen Abglanz dessen wahrzunehmen, was den ganzen Schubert ausmacht. Meine Empfehlung: die CD aufzulegen und zuerst die Sonate von Tr. 4 – 7 zu hören. Anschließend – nach einer Bedenkpause – die drei kleineren Stücke Tr. 1, 2 und 3. Und dann könnte wiederum ein Wort aus Kirschnereits Text den Schlüssel liefern, bevor man sich dem „Rest“ der CD überlässt, ein Wort, bei dem allzu feinsinnigen Schubert-Interpreten das Blut in den Adern gerinnt: „eine der triumphalsten Kompositionen Schuberts überhaupt“ – die Wanderer-Fantasie.

Man vergisst, wie oft sich in seinen bedeutendsten Werken „ein dem Leben zugewandter, ausgelassener und gar verwegen draufgängerischer Schubert zeigt“. Das tragische Klischee ist zu einer Wahrnehmungsbehinderung geworden. Denn das Damoklesschwert des Todes hängt über uns allen, – dass wir es wissen, macht uns zu Menschen – aber worauf es ankommt, ist nicht die ziellose Angst und Ratlosigkeit, sondern die erfüllte Zeit, die wir im Zeichen der Kunst verbringen.

Ein letztes Zitat von FCD, damit ich nicht vergesse, weshalb ich mir z.B. eins seiner Bücher besorgen will (gegensätzliche Rezensionen verkraftend, siehe hier):

Ein spezielles Vergnügen also, im skandalsatten und korrupten Rom den Moralisten Dante täglich zehn Minuten bei seinen Gängen und Visionen zu begleiten, bevor ich daran ging, von den Konflikten eines Fremdenführers zu erzählen, vom Geheimnis der linken Hand des Papstes und vom Coup des Augustinus, die Erbsünde zu erfinden und diese Idee dank Bestechung mit achtzig arabischen Zuchthengsten bei Kaiser und Papst durchzupauken. Vergil und Dante mit größtmöglichem Abstand und Respekt in heiterer Bescheidenheit zu folgen, das kann auch im 21. Jahrhundert kein Irrweg sein.

Endlich hatte ich begriffen: Hier schreibt der frechste Dichter aller Zeiten. Und das nicht nur als Gesellschaftskritiker, der seine politischen Gegener und die Schufte seiner Zeit, Päpste und Kaiser inklusive, stracks in die Hölle befördert. Seine größte Frechheit ist keine politische, sondern eine theologische.

Der Dichter schwingt sich zum Weltenrichter auf. Mit der Fiktion seiner Wanderung durch Inferno, Purgatorio und Paradiso nimmt er, natürlich in frömmster Absicht, Gott die schwere Arbeit des millionen- oder milliardenfachen Menschensortierens ab und entthront ihn, zumindest vorläufig, auch wenn er ihm inbrünstig unterworfen bleibt. Das ist der erheiterndste Widerspruch der Commedia, die zu anderen Zeiten als Ketzerei verfolgt wurde.

Quellen

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Mai 2015 Seite 13 Der frechste Dichter aller Zeiten Wer in  die Hölle kommt und wer ins Paradies, entscheidet dieser Poet: Vor 750 Jahren wurde der Weltenretter Dante geboren / Von Friedrich Christian Delius

EDEL Kultur 2012 (Berlin Classics) 0300302BC Franz Schubert Wanderer Fantasie / Matthias Kirschnereit, Klavier

Thrasybulos Georgiades: MUSIK UND SPRACHE Das Werden der abendländischen Musik dargestellt an den Vertonungen der Messe. Springer-Verlag Berlin Göttingen Heidelberg 1954

Nachtrag 1

Angefügt seien ein paar Links zu dem von FCD hervorgehobenen Roberto Benigni: Er rezitiert den ersten Gesang aus dem INFERNO, den Anfang der ganzen Divina Commedia von Dante Alighieri: HIER. Text-Synopse (zum Mitlesen) HIER.

Nachtrag 2 (27. Mai 2015)

Ein Gespräch mit Kurt Flasch in DIE WELT: Hölle, Hölle, Hölle!

Dank an Berthold!

***

Nichts Finsteres. (Zu Pfingsten auf Texel)

WALD Texel

Radikal kurz…

…die deutsche Literaturgeschichte

Ich kürze sie radikaler als Bismarck die Emser Depesche und schlage zugleich vor, sie später im Original und in Echtzeit zu studieren, vieles ist atemberaubend:

Der von den Literaturgeschichten suggerierte Zusammenhang einer deutschen Literatur vom achten Jahrhundert bis zur Gegenwart ist eine erfundene Tradition. Sie wurde von Germanisten eben in der klassisch-romantischen Periode der deutschen Literatur behauptet, um den nationalen Anspruch auf ein uraltes Fundament zu stützen. So plötzlich trat im 18. Jahrhundert eine deutsche Literatur von höchstem Rang hervor, daß selbst die Zeitgenossen glaubten, es müßten vergessene Vorläufer in der deutschen Vergangenheit zu finden sein.

Quelle Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur dtv Deutscher Taschenbuch Verlag München 2003 ISBN 978-3-423-34022-9 (Seite 18 f)

Widersprüchlich muß es erscheinen, daß die deutschen zu den alten Kulturvölkern Europas gehören, im Mittelalter als Zentralmacht sich auf die Tradition des Imperium Romanum beriefen, und daß dennoch eine kontinuierlich wirksame literarische Überlieferung erst seit 250 Jahren besteht. Bei anderen europäischen Nationen besteht sie seit 500 Jahren – so in Frankreich, England, Spanien – oder gar seit 700 Jahren – so in Italien, wo sich die Erinnerung an Dante, Petrarca und Boccaccio bis heute nicht verloren hat. Deutsche Texte des Mittelalters und der frühen Neuzeit hingegen stehen wie eine fremde Literatur mehr außer- als innerhalb der literarischen Tradition in Deutschland. Als letzte unter den westeuropäischen Sprachen, lange nach der portugiesischen und selbst nach der niederländischen (die sich von der hochdeutschen getrennt hat), findet das Deutsche, von Gottsched auf den Weg und von Goethe ans Ziel gebracht, zur allgemein akzeptierten Gestalt einer Literatursprache, die dann auch zur grammatischen und stilistischen Norm nicht-literarischer Prosa wird. Traditionen sind in der Geschichte der deutschen Literatur so kurzlebig, daß sie gar nicht Traditionen heißen dürften. Die Kenntnis althochdeutscher Dichtung geht nach 1150 verloren, die der mittelhochdeutschen nach 1450, die der frühen Neuzeit nach 1770. Die Geschichte der deutschen Literatur besteht aus einer Serie verlorener Anfänge, ehe es zu einem Anfang kam, der Bestand haben sollte. Die ältesten deutschen Werke, die das literarische Gedächtnis bis heute behalten hat, sind Lessings Dramen, Goethes Werther, einige Gedichte Klopstocks, Bürgers, Claudius‘ und des jungen Goethe.

Es liegt auf der Hand, Namen zu nennen, die Schlaffers Meinung zu widerlegen scheinen (von Meister Eckhart oder Walther von der Vogelweide bis zu Grimmelshausen), – sie taten keine Wirkung (oder erst bei der Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert), sie gehörten nie zum öffentlichen Bewusstsein, der Gebildete in Deutschland verwendete Latein, die Klöster, der 30jährige Krieg, die Reformation usw. all dies bedeutete nicht eben einen Aufschwung der humanistischen Idee und der Renaissance.

In Deutschland, wo der Buchdruck erfunden wurde und sich das Verlagswesen am frühesten entwickelte, erschien in der frühen Neuzeit weniger weltliche Literatur in der eigenen Sprache als in anderen Ländern, und, was wichtiger ist als die Quantität, darunter keine, die heute noch Leser vergnügen, erstaunen, anrühren können. In der deutschen Literatur gibt es kein Gegenstück zu Villon, Ronsand, Rabelais, Montaigne in Frankreich, zu Sannazaro, Ariost, Tasso in Italien, zu Chaucer und den Elisabethanern in England, die alle zur Weltliteratur zählen. (Seite 36)

Deutschland ist das Land der Verspätung. Sehr interessant z.B. die Einschätzung des Begriffs „Barock“.

Die Serie der Verspätungen setzt sich im 17. Jahrhundert fort. Sie wäre deutlicher sichtbar, wenn man die – mit dem Klassizisten Opitz beginnende und mit dem Manieristen Hofmannswaldau endende – Epoche nicht „barock“ sondern „Renaissance und Manierismus“ genannt hätte. Der Begriff „Barock“ ist der Kunstgeschichte entlehnt, die ihn für Stilphänomene in europäischen Bauwerken und Gemälden des 17. und 18. Jahrhunderts verwendet. Die Eigenheiten dieses Stils sind ohne gewaltsame Interpretation in der deutschen Literatur des „Barock“ nicht wiederzufinden, doch verleihen sie ihr den Nimbus des Zeitgemäßen und gar einer Vorläuferschaft in der europäischen Kunstgeschichte. Durch geschickte Namensgebung hat die Germanistik das Abgeleitete zum Ursprünglichen umgetauft.

Nicht nur verspätet gelangt die Nachricht von der Wiederentdeckung der Antike nach Deutschland, sondern auch entschärft und entleert. (Seite 38)

Was ist mit meiner Langversion aus dem Jahr 1964?

LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte VI

ZITAT

Erst die Dissertation von Julian Schütt kehrte 1996 hervor, dass de Boor vorbildliche Arbeit für den NS-Staat leistete, indem er zum einen die deutsche Studentenschaft in der Schweiz zur Regierungspropaganda anregte und zum anderen im Auftrag der Kulturabteilung der deutschen Gesandtschaft in Bern die politischen Einstellungen der Berner Universitätsdozenten auskundschaftete. Leider verfiel der Schweizer Bundesrat erst 1945 darauf, de Boor zusammen mit seinem Gesinnungsfreund Richard Newald des Landes zu verweisen, auch wenn den beiden, wie Max Wehrli unterstrich, „wissenschaftlich […] kaum etwas vorzuwerfen“ war. Die Rubrik ‚Literatur‘ (gemeint ist Sekundärliteratur) nennt weder Schütts Monographie, noch Wehrlis Aufsatz, leider; auch wäre im Falle de Boor die Tatsache, dass er 1937 in die NSDAP eintrat, besonders aussagekräftig gewesen, da dahinter weniger Karrierekalkül, denn politische Überzeugung zu vermuten ist, schließlich lehrte de Boer zu diesem Zeitpunkt schon sieben Jahre lang in der Schweiz. Nicht eigens Erwähnung finden im Übrigen de Boors wie auch Burgers Beitrag zum germanistischen Kriegseinsatz-Projekt ‚Von deutscher Art in Sprache und Dichtung‘.

Quelle Geschichte der Germanistik / Mitteilungen herausgegeben von Christoph König in Verbindung mit Michel Espagne, Ulrike Haß, Ralf Klausnitzer, Ulrich Wyss / 2004 Doppelheft 25/26  Wallstein Verlag (Seite 31)

Kritische Worte zum enzyklopädischen Ansatz

Ein Literaturhistoriker, dem in dem vielbändigen Großunternehmen Geschichte der deutschen Literatur (begründet von de Boor und Newald) die Darstellung des 15. und 16. Jahrhunderts zugefallen war, wehrt sich gegen das „Vorurteil“, daß die deutsche Dichtung dieser Epoche „minderwertig sei und die Mühe einer systematischen Beschäftigung nicht lohne“. Er hofft, das Vorurteil dadurch widerlegen zu können, daß er „philologisch sachliche Stofferfassung und -darbietung“ verbindet, an „die Stelle einer Geschichte der poetischen Literatur die Schrifttumsgeschichte treten“ läßt, um auf diese Weise zwei Bände mit mehr als 1400 Seiten zu füllen. Unter den vielen hundert Dichtern, die hier angeführt sind, kennt selbst der Gebildete (falls er nicht professioneller Germanist ist) lediglich den Namen – nicht das Werk – von Hans Sachs, und auch dies nur dank seiner Würdigung durch Goethe und seinen Auftritt in Wagners Meistersingern. Kultur- und Schrifttumsgeschichte läßt sich, da Kultur immer stattfindet und irgend etwas immer geschrieben wird, auch dann betreiben, wenn es an lesens- und erinnernswerter Dichtung fehlt. Wer diese beiden Bände liest, erfährt von der Existenz vieler Schriften, deren Lektüre er sich trotz dieser Unterrichtung dennoch nicht vornehmen möchte. Wie so oft ist das „Vorurteil“ Ergebnis eines vielfach bestätigten Urteils. Es ist nicht sinnvoll, das Urteil über die deutsche Literatur der frühen Neuzeit zu korrigieren, sinnvoll ist es aber zu erklären, weshalb es zutrifft.

Quelle (s.o.) Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur dtv Deutscher Taschenbuch Verlag München 2003 ISBN 978-3-423-34022-9 (Seite 35 f)