Das Wort, in einer taumelnden Welt

(Z.B. am Morgen ratlos erwachend)

Heute war es etwa die Erinnerung an die gestrige Lektüre der FAZ, Donnerstag, 21. Mai, die Sonne schien, ein starker Wind wehte, der Wald – in 20 Metern Entfernung – stand grün und rauschte, der Buchfink schlug „ohn‘ Unterlass“. Nichts Finsteres. Es war die Überschrift – „Der frechste Dichter aller Zeiten“ – und die Tatsache, dass damit DANTE gemeint ist, und die Schlusszeilen – mit der Kenntnis des ganzen Artikels:

Ein Freudenfest der Sprache, ein Triumph der Poesie über Politik, Poesie und, notabene, Theologie. Als wäre die Dichtung, als wäre die Kunst das einzig Konstante in einer taumelnden Welt.

Und dann am nächsten Morgen Schubert hören (mit Kirschnereit), ein Buch von Georgiades aufschlagen und die Zeilen über Beethoven lesen (‚dona nobis pacem‘), warum er diese Überschrift dafür wählte: ‚Bitte um innern und äußern Frieden‘.

Auch dies erscheint als Folge dieser eigentümlichen Haltung, die das Wort als gegenwärtiges Geschehen, als Handeln auffaßt. Denn wir können sagen: Das Wort entsteht bei dieser Einstellung dort, wo das Ich auf die Außenwelt stößt. Innenwelt kann hier nicht ohne Außenwelt existieren. Dies ist das wesentliche Merkmal der Wiener klassischen Musik, ein nur ihr eigenes Merkmal. Dieser Drang nach Vergegenständlichung des Ich, nach Verinnerlichung der Außenwelt prägte auch die Eigenart von Beethovens Komposition und veranlaßte die Überschrift ‚Bitte um innern und äußern Frieden‘.

Da habe ich also den Katalysator, wissend, dass es an dieser Stelle auf Schubert hinausführen soll, den ich gerade gehört habe, zu dem ich eine schöne Einführung des Pianisten gelesen habe (über die Wanderschaft als Prinzip). Und zugleich ist da dieser Zeitungsartikel über „die Attraktivität der ‚Commedia‘ mit ihrem Jenseitskonzept als Spiegel des Diesseits“:

In den Berlusconi-Jahren wurde Dante fast zum Massenautor, vor allem dank Roberto Benigni. Ich kann nur empfehlen, auf Youtube zu schauen und zu hören, wie Benigni in großen Sälen, auf großen Plätzen Dante sprechend lebendig macht.

Und schon habe ich alles zusammen, was ich brauche, um aus eigenem (?!) Antrieb aktiv zu bleiben. Meine Außenwelt (Dante – aufgrund der Empfehlung von Kurt Flasch, der von FCD als Auslöser genannt wird, mir aber voriges Jahr in Bonn in ähnlicher Funktion begegnet ist), Schubert, Georgiades, ein vorläufig unbestimmbares neueres Erinnerungsfragment, das die Erscheinungweisen von Musik betrifft, die geöffnete Tür, den Wald, den Buchfinken, 1 CD, 1 Zeitungsseite. Der Autor: Friedrich Christian Delius. Merkwürdig genug, dass er auf Dante gekommen war wie ich, aber eigentlich gar nicht so merkwürdig, wenn man dies liest:

Ungelesen, angelesen, achtel- oder halbgelesen, wahrscheinlich gibt es kein Buch in den Regalen der Literaturfreunde in aller Welt, das so selten komplett gelesen wurde wie Dantes „Göttliche Komödie“. Auch ich brauchte mehrere Anläufe. Vier Jahrzehnte lang wollte der goldverzierte 100. Band der Fischerbücherei, den mein Vater, hessischer Landpfarrer und Italien-Freund, in den fünfziger Jahren gekauft und nicht gelesen hatte, von mir aufgeschlagen und gewürdigt werden. Hin und wieder fasste ich Mut, jedes Mal auf den ersten Seiten scheiternd. (…)

Es musste erst Kurt Flasch 2011 mit den zwei großformatigen Bänden, mit seiner präzisen Prosafassung und der „Einladung, Dante zu lesen“ kommen, damit ich die 14 233 Verse noch einmal von vorn und dann bis zum Ende las.

Meer Hafen Texel

In der Tat ging es mir ähnlich, angefangen von dem 100. Fischer-Buch-Band in den 50er Jahren bis hin zum 13.12.2011, als ich erlebte, wie Kurt Flasch seine neue Übersetzung in der Buchhandlung Böttger in Bonn vorstellte und ich „von Stund‘ an“ das Inferno las.

Und folge FCD weiterhin mit Zustimmung und Anteilnahme:

Aber warum? Die Lektüre bleibt ja strapaziös. Bei aller Begeisterung für poetische Raffinesse, bei aller Bewunderung der Phantasiekraft, bei aller Neugier auf den politischen Dante – es gibt genügend öde Passagen, die uns heutige Leser resignieren lassen. Wir verzweifeln an unserer Unbildung, wir ermüden auf den kosmologischen, philosophischen, mystisch-theologischen Etappen am Läuterungsberg und im Paradies. Warum ich durchhielt, kann ich nur erklären, wenn ich ein Betriebsgeheimnis preisgebe.

Ja, bitte – aber welches denn? Warum geht das Zitat nicht weiter? Damit der Leser, die Leserin selbst, sage ich mir, ähnliche Überlegungen anstellt wie ich, – der ich heute morgen gewissermaßen das gleiche Betriebsgeheimnis – wie so oft – in die Praxis umgesetzt habe. Ich höre Schuberts Sonate a-moll D 845, die ich mir schon Mitte der 50er Jahre in den Noten meines Vaters durchgesehen hatte, später war es die andere, frühere Sonate in a-moll, die ich 1959 gründlich studiert habe (als privater Schüler von Hanns-Ulrich Kuntze in Detmold), mühsam fand ich Zugang – mir erschien sie unnötig schwer – , nur der Ernst des Lehrers vermittelte eine leise Vorstellung davon, dass in der Musik etwas ganz anderes passierte (und passieren musste), als ich ahnte. Aber erst Jahre später (durch das Schubert-Buch von Gülke)  begriff ich, dass dies auch in Worten angedeutet werden sollte. Dass dies vielleicht sogar die Voraussetzung sei, zu Schubert vorzustoßen und nicht nur im Vordergrund bei 1000 „schönen Stellen“ stehenzubleiben.

Und auch heute noch geht es mir so, dass ich beglückend finde, wenn jemand, der Schubert wunderbar in klingende Musik übersetzt, zugleich (wie Alfred Brendel) imstande ist, eine Ahnung davon verbal zu übermitteln. Die Anwendung des Betriebsgeheimnisses also heute morgen: Die ebenso einfache wie ohrenöffnende Einführung des Pianisten Matthias Kirschnereit in sein Schubert-Programm zu lesen, zu beherzigen und dann die große Sonate in a-moll von ihm zu hören. Er ist kein effektvoller Redner, was ihn auszeichnet, ist Glaubwürdigkeit:

Mein Klavierlehrer in Windhuk, Namibia, gab mir einst das Scherzo in B von Franz Schubert auf – es sollte das erste Werk des Komponisten sein, welches ich spielte. Ich mochte das kleine Stück: pianistisch nicht sonderlich anspruchsvoll, charmant und heiter – und schon damals faszinierte mich der Umstand, dass der launige Hauptgedanke mal wienerisch behaglich, mal frech und kapriziös daher kommt. Das Erzählen von Geschichten auf dem Klavier hat mich von Anbeginn fasziniert und ich lese hinter den Tönen und Harmonien, Phrasen und Perioden, Seelen- und Naturzustände.

Jahre später erlernte ich während des Detmolder Studiums die a-Moll-Sonate op. 42. Hier bekam ich erstmals eine Ahnung von Schuberts Abgründen, Schuberts Sehnsucht und – von Schuberts Wandern. Ich meine, dass in der Musik Franz Schuberts die Idee des Wanderns ein stilbildendes Charakteristikum darstellt. Dabei ist das Wandern gewiss vielschichtig zu verstehen. Zum einen im wörtlichen Sinne als das Wandern durch Stadt und Land, mal beschaulich, mal rastlos. Zum anderen sehe ich in Schuberts Wandern eine Metapher für die mehr oder weniger permanente Sehnsucht nach glücklicheren Umständen, bis hin zum erlösenden Tod. Besonders eindrücklich manifestiert sich dieses Sujet in den Liederzyklen „Schöne Müllerin“, wo das rauschende Bächlein zum engsten Vertrauten des Protagonisten wird, sowie in der „Winterreise“, wo auch die letzten verbliebenen Hoffnungen zu erfrieren scheinen.

So oder ähnlich hat man es vielleicht oft irgendwo gelesen, aber in dieser einfachen Form – ohne intellektuelles Muskelspiel – und im Zusammenhang mit einer vollkommen glaubwürdigen Interpretation bedeutet es mir als Motivation viel mehr als ein paar Seiten Moments musicaux von Adorno, so sehr ich sie schätze, und in anderen Fällen als Betriebsgeheimnis zu Rate ziehe. – Doch dazu Weiteres von FCD, dem Schriftsteller:

Jeden Morgen vor der Arbeit an einem Prosatext pflege ich mich mit einem Klassiker zu dopen. Zwei, drei Seiten inhalieren, wenige Minuten nur, es kann „Dichtung und Wahrheit“, Jean Paul oder Joseph Roth sein, auch die neuen Übersetzungen der „Kartause von Parma“ oder „Tristram Shandy“, derzeit ist es Jaroslav Hašeks „Die Abenteuer des guten Soldaten Svejk im Weltkrieg“. Mit dem Echo solcher Meisterprosa im Ohr wird es leichter, die Kriterien scharf zu halten und die eigene Sprachmelodie zu finden.

Flaschs Dante half mir 2012 bei der Erzählung „Die linke Hand des Papstes“. Ich arbeitete in Rom, jonglierend mit meinen Erfahrungen, Beobachtungen und Entdeckungen aus zwölf und mehr Rom-Jahren. Da tat es gut, jeden Morgen vor der Arbeit einen Gesang, also rund 140 fein rhythmisierte Zeilen aus der „Göttlichen Komödie“ zu lesen, teils im Original, teils im Flasch, teils im Vezin, mit möglichst wenig Kommentar. Schnell war mit klar, dass Dante mein Verbündeter war.

Was für gute Worte! Genau das möchte ich auch: Franz Schubert zum Verbündeten gewinnen. Nicht unbedingt dank Kirschnereits Interpretation, es begann ja viel früher. Und ich will auch die kleine Ernüchterung nicht unerwähnt lassen, die mir das Werbevideo bereitet, das der Verlag oder die Agentur bereitstellt. Nicht die Worte, die in etwa dasselbe wiedergeben, was der CD-Text des Künstlers schon in aller Kürze bot. Mich interessiert nicht, wie der Künstler einherschreitet oder probeweise die Posen einnimmt, die zu einem nachdenklichen Foto führen mögen. Die Musik bedarf dessen nicht, und der Künstler eigentlich auch nicht.  Hier  Die Kurzweil der fragmentierten Augenblicke ist es kaum, die den Unschlüssigen zu überreden vermag, sondern vor allem die konzentrierte Beobachtung der langen Wanderung von Sonatenanfang bis Sonatenende. Inbegriffen Momente der Ratlosigkeit und des Zweifels. Nonstop 37 Minuten. Man sollte nicht glauben, mit einem Querschnitt auch nur einen Abglanz dessen wahrzunehmen, was den ganzen Schubert ausmacht. Meine Empfehlung: die CD aufzulegen und zuerst die Sonate von Tr. 4 – 7 zu hören. Anschließend – nach einer Bedenkpause – die drei kleineren Stücke Tr. 1, 2 und 3. Und dann könnte wiederum ein Wort aus Kirschnereits Text den Schlüssel liefern, bevor man sich dem „Rest“ der CD überlässt, ein Wort, bei dem allzu feinsinnigen Schubert-Interpreten das Blut in den Adern gerinnt: „eine der triumphalsten Kompositionen Schuberts überhaupt“ – die Wanderer-Fantasie.

Man vergisst, wie oft sich in seinen bedeutendsten Werken „ein dem Leben zugewandter, ausgelassener und gar verwegen draufgängerischer Schubert zeigt“. Das tragische Klischee ist zu einer Wahrnehmungsbehinderung geworden. Denn das Damoklesschwert des Todes hängt über uns allen, – dass wir es wissen, macht uns zu Menschen – aber worauf es ankommt, ist nicht die ziellose Angst und Ratlosigkeit, sondern die erfüllte Zeit, die wir im Zeichen der Kunst verbringen.

Ein letztes Zitat von FCD, damit ich nicht vergesse, weshalb ich mir z.B. eins seiner Bücher besorgen will (gegensätzliche Rezensionen verkraftend, siehe hier):

Ein spezielles Vergnügen also, im skandalsatten und korrupten Rom den Moralisten Dante täglich zehn Minuten bei seinen Gängen und Visionen zu begleiten, bevor ich daran ging, von den Konflikten eines Fremdenführers zu erzählen, vom Geheimnis der linken Hand des Papstes und vom Coup des Augustinus, die Erbsünde zu erfinden und diese Idee dank Bestechung mit achtzig arabischen Zuchthengsten bei Kaiser und Papst durchzupauken. Vergil und Dante mit größtmöglichem Abstand und Respekt in heiterer Bescheidenheit zu folgen, das kann auch im 21. Jahrhundert kein Irrweg sein.

Endlich hatte ich begriffen: Hier schreibt der frechste Dichter aller Zeiten. Und das nicht nur als Gesellschaftskritiker, der seine politischen Gegener und die Schufte seiner Zeit, Päpste und Kaiser inklusive, stracks in die Hölle befördert. Seine größte Frechheit ist keine politische, sondern eine theologische.

Der Dichter schwingt sich zum Weltenrichter auf. Mit der Fiktion seiner Wanderung durch Inferno, Purgatorio und Paradiso nimmt er, natürlich in frömmster Absicht, Gott die schwere Arbeit des millionen- oder milliardenfachen Menschensortierens ab und entthront ihn, zumindest vorläufig, auch wenn er ihm inbrünstig unterworfen bleibt. Das ist der erheiterndste Widerspruch der Commedia, die zu anderen Zeiten als Ketzerei verfolgt wurde.

Quellen

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Mai 2015 Seite 13 Der frechste Dichter aller Zeiten Wer in  die Hölle kommt und wer ins Paradies, entscheidet dieser Poet: Vor 750 Jahren wurde der Weltenretter Dante geboren / Von Friedrich Christian Delius

EDEL Kultur 2012 (Berlin Classics) 0300302BC Franz Schubert Wanderer Fantasie / Matthias Kirschnereit, Klavier

Thrasybulos Georgiades: MUSIK UND SPRACHE Das Werden der abendländischen Musik dargestellt an den Vertonungen der Messe. Springer-Verlag Berlin Göttingen Heidelberg 1954

Nachtrag 1

Angefügt seien ein paar Links zu dem von FCD hervorgehobenen Roberto Benigni: Er rezitiert den ersten Gesang aus dem INFERNO, den Anfang der ganzen Divina Commedia von Dante Alighieri: HIER. Text-Synopse (zum Mitlesen) HIER.

Nachtrag 2 (27. Mai 2015)

Ein Gespräch mit Kurt Flasch in DIE WELT: Hölle, Hölle, Hölle!

Dank an Berthold!

***

Nichts Finsteres. (Zu Pfingsten auf Texel)

WALD Texel