Archiv der Kategorie: Gesellschaft

Adorno noch einmal

Von der Terz und der Zersetzung der musikalischen Sprache

Adorno 1960 in Berlin

Quelle Theodor W. Adorno: Philosophie der Neuen Musik / Europäische Verlagsanstalt Frankfurt am Main 1958 (Seite 76 f)

1993 Beethoven-Buch + umgeblättert:

… „der gleiche Tatbestand nach seinen verschiedenen Aspekten. Wie aber, wenn schließlich der Ausdrucksdrang gegen die Möglichkeit des Ausdrucks selber sich kehrte?   [141]“

Quelle Theodor W. Adorno: Beethoven / Philosophie der Musik / Fragmente und Texte herausgegeben von Rolf Tiedemann / Suhrkamp Frankfurt am Main 1993

P.S. Natürlich war mir damals klar, dass man diese (hier isolierten) Äußerungen Adornos nicht grundsätzlich als gegen die Idee der „Zwölftonmusik“ gerichtet verstehen darf.

Vom Salon mit Chopin

JR 6.12.1966 Solingen

Quelle Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie / Zwölf theoretische Vorlesungen / Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1962

Chromatische Tonsprache und kujawische Motivik (s.a. hier)

Tadeusz A. Zielinski Chopin Lübbe 1999

Universalität?

Museum und integrales Konzert

Ich hätte damals noch etwas ergänzen können oder müssen: aus Adornos Kritik am Persönlichkeitsideal (jetzt 24.07.23 wiedergelesen, damals in „Stichworte“ von 1969, zuvor auch im Radio gehört):

So gehört es zur eisernen Ration pädagogischer Theorien, die auf der Höhe der Zeit sein möchten, das Humboldtsche Bildungsziel des allseitig entwickelten und ausgebildeten Menschen, eben der Persönlichkeit, abzufertigen. Unvermerkt wird aus der Unmöglichkeit, es zu verwirklichen – wenn anders es je verwirklicht gewesen sein sollte -, eine Norm. Was nicht sein kann, soll auch nicht sein. Die Aversion gegen das hohle Pathos der Persönlichkeit tritt, im Zeichen eines angeblich ideologiefreien Realitätsbewußtseins, in den Dienst der Rechtfertigung universaler Anpassung, als ob diese nicht ohne Rechtfertigung bereits allerorten triumphierte. Dabei war Humboldts Persönlichkeitsbegriff keineswegs einfach der Kultus des Individuums, das wie eine Pflanze begossen werden soll, um zu blühen. So wie er noch die Kantische Idee »der Menschheit in unserer Person« festhält, hat er zumindest nicht verleugnet, was bei seinen Zeitgenossen Goethe und Hegel im Zentrum der Lehre vom Individuum steht. Ihnen allen kommt das Subjekt zu sich selbst nicht durch die narzißtisch auf es zurückgezogene Pflege seines Fürsichseins, sondern durch Entäußerung, durch Hingabe an das, was es nicht selbst ist. In Humboldts Bruchstück ›Theorie der Bildung des Menschen‹ heißt es: »Bloß weil beides, sein Denken und sein Handeln nicht anders als nur vermöge eines Dritten, nur vermöge des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas möglich ist, dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist, Nichtmensch, d.h. Welt zu seyn, sucht er, soviel Welt als möglich zu ergreifen und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.« Den großen und humanen Schriftsteller konnte man einzig dadurch in die Rolle des pädagogischen Prügelknaben hineinzwängen, daß man seine differenzierte Lehre vergaß.

Quelle Theodor W. Adorno: Stichworte / Kritische Modelle 2 / darin: Glosse über Persönlichkeit / Suhrkamp Frankfurt am Main 1969 / Zitat Seite 54

Damals schon früher aus der Radiosendung mit Adorno notiert:

Zumindest Negatives läßt über den Begriff eines richtigen Menschen sich sagen. Er wäre weder bloße Funktion eines Ganzen, das ihm so gründlich angetan wird, daß er dovon nicht mehr sich zu unterscheiden vermag, noch befestigte er sich in seinern puren Selbstheit; eben das ist die Gestalt schlechter Naturwüchsigkeit, die stets noch überdauert. Wäre er ein richtiger Mensch, so wäre er nicht länger Persönlicheit, aber auch nicht unter ihr, kein bloßes Reflexbündel sondern ein Drittes. Es blitzt auf in der Hölderlinschen Vision des Dichters: »Drum, so wandle nur wehrlos / Fort durchs Leben, und fürchte nichts!«

*    *     *

P.S. Und heute nach 54 Jahren ein Wermuthstropfen in Adornos Hölderlin-Zitat? der – doch so ermutigende – letzte Halbsatz lautet im Original womöglich anders: nämlich so. (nein! Aufklärung folgt)

Fazit: auch angesichts höherer Autoritäten lohnt sich die Überprüfung von Zitaten ebenfalls hoher oder höherer Autorität. Oder? Am Ende behält gar die Philologie das allerletzte Wort…

Kritischer Bericht Seite 305 – 322, hier wiedergegeben Seite 316 – 319 / und die letzte Fortsetzung von „Dichtermuth“:

Neue Links zu Hölderlins Ode „Dichtermut“  1. Fassung 2. Fassung und Wikipedia hier (darin Link zu Versmaßen). Neue Ermutigung, Hölderlin selbst im Original zu suchen und verstehen zu lernen, gefunden bei Roland Reuß in dem sehr lesenswerten Buch „Ende der Hypnose“, Zitat:

Quelle Roland Reuß: Ende der Hypnose Vom Netz zum Buch / Verlag Strœmfeld Frankfurt am Main 2012 ( hier )

Patmos bei Wikipedia hier

Breite Gegenwart

Chemo und Lesestoff, Klinik, 8.Stockwerk

 

Ausblick von 8.15 – 12.50 Uhr Gumbrecht Lektüre bis hier:

Allmähliche Begeisterung, vielleicht durch Themenwendung zum Sport, mit Bezug auf die alten Griechen. Er spricht von Pindars Oden Seite 81 (s.a. hier im Blog). Stichwort Wiederverzauberung. Er zitiert Pablo Morales Seite 78f. Wer war JR Lemon? Mein Vorsatz, die Beispiele zur Ekstase („Fokussierung“) raussuchen. Später also mehr. Siehe auch Perlentaucher hier.

Im folgenden YouTube 100 m bei 12:16 Evelyn Ashford Zwischenlauf als Siegerin, danach slow (4. Bahn beobachten), 15:08 (Lane 6), 20:33 (545) Evelyn Ashford vor dem Start (Lane 6) 2.Silber

Gumbrecht meinte aber den Staffellauf, wo sie als letzte die Staffel übernahm und siegte. https://de.wikipedia.org/wiki/Olympische_Sommerspiele_1988/Leichtathletik_%E2%80%93_4_%C3%97_100_m_(Frauen)#Finale

Die Tatsache, dass ich am nächsten Morgen um 8.30 h auf Seite 116, im vorletzten Kapitel angekommen bin und ungern unterbreche, sagt etwas über die (subjektiv empfundene) Brisanz des Buches, das 143 Seiten umfasst.

Mein Arbeitsplatz (oben) nach dem Kaffee (unten) 28.06.23

Und dann lese ich die seltsam entlarvenden Sätze zu Lasten des Blog-Schreibens auf Seite 127 (und nach dem Umblättern):

Hat man denn je eine wahrhaft gute Debatte in elektronischer Form erlebt, eine Debatte, in der wechselseitiger argumentativer Widerstand in wechselseitige Inspiratiom umgeschlagen wäre und damit neue Ideen hervorgebracht hätte? Während es schwierig ist zu klären, warum elektronische Diskussionen bestenfalls geistige Mittelmäßigkeit produzieren, sind wir uns doch alle dieser Tatsache bewußt – fast schon zwangsläufig. Selbst auf der Website meines besten Freundes kann ich nur allein sei, und was ich dort vielleicht als Hauch von Nähe empfinde, geht nie über die Nähe eines Touristen oder eines Voyeurs hinaus. Gibt es etwas Armseligeres als die unzähligen Blogs, die mit einem unfaßbaren Narzißmus geschrieben werden – und auf ewig ungelesen bleiben, und zwar aus guten Gründen? Im Internet ist die Gefahr, sich eine Erkältung zu holen, aufgewogen von dem Verlust der Möglichkeit, je zu Tränen gerührt zu werden.

Muss es nicht heißen: „Im Internet ist die Vermeidung der Gefahr…“ ?

Und: habe ich im Internet nicht schon einige großartige Gespräche erlebt, mit guter Wirkung auch solche, die vorher in der realen Öffentlichkeit stattgefunden haben? Oder ich habe wenigstens als Voyeur versucht, Wesentliches in einem Blog-Artikel nachträglich „abgreifbar“ zu machen. Vielleicht nur für mich. Und selbst zu Tränen wurde ich schon gerührt (z.B. durch ein von Ingeborg Bachmann gesprochenes Gedicht).

Vom Lachen

Eine glücklicherweise nicht zu kurze Philosophie des Humors

Ich habe mich schon oft mit Komik beschäftigt: wie entsteht sie, wozu brauchen wir sie, warum verstehen manche Leute keinen Spaß, haben Mühe, über einen Witz zu lachen, erkennen keine Doppeldeutigkeit? Worauf beruht die erlösende oder beleidigende Wirkung der Pointe? Was ist heute anders als früher? Bei Yves Bossart wird uns manches klarer. Ich zitiere:

Wir haben gesehen, wie wichtig der jeweilige Kontext für die Beurteilung von Komik und Satire ist. Dieser Kontext wird nun aber durch die Digitalisierung zunehmend aufgelöst. Mithilfe des Internets und der Sozialen Medien kann ein blöder Spruch, eine Anspielung oder ein Witz ohne Weiteres aus dem ursprünglichen Kontext gerissen und in Sekundenschnelle über den ganzen Erdball transportiert werden. Die Pointen hängen damit im leeren Raum und laufen Gefahr, falsch oder feindselig interpretiert zu werden. Hinzu kommt eine verstärkte Polarisierung durch die vielzitierten Filterblasen, also durch die Tatsache, dass uns Soziale Netzwerke gern mit Information und Desinformation versorgen, die in unser Weltbild passen. Dadurch verlieren wir zunehmend die Toleranz für andere Weltsichten ebenso wie für Zwischentöne und neigen immer mehr zu einem empörungsgetriebenen Freund-Feind-Denken.

Hinzu kommt ein Phänomen, das man gerne als »Tocqueville-Paradox« bezeichnet. Der französische Publizist Alexis de Tocqueville machte Mittte des 19. Jahrhunderts die Feststellung: Ja geringer die gesellschaftlichen Missstände, desto höher ist die Empörung über die verbleibenden Missstände. Ähnliches beobachten wir heute. Es ist kaum zu leugnen, dass wir sensibler geworden sind gegenüber Ungleichbehandlungen in Alltag und Sprache. Begriffe und Phänomene wie »Political Correctness«, »Safe Space«, »Triggerwarnung«, »Mikroagression« und »Wokeness« sind auch hierzulande angekommen. Wir sind wacher geworden, was Diskriminierungen aller Art betrifft, nicht nur handfeste Ungleichbehandlungen wie etwa die Lohnungleichheit zwischen Mann unf Frau, sondern auch subtilere Formen der Abwertung. Man denke etwa an die Phänomene »Mansplaining« oder »Manspreading« – also daran, dass Männer gerne mehr Platz einnehmen als Frauen, sowohl beim Reden als auch beim Sitzen. Oder an die vielen Debatten über gendergerechte Sprache. Die entscheidende Frage lautet meines Erachtens: Wann kippt der wichtige und verdienstvolle Kampf gegen Diskriminierung in ein Gerangel um bloße Empfindlichkeiten?

Mit Blick auf die Komik stellt sich also die Frage: Wer bestimmt eigentlich, was noch geht und was bereits zu weit geht? Ist ein Witz bereits dann moralisch schlecht, wenn es einzelne Personen gibt, die sich davon verletzt, beleidigt oder herabgewürdigt sehen?

Quelle: Yves Bossart a.a.O. Seite 83 f – s.a. hier

Es geht nicht immer lustig zu, in diesem  Buch über das Trotzdemlachen, zum Glück. Es ist ja nebenbei eine kleine Philosophie des Humors, und jede Zeile ist ein Lesevergnügen.

Für mich ein Anlass, den bisherigen Stand der Komik im Blog zu sichten, bierernst, fürchte ich:

Lachen mit Schopenhauer?

Kein Witz für Kinder (warum?)

Wie war denn Ciceros Witz?

Witze verstehen

Künstliche Intelligenz – entspannen Sie sich

Sonderbeitrag Satire

Humor und Virus

Humor und Tragik

Der Effekt des Zeitunglesens

Nicht lachen wollen

Scherzverwandtschaft

Lachen – worüber?

Osterlachen – mit Vorsatz

Comedians

Zu guter Letzt wenden wir uns noch einmal an den Schweizer Autor Yves Bossart, mit dessen Buch der heutige Blog-Artikel begann. Er hat einmal in einer der „SFR Kultur Sternstunden“ in aller Kürze erläutert, was es mit dem Humor auf sich hat:

Koinzidenz ZEIT 7.6.2023 Seite 46 Ein Gespräch mit der Philosophin Rosi Braidotti: »Ich halte das westliche Denken für überholt« Zitat:

Künstliche Intelligenz – entspannen Sie sich

Neuer Artikel von Ulrich Schnabel

Während ich alles bereit lege, um zu zitieren, sehe ich, dass ich es mit demselben Autor schon einmal so gehalten habe, noch nicht so lange her. (Siehe Link zum Wort Neuer in Untertitel). Seine Zuverlässigkeit ist mir lange bekannt, das Buch ist mir seit 11. Dezember 2008 ein vertrautes Nachschlagewerk. Nachschauwerk.

Wieder wird das Lachen zum Thema anlässlich der KI, sie kann es nicht, und ist da meiner Katze ähnlich (das ist lange her)…

oder lächelt sie doch?

ZITAT

Hört man sich dazu in den Geisteswissenschaften um, trifft man auf zwei Positionen: routinierten Widerspruch einerseits – und neugieriges Staunen andererseits.

Die erste Position vertritt etwa der Bonner Philosoph Markus Gabriel. Er sagt, die KI sei »künstlich, aber nicht intelligent«. Was aussehe wie echtes Denken, sei in Wahrheit nur eine geschickte Simulation, die uns einen Denkprozess vorgaukelt. »Wir projizieren unsere Intelligenz in die Systeme«, sagt Gabriel, es gebe nur »eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen unserer Intelligenz undf diesen Projektionen in der Form von Modellen«. Am Ende sei es immer noch der Mensch, der über ihren Einsatz und ihre Ziele bestimme.

(…)

Ähnlich pragmatisch argumentiert der Philosoph Ralf Becker, wenn man ihn nach dem Begriff des Verstehens befragt. »Verstehen«, sagt Becker, sei ein Können, das sich in Handlungen ausdrückt. »Ob ich ein philosophisches Argument verstanden habe, zeigt sich daran, ob ich es rekonstruieren und auf Nachfragen antworten kann. Ob ich einen Witz verstanden habe, zeigt sich daran, ob ich seine Pointe erklären kann.«

Doch was, wenn ChatGPT eine Pointe richtig erklärt? »Versteht« die KI dann den Witz? Nein, meint Becker. Einzelne Erfolge genügen nicht als Probe aufs Exempel. Oft mache das Programm ja noch grobe Fehler. Das gelte für Witze wie für Mathe-Aufgaben. Und wenn man es um Romananalysen bitte, halluziniere das Programm zum Teil Figuren, die im Text gar nicht vorkommen. Am deutschen Abi, das haben Tests vor einigen Wochen gezeigt, scheiterte CHatGPT deswegen noch.

Doch selbst wenn die KI irgendwann das Abitur bestände, wäre Becker nicht überzeugt. Hinzu käme nämlich noch ein anderer Aspekt: Verstehen sei kein isolierter kognitiver Akt, sondern »stets verkörpert, in eine Situation und in eine Praxis eingebettet – etwa in Form von Nach- und Rückfragen, Wiederholunge, Übungen«.  Letztlich sei das Verstehen als »Lebensform« zu begreifen. Dafür brauche es einen Körper, der eine eigene Geschichte habe, der eigene Ziele und Absichten verfolge, der uns mit der Welt verbindet. (…)

Quelle ZEIT 17. Mai 2023 Seite 31 Unsere neue Denkaufgabe Die künstliche Intelligenz wird immer klüger, schneller und kundiger. Der Mensch aber fragt sich: Versteht sie überhaupt, was sie da rechnet? Und was heißt das eigentlich – die Welt verstehen? Von Ulrich Schnabel

Was fehlt mir noch? Ein Witz vielleicht?

Auf dem Spielplatz im Botanischen Garten bei hellem Sonnenschein: die Kinder spielen selbstvergessen im Sand, bis sich ziemlich schnell eine Wolke vor die Sonne schiebt und für Verdunklung der Szene sorgt. Ein Knabe schreckt hoch und schreit empört: „Licht an!“

*    *    *

NEU UND LESENSWERT: Ein Artikel in der FAZ (1.6.23) von Dietmar Dath: hier

ZITAT Anfang des Artikels

Wenn ich vor etwas Angst habe, das ich nicht sehen, hören, schmecken, riechen oder berühren kann, zum Beispiel vor Strahlung, Viren oder einer Pleite wegen digitaler Transformation, dann muss ich, weil mir Sinnesdaten fehlen, eben abstrahieren und nachdenken. Der Anlass der Angst gerät so vor das berühmte „geistige Auge“. Genau genommen gibt’s pro Verstand sogar zwei dieser geistigen Augen. Denn wie der Gesichtssinn, so schaut auch die Vernunft nicht nur in die Höhe („steile These“) und in die Breite („Ausführlichkeit“), sondern obendrein in die Tiefe („Korrelation“, „Kausalität“). Das linke geistige Auge schließt aus Bekanntem auf Unbekanntes per Wahrscheinlichkeitserwägung.

Dank an Berthold Seliger!

Wie war es eigentlich 1933?

https://www.rbb-online.de/doku/b/berlin-1933.html

HIER → dort in das folgende Bild klicken:

Aus einer anderen Sendereihe:

https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/komplizen-des-boesen-1933-1938-faszination-und-gewalt-102.html HIER alle Folgen HIER

*    *    *    *

Private Motivation: siehe http://s128739886.online.de/jahreszeiten-lebenszeiten/

oder hier „Vom Wesen der Stadt“

Grabstein als Last

Als mein Vater am 31. August 1959 gestorben war, ging es zunächst gar nicht um den Grabstein. Niemand hatte es damit eilig. Fest stand aber schon, dass darauf Platz sein sollte für den Namen und die Daten unserer Mutter. Niemand ahnte – am wenigstens sie selbst – dass sie noch fast ein halbes Jahrhundert vor sich hatte.

Schon zu Weihnachten präsentierte ihr ein seit alters befreundeter Künstler als Geschenk einen Grabsteinentwurf, der in der engeren Familie auf einhellige Ablehnung stieß. Erstens: dieses harfenähnliche Instrument, vielleicht in Erinnerung an ein weihnachtliches Schulkonzert meines Vaters, das er selbst zu unser aller Befremden betitelt hatte: „Zwingt die Saiten in Kythera“, – oder Cythara? niemand kannte den Choral oder die Bach-Kantate BWV 36, in der er vorkommt. Was soll das Wort „zwingt“? Und das andere: hieß es vielleicht korrekt Kythara? Natürlich, siehe hier. Eine altgriechische Zither oder Leier? Aber mein Vater sah sich doch lebenslang am Flügel, nicht einmal eine Gitarre rührte er an, die unter Schülern plötzlich hoch im Kurs stand. Für sie hatte er sogar Gershwin geübt. Aber – was ist das: feixte dieser Grabstein nicht ungehörig?

Der Entwurf hatte keine Chance. So peinlich er uns war, wie sollte man es begründen? Der eigentliche Grund lag tiefer, aber niemand kam drauf. Nicht das Altgriechisch-Zopfig-Musische störte, sondern das Soldatische, das meinem Vater immer unsympathisch gewesen war. Ein Heldengrab? Es ist dem alten vaterländischen Orden nachempfunden. Eine Art Eisernes Kreuz für musikalische Verdienste posthum? Am Ende der fünfziger Jahre?

Und heute, nach weiteren 60 Jahren fällt es mir auf, was genau uns damals widerstrebte:

Quelle Wiki hier

In meiner Sammlung familiärer Erinnerungsstücke befindet sich auch das folgende Verdienstkreuz (für Onkel Ernst, den Bruder unsrer Mutter, der seit 1943 dann im Osten „vermisst“ war).

Was für ein Formenspiel, was hat das alles zu bedeuten? Ich lese hier. Im folgenden Zitat geht es um die Ordensstiftung im Jahr 1813 (alles weitere siehe im Link):

Auch die Form des neuen Ehrenzeichens war symbolisch aufgeladen. Bewusst wurde die Anlehnung an das Balkenkreuz des Deutschen Ordens gesucht: ein schwarzes Tatzenkreuz mit sich verbreiternden Balkenenden auf einem weißen Mantel, wie ihn die Deutschritter schon seit dem 14. Jahrhundert tragen. Damit sollte der nun beginnende Krieg in die Tradition der Kreuzzüge gerückt und so sakralisiert werden. Im Mittelpunkt der Symbolwelt um das Eiserne Kreuz stand die Ehefrau Friedrich Wilhelms III., Königin Luise. Seit ihrem Tod 1810 hatte sich um sie ein Mythos als vorbildliche Gattin, liebende Mutter, preußische Madonna und Märtyrerin gesponnen, an den der König mit dem Eisernen Kreuz anknüpfte.

All dies hat mit meinem Vater nichts zu tun. Die 50er Jahre waren auch für uns mit seinem Lebensende vorbei… Sein Grabstein sollte abgerundet sein. Ich fuhr im April 1960 nach Berlin, um dort zu studieren, wo auch er studiert hatte. Wichtiger war allerdings: Ich wollte so weit wie nur möglich fort von zu Hause.

Slavoj Žižek

Ein unorthodoxer Denker zur Lage unserer Welt

Es ist mir entfallen, warum ich dieses Buch damals nicht verschlungen habe, ich glaube, ich hatte es wegen „Così fan tutte“ gekauft, nie gehörte oder gelesene Gedanken, die ich gerade brauchte, weil ich immer wieder von der Mozart-Oper besessen war. Auch heute fesselt es mich sofort, – aber 80% des Buches, das ich seit 1. März 2007 besitze, sehen absolut ungelesen aus. Während spezielle Themen offenbar um so nachhaltiger wirkten (siehe hier). Heute z.B. erinnerte ich mich, weil ein Freund sich gerade für Sibelius zu interessieren beginnt, und schon droht uns Adornos uraltes Verdikt den Weg zu versperren, – da könnte vielleicht doch gerade der musikliebende linke Philosoph aus Slowenien zu einem probaten Gegengift verhelfen…

Doch es gibt noch mehr Gründe, sein Werk hervorzukramen und zu Rate zu ziehen. Er ist kein Denker von der ganz peniblen Art, er ist impulsiv, man glaubt ihm beim Vorgang des Denkens zuzusehen, und schon ist man persönlich eingebunden: wie sagt man doch? man ist involviert… und ich studiere – zumal als Musiker – aufs neue intensiv seine Themenliste von damals.

Nun traf alldies zusammen mit einem Werbeheft der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, und das Verhängnis nahm seinen Lauf: ich begann mir allerhand zu notieren, weils womöglich der Wahrheitsfindung dient. Ganz sicher war ich mir nicht, aber als erst ein Anfang gemacht war, musste ich immer weiterschreiben. Mich interessiert, wie eine linke Position heute argumentiert (nach Putins Wahnsinn).

Folgender Text ist – als eilige Abschrift – noch nicht gründlich Korrektur gelesen.

(Moderation: Die Philosophin Dr. Rebekka Reinhard, stellvertretende Chefredakteurin »Hohe Luft«)

Slavoj Žižek :

(auf deutsch beginnend) Es ist eine grroße Ähre für mich, hier zu sein. Leider muss ich jetzt ins Englische wechseln (wir folgen dem Übersetzer), – ich glaube, die Frage ist die alte Leninsche Frage: „Was tun?“ Eigentlich wissen wir, was zu tun ist, die Medien sagen es uns, – Globalisierung, Kooperation usw. – das Problem ist unsere Apathie. Wir wissen, was zu tun ist, aber wir tun es nicht. Ich bin froh, darüber mit Ihnen zu sprechen, denn Deutschland ist immer noch das Land des Denkens. Ich denke , und das ist meine erste Provokation für heute: Wir haben es vielleicht mit der elften umgekehrten These von Karl Marx zu tun: die Philosophen haben die Welt nur interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Vielleicht haben wir im 20. Jahrhundert versucht, die Welt zu schnell, zu stark zu verändern, ohne sie wirklich zu verstehen. Heute müssen wir vielleicht einen Schritt zurücktreten und nachdenken. Wir brauchen eine neue Interpretation, und das sage ich als radikaler Linker.

(Mod. Sie haben von Apathie gesprochen, seit Beginn der Pandemie, erst recht seit Beginn des Krieges in der Ukraine, frage ich mich mehr und mehr, wie real die Realität noch ist, bis hin zu dem Punkt, dass ich mich frage: bin ich eigentlich wach, wenn ich mich frage, ob ich wach bin, oder wenn ich mich frage, ob ich träume. Was ist realer: die Träume, die ich nachts habe, oder die Realität, in der ich jeden Tag neu und wieder anders erwache? Wie geht es Ihnen?)

Das ist eine sehr interessante Frage. Ich gehe nicht im Detail auf Freuds Interpretation ein, aber vielleicht ist es der ultimative Freudsche Traum, wenn ein Sohn zu seinem Vater kommt und sagt: Vater, siehst du nicht, dass ich verbrenne, und dann wacht der Vater auf. Wissen Sie: oft sind unsere Träume – und hier rede ich nicht von leeren Träumen, sondern von Träumen über das, was uns erwartet, so schrecklich, dass wir sogar bereit sind, in der Realität zu erwachen, um schlafen zu können. Denn die Realität scheint auf den ersten Blick noch normal: Okay, Krieg in der Ukraine usw., aber schau mal, die Blumen, da gehen Menschen, so schlimm ist es doch nicht, also ja, wir können auch in die Realität flüchten. Heute scheint mir, der ich mich als atheistischer Christ definiere, ein Bezug auf das Thema der Apokalypse sehr passend. Wissen Sie: die Offenbarung des Johannes am Ende des Neuen Testaments, die vier Reiter der Apokalypse, sind wir da nicht schon? Es gibt die Interpretation, dass der erste Reiter die Pest ist, den haben wir: die Pandemie. Der zweite Reiter ist der Krieg, den bekommen wir jetzt. Dann der Hunger, der wird kommen, wir kennen die Konsequenzen des Krieges und in der Ukraine, nicht nur globaler Krieg, es wird deswegen in der Ukraine und in Russland nicht genug Weizen, Dünger usw. geben.

Und, was mich besonders schockiert hat, als Philosoph versuche ich darüber nachzudenken, dieser Schock hat nicht, wie man erwarten könnte, gute Folgen, in dem Sinne, o.k. es ist ein Trauma, aber es weckt uns auf, es ermöglicht uns, Probleme zu vergessen. Erstens die Zeitlichkeit dieser Krise, erinnern Sie sich noch an den Beginn der Pandemie? Die üblichen Zeiteinheiten der Behördem und der Wissenschaft waren damals zwei Wochen. Hab noch 2 Wochen Geduld, dann wird das besser. Dann waren es zwei Monate, dann hieß es vor einem Jahr: nächstes Jahr, und jetzt weiß keiner mehr Bescheid. 6:10

Und noch etwas: ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist, aber in meinem Land erinnern sich viele meiner Freunde fast nostalgisch an die Pandemie. Die Regeln waren klar, man hat ein bisschen gelitten, aber man hatte genug Zeit, alles war irgendwie unter Kontrolle. Und jetzt ist alles viel schlimmer. Und dabei sind wir wohl bei weitem noch nicht am Tiefpunkt angelangt.

Ein dritter Punkt ist extrem wichtig: was sind die negativen Folgen dieser Krise? Ich weiß wieder nicht, wie es in Deutschland ist, aber hier in Slowenien – und ich habe überall das gleiche gehört – feiern die Neokonservativen diesen Krieg. Und warum? Weil sie ihn so interpretieren: in den letzten Jahren haben wir in einer Ära der künstlichen Probleme gelebt. Feminismus zum Beispiel. Mal ernsthaft: die Lage ist doch gar nicht so schlimm für die Frauen. Oder Rassismus, das ist eine Randerscheinung. Politische Korrektheit: das ist doch lächerlich. JETZT sind wir wieder bei den harten Tatsachen angekommen. Auch die Geswchlechterrollen sind klar festgelegt. Das ist ein Lieblingsthema der heutigen Konservativen. Ukrainische Frauen fliehen ins Ausland und kümmern sich um die Kinder, das ist ihre eigentliche Arbeit, während die Männer in der Ukraine bleiben, um zu kämpfen. Sehen Sie, das ist die eigentliche Tragödie dieses Krieges,- er mag eine globale Katastrophe sein, aber dieser Krieg ist kein Moment der Wahrheit. It’s not a moment of truth! Er ist ein Moment, der uns brutal von den wirklichen Problemen ablenkt. Nicht, dass er selbst kein echtes Problem wäre, abewr erlenkt uns von großen Problemen ab, wahren Katastrophen, die uns erwarten.

Also ja, ich bin ein Pessimist.

(Damit sind wir schon genau bei dem Titel Ihres neuen Buches: Unordnung im Himmel. Es ist ein Buch buchstäblich über alles. Sie schreiben kleine, scharfe kurze Beobachtungen über die aktuelle Weltlage, es ist eine Kaleidoskop Sie beleuchten Was meinen Sie damit?)

Etwas sehr Einfaches! 10:00 Für Mao ist der Himmel noch in Ordnung, er will einen allgemeinen Überblick geben, wohin die Geschichte geht. Und Unordnung unter dem Himmel bedeutet hier nicht einfach Chaos. Wir Kommunisten, die wir wissen, wohin sich die Geschichte bewegt, können das Chaos ausnutzen, um unsere Ziele zu verfolgen. Heute glaube ich nicht, dass wir Linken immer noch den Anspruch haben können, einen globalen Blick zu haben. Die Karten sind so seltsam gemischt, dass Gescgehnisse, die einst typisch für die Linke waren, nun von der Rechten vereinnahmt werden. Nur ein Satz, ein bekanntes Beispiel, wir erinnern uns leider alle an den 6. Januar 2021, als die von Trump aufgehetzte Meute das Capitol stürmte, und wissen Sie was? Viele meiner linksgerichteten Freunde waren fasziniert und weinten, sie sagten: Wir hätten das machen sollen, die Linken wo waren wir? Selbst dieser ultimative, radikal linke Traum vom Volksaufstand wird nun von der radikalen Rechten vereinnahmt.

Der nächste Punkt ist diese Orientierungslosigkeit. Ich nutze gern diesen Begriff des kognitiven Mapping meines guten Freundes Fredric Jameson

es geht darum, einen allgemeinen Überblick über die Situation zu bekommen. Wie sind vollkommen desorientiert! Eine grundsätzliche Frage. Was ist China heute? Ist es noch kommunistisch? Oder eine neue Art von postautoritärer, neokkapitalistischer Gesellschaft? Undsoweiter. Oder wie ist es mit unseren eigenen Gesellschaften? Ich bin nicht ganz einverstanden mit manchen meiner Freunde, Yanis Varoufakis zum Beispiel behauptet, dass der Kapitalismus bereits in etwas anderes übergeht. Manche nennen das Technofeudalismus. Ich habe daran meine Zweifel. Aber Figuren wie Bill Gates, Elon Musk oder Jeff Bezos sind tatsächlich keine Kapitalisten alten Stils, die die Arbeiter ausbeuten. Sie sind eher Feudalherren über ein bestimmtes Gebiet, die Pacht kassieren.Ich weiß nicht, wem Zoom (?) gehört, aber wir sind wahrscheinlich irgendwie über Microsoft verbunden, also bekommt er Gebühren dafür. Es passiert soviel Neues, und wir haben nicht einmal eine grobe Orientierung. Wenn ich also kurz auf das von Ihnen eingangs Gesagte eingehen darf: Ich stimme Ihnen zu, dass man den Hintergrund, die Komplexität der Situation sehen muss, aber meinen Sie nicht auch, dass diese Komplexität oft nur eine Ausrede ist, um das Offensichtliche zu verleugnen? Z.B. haben einige meiner Freunde, nicht nur die rechtsgerichteten, sondern auch linksradikale, immer noch diese uneindeutige Haltung Putin gegenüber. Sie sagen okay okay, aber trotzdem ist er ein Stachel im Fleisch des amerikanischen Imperialismus, und der ist immer noch unser Hauptfeind. Also spricht auch manches für Putin. Deshalb sagen sie gerne, die Situation ist komplexer. Meine Antwort: ja natürlich. Aber das sollte uns nicht blind machen für die offensichtliche Tatsache, dass ein großer Staat einen anderen Staat brutal angegriffen hat. Diese grundlegende Tatsache darf man nicht weginterpretieren. 14:52

(Die Unordnung ist total, der Wunsch nach einer neuen Ordnung ist natürlich auch sehr dringlich ….Und die Medien )

16:08 Um Missverständnissen vorzubeugen, ich stehe trotz aller Komplexität ganz auf der Seite der Ukraine. In dem Sinne, dass ich voll und ganz für die ukrainische Verteidigung bin.Im übrigen gibt es soviel Absurdes in der russischen Argumentation. Ich bin nicht so drauf, dass ich sage: hören Sie sich die andere Seite an, Entschuldigung, aber zufällig verstehe ich russisch. Ich höre die ganze Zeit zu, ich folge ihren Podcasts usw. also bin ich durchaus informiert. Ist Ihnen das auch aufgefallen: laut russischer Propaganda ist die Ukraine ein Land von Neonazis. Es gibt da einen Typen, der ist der Horror in Person. Nicht Dugin, Putins offizieller Philosoph, sondern – merken Sie sich diesen Namen Timofei Sergeitsev, der schrieb in einem offiziellen Kommentar, der in einigen russischen Bulletins veröffentlicht wurde: dass der ukrainische Nazismus ungleich gefährlicher sei als der von Hitler. Das ist die wichtigste Botschaft: dass Russland uns alle rettet.Was ich sagen will – und das als Linker – denken Sie daran, welchen Namen Putin nannte, als er seine Abnsicht erklärte, in die Ukraine einzumarschieren, einen einzigen Namen hat er negativ erwähnt und angegriffen: LENIN. Und in gewisser Weise hatte er recht: vor der Oktoberrevolution war die Ukraine unterdrückt, die einzige wirklich goldene Ära für die Ukraine waren die zwanziger Jahre, als die Ukraine als Nation voll entwickelt war. 18:07 Gleichzeitig redete er aber über die Nazis. Also hat die Ukraine für Putin zwei Väter: Lenin und Hitler. Das macht es für mich ein bisschen verdächtig. Ja, all das stimmt. Ich bin aber trotzdem beunruhigt. Ich bin nicht für einen totalen Weltkrieg, der enorme Risiken birgt, trotzdem stört mich vieles an der westlichen Reaktion. Ich traue den großen Worten nicht, Sie wissen schon: Putin, Den Haag, Strafgerichtshof, aber viele Menschen wissen beispielsweise nicht, dass trotz des Krieges in der Ukraine immer noch russisches Gas durch die Ukraine in den Westen fließt. Gegen reguläre Bezahlung natürlich. Das wirkliche Grauen für mich ist das hier: in diesem Moment, wo wir hier – wie Sie sagen – die Russen so leicht als Barbaren, als unzivilisiert abtun, sollte sich der Westen an zwei oder drei Dinge erinnern: erstens, sagt Putins offizieller Philosoph Dugin, der Westen müsse akzeptieren, dass es nicht nur ein Wahrheit gibt, die europäische, somdern auch eine russische Wahrheit. Wir dürfen nicht dieselbe Sprache sprechen. Das stört mich. Auch wenn ich Selenski voll und ganz unterstütze, wenn er sagt, wir verteidigen hier Europa, aber wenn ich Selenski wäre, würde ich noch einen Schritt weiter gehen und sagen: in Wahrheit verteidigen wir hier auch alle Russen. Die Ukraine verteidigt das russische Volk vor der Katastrophe, in die Putin es treibt. Vergessen Sie nie den Terror, unter dem das russische Volk leidet, sie sind unsere Verbündeten!

Zweiter Punkt: diese Idee, es nicht Krieg zu nennen, sondern spezielle Intervention … manchmal verwenden die Russen sogar den Begriff „humanitäre Intervention“ um den Frieden zu erhalten. Kommt Ihnen das nicht bekannt vor? 20:48 Hat der Westen das nicht auch jahrelang getan? Immer wieder sehr brutal interveniert, mit genau der gleichen Argumentation?

Letzter Punkt. Hier liegt die westliche Heuchelei klar auf der Hand. Putin, Kriegsverbrecher, Bombardierung von Kiew, Katastrophe. Sorry. Aber Putin – erinnern Sie sich? – hat vor ein paar Jahren Aleppo bombardieren lassen, die größte Stadt Syriens, viel brutaler als sie es jetzt in der Ukraine tun, – bis jetzt, wer weiß was noch kommt. Abgesehen von Mariupol. Aber: wo ist hier die Ausgewogenheit, wir haben damals protestiert, aber nicht so richtig ernsthaft. Jetzt ist es auf einmal ernst, und das hinterlässt einen schrecklichen Eindruck. Die Menschen in Lateinamerika, Asien, Afrika, der Dritten Welt bemerken diese europäische Heuchelei, und wir sollten auch hier den Mut aufbringen, dies nicht zu akzeptieren, dass dies ein Konflikt der Zivilisationen ist. Nochmals: wir sprechen sonst die russische Sprache, – Dugin, Sergeitsev, und all die anderen sagen dasselbe, nur genau andersherum. Sie sagen: Russland ist dieselbe Insel der Zivilisation, Europa und der amerikanische Liberalismus fallen in die totale Barbarei zurück. Ich denke, die Lehre daraus ist, dass wir unbedingt universalistisch bleiben sollen, hier würde ich sogar Jürgen Habermas und seinem Universalismus zustimmen. Deshalb bin ich für Europa, denn, was auch immer man gegen Europa sagen kann, Sklaverei, das Schreckliche, was wir in der Moderne getan haben, – diejenigen, die das Vermächtnis Europas angreifen, die Sklaverei, die Unterdrückung der Frauen, usw., tun dies aber immer in Begriffen, die aus dem Erbe der europäischen Aufklärung stammen. Die Größe Europas besteht nicht darin, dass es keine Fehler macht, sondern darin, dass es immer noch die beste Quelle für begriffliche Instrumente ist, die uns helfen, uns selbst zu kritisieren.

(Ja, Sie plädieren immer wieder dafür, die Blickrichtung zu wechseln…) 24:35

Jetzt werde ich Sie wieder überraschen – erstens: lassen Sie uns nicht in Selbstzufriedenheit verfallen. Meine Formel, die ich vor Jahren auf der Grundlage meiner eigenen Erfahrungen in Ex-Jugoslawien oder in Ruanda vertreten habe, gilt meines Erachtens überall: Sie lautet: es gibt keine ethnische Säuberung ohne Poesie. Um ethnische Säuberungen zu verstehen, sollte man einen Blick auf die Dichter, die Intellektuellen und Philosophen werfen, die den Boden dafür bereitet haben. Bei uns hier ist es der berüchtigte Karadziz, aber das ist in allen Ländern so ähnlich. Z.B. war ich schockiert, dass in Irland William Butler Yeats, den Sie vielleicht auch kennen, 1936 die sogenannten Nürnberger Rassengesetze, die die Rechte der Juden einschränkte, voll unterstützt hat.

Wieviele große Dichter waren Rassisten, Faschisten, sie haben oft genug den Weg dafür bereitet, und deshalb sollte man Künstlern nicht zu leichtfertig vertrauen. Manche leisten Großartiges, wie Paul Celan, Samuel Beckett, aber man muss immer auf der Hut sein.

Ich sage nicht, dass wir jede Liebe zu unserem Heimatland verurteilen sollen, aber was wir von wirklich großen Schriftstellern und Dichtern lernen können, will ich anhand eines Beispiels aus Russland zeigen. Der größte russische Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts Andrej Platonow, der sich mit dem Schicksal dieses geringen, heimatlosen, primitiven Volkes beschäftigt hat, das es nicht geschafft hat sich einzugliedern. Und da berkommt man ein ganz anderes Bild von Heimat. Nicht diese große, nationalstaatliche Heimat, sondern eine wunderbare kleinteilige Heimat. Ich erinnere mich an einen Baum hinter meinem Haus, ich erinnere mich, wie im Wald der Wind wehte, usw. usf. Die Linke sollte sich das alles wieder zueigen machen. Überlasst dem Feind nicht das Gebiet, dass er besetzen will. Ich gehe noch weiter:

Warum sollte die Rechte das Recht haben, über Familienwerte zu sprechen, wo der neoliberale Kapitalismus alles getan hat, um die übermäßig ausgebeuteten Frauen und Familienwerte und kleine Gemeinschaften und die Solidarität effektiv zu zerstören.

Also noch einmal: machen Sie keine Kompromisse, indem Sie das Thema dem Feind überlassen. Wenn ich also sage: „ich liebe mein Land“, bin ich nicht gleich ein Nazi. 28:00

(Unordnung überall Mao – warum Kommunismus nicht ausgeträumt)

Ich habe hier ein klare, sehr kurze Antwort. Es geht wieder um Scheinheiligkeit. Erinnern Sie sich noch an das große Treffen in Glasgow vor ein paar Monaten? Mit Prince Charles, vielen Promis, Premierministern usw. sie forderten das Richtige, globale Zusammenarbeit, allgemeine Gesundheitsversorgung, und zwar international. Die ökologische Krise ist nicht lokal beschränkt. Erinnern Sie sich, dass im letzten Sommer im Südwesten Kanadas und dem Nordwesten der Vereinigten Staaten 50 Grad herrschten. Das ist die Folge einer Störung der Luftzirkulation in allen nördlichen Teilen der Erde, hier ist also unbedingt Zusammenarbeit erforderlich. Die globale Erwärmung birgt auch die Gefahr von Hungersnöten, viele Länder sind betroffen, auf dem Treffen wurde vor allem viel geredet, und ich würde sogar sagen: insgeheim machen sich alle bewusst, dass es keine ernsthaften Konsequenzen geben würde. Was mein kommunistisches Programm angeht, ich bewundere intelligente, ehrliche Konservative, die sich der praktischen Grenzen der Machbarkeit bewusst sind. Was man zusammen mit ihnen alles erreichen kann. Versuchen wir eine Ordnung zu schaffen, deren Programm darin besteht, das zu tun, worüber die großen Medien immer sprechen. Die großen Medien sprechen über die aktuellen Gefahren auf diese zwangsneurotische Weise, man redet viel und muss nichts tun. Mein kommunistisches Programm ist also das zu tun, was wir die ganze Zeit in den Medien lesen. Pandemien können nur durch globale Zusammenarbeit zumindest in Schach gehalten werden. Wir brauchen eine Art globaler, wenn nicht Gesundheitsvorsorge, so doch zumindest Selbstkontrolle, so dass wir wissen, wie das alles zusammengeht.

Was die Ökologie betrifft, sind wir sogar – würde ich sagen – zu besessen von der globalen Erwärmung. Wir schauen zuviel nach oben, schauen wir auch nach unten: was zum Teufel geht in den Tiefen unserer Ozeane vor, das ist dann beunruhigend, und wenn das ein Regime bedeutet, das ein bisschen autoritärer ist, natürlich nicht im faschictischen Sinn, nicht in dem Sinn, dass wir eine Weltregierung bekommen sollten, das würde totale Korruption bedeuten, aber eine Art von internationalem Gremium, das souveränen Ländern verbindlich Entscheidungen auferlegen kann. Wenn wir diesen Schritt nicht machen, habe ich große Angst um unsere Zukunft. Und ich meine das sehr ernst. Ich spreche nicht von unseren Enkeln, ich spreche davon, wie es in 20 bis 30 Jahren ausgeht, wenn die gegenwärtigen Tendenzen weitergehen.

(Wenn Sie, die uns hier zuschauen, Slavoj Zizeks neues Buch : Slavoj, hätten Sie denn noch eine Buchempfehlung? )

Ich tue etwas Paradoxes und lege Ihnen ein Buch ans Herz, dessen Grundthese ich nicht teile, das aber eine wunderbare alternative Sicht auf die Geschichte vermittelt, es handelt sich um David Graebers und David Wengrows Buch „The Dawn of Everything“, in der deutschen Übersetzung „Anfänge“. Es ist eine Art alternative Geschichte, die mit dem Mythos aufräumt, die übrigens auch der marxistische Mythos ist, dass die Ausbeutung der Frauen und das Patriarchat automatisch mit der Entstehung von Staaten begonnen hätten. Den großen Übergang zu Siedlungen und ortsgebundener Landwirtschaft, und sie beweisen das ziemlich überzeugend. Ein Beispiel ist das Inkareich, ein Aspekt dieses Reiches waren Kinderopfer, Autorität, ein anderer Aspekt war eine außergewöhnliche Form gleichberechtigter Zusammenarbeit. Ich glaube nicht, dass wir heute etwas direkt Vergleichbares tun können, aber deshalb mag ich alternatives Science Fiction, das ist die Lektion, die ich von Hegel gelernt habe. Deshalb hat Hegel verboten, Pläne für die Zukunft zu machen. Es ist gut, sich vor Augen zu halten, dass, wenn etwas passiert, es immer andere Möglichkeiten gibt, und dass die Dinge auch eine andere Wendung hätten nehmen können. Die Notwendigkeit ist immer eine rückwirkende Notwendigkeit. Wir können nur einen einigermaßen logischen Überblick darüber geben, wie es den Menschen bisher ergangen ist. Die Zukunft ist offen. Und dieses Buch gibt Ihnen das Gefühl dafür.

Verlag Klett-Cotta (s.a. hier)

(Ich stelle nochmal eine Frage…Sachbuchempfehlung WBG?)

Ich habe eine traurige Empfehlung, ich mag diese absolut pessimistischen Bücher, die eine Alternative aufzeigen, und dann darstellen, wie wir bei einem Versuch, eine Katastrophe zu vermeiden, die Welt noch verschlimmern würden. Z.B. gibt es ein Buch von Steven Fry, dem britischen Schauspieler, „Geschichte machen“ – „Making History“ , kein großartiges Buch, aber die Idee gefällt mir. Ein jüdischer Wissenschaftler erfindet nach dem Zweiten Welktkrieg eine Möglichkeit, wie man die Vergangenheit ein wenig modifizieren, also nicht komplett verändern kann. Da Hitler die Katastrophe war, führte er rückwirkend Chemikalien in den Bach des Dorfes ein, in dem Hitler geboren wurde. So dass in den Jahren, in denen Hitler hätte geboren werden sollen, alle Frauen dort unfruchtbar waren. Dadurch wird Hitler also nicht geboren. Was passiert? Die Nazis tauchen trotzdem auf, aber ein anderer, viel intelligenterer Kerl, der sich in Atomphysik auskennt, übernimmt die Führung. Deutschland entwickelt als erstes Land Atomwaffen, und Deutschland siegt. Und so widmet er, der heutige Wissenschaftler, sein ganzes Leben der Aufgabe, Hitler nachträglich zurückzubringen. Dieser radikale Pessimismus gibt meine Sicht auf das Leben wieder. (lacht)

(Wonderful! Vielen Dank )

(Satz in deutsch) Und es war mir eine grroße Ähre für mich und eh… eine Sache tut mir aber leid, es wirkt so etwas männlich-chauvinistisch, warum sollten Sie nur ein Medium sein, es hätte mich gefreut, wenn Sie sich etwas mehr beteiligt hätten. Sonst wird man mir männlichen Chauvinismus und sexuelle Objektivierung vorwerfen. Aber Sie sind der lebende Beweis dafür, dass intelligente Frauen nicht hässlich sein müssen. (Lachen auf beiden Seiten)

Und so wäre es schön, vielleicht ein anderes Mal darüber zu sprechen, damit ich auch Ihre Sicht der Dinge kennenlerne.

(Mod. Abschließend: Wenn Sie Fragen dazu haben, Anregungen, Kritik – was sagen Sie dazu?) 38:22

Nachwort JR: die letzten Sätze gehen leider ziemlich nach hinten los, – im Gespräch mit einer weiblichen Person anerkennende Worte über ihr Aussehen zu verlieren, zumal das Phänomen des männlichen Chauvinismus etc. ja gerade kritisch benannt wurde. Das geht gar nicht. – Ich schließe aber eine ironische Absicht nicht aus…

Die Andeutung der Geschichte von Steven Fry bleibt am Ende völlig unverständlich, daher der Link zum Nachlesen, – obwohl die echte Version auch nicht soviel erhellender ist.

Die Sequenz über den Traum (oben im Moderationstext) bezieht sich wohl auf Tschuangtse (Schmetterling); ich empfehle eine Orientierung hier.

Zur Ablenkung notiere ich, was ich gerade im Fernsehen bemerkenswert fand (und was mich an die obigen Bemerkungen über Heimat erinnerte): unser Europa. Schauen Sie in terra X HIER  Meilensteine der Kontinental-Geschichte Europas ab etwa hier bei 28:35 (!).

ZITAT Gunther Hirschfelder, Anthropologe der Universität Regensburg:

Wir haben lange geglaubt, diese Regionen werden mal in den Nationen aufgehen. Heute wissen wir aber, dass Nationen durch Regionen konstituiert werden, und dass der Mensch, der in einer Region lebt, eine regionale Identität braucht, aber nicht unbedingt eine nationale.

siehe Link

Zurück zu Slavoj Žižek, aber in konsistenterer Darstellung,

aus der SFR-Reihe Kultur Sternstunden 30.05.2022 mit Yves Bossart

Blinder Alarm?

Vorrangig

Was heute noch zu lesen wäre:

Hier ( https://www.t-online.de/nachrichten/id_92392508/klimakrise-was-sich-kein-politiker-zu-sagen-traut.html )

ZITAT

Das Grünbuch Öffentliche Sicherheit sagt schon 2030 für Deutschland ein Szenario voraus, wie wir es im vergangenen Sommer in Griechenland gesehen haben: mit massiven Hitzewellen und Waldbränden, sodass man tagsüber kaum noch das Haus verlassen kann, und mit Problemen bei der Trink- und Löschwasserversorgung. Nach allem, was wir in den vergangenen Jahren gesehen haben, halte ich das für plausibel. Deshalb geht es jetzt darum, uns einerseits so gut wie möglich auf die vorhersehbaren Risiken vorzubereiten und andererseits die Erderhitzung so stark wie möglich zu begrenzen, um unsere Wirtschaft und unsere Infrastruktur an die Veränderungen anzupassen. Beides ist möglich. Wir haben es nur noch nie ernsthaft versucht.

Und was morgen noch zu hören wäre –

eine Diskussion zur „Lage der Nation“ z.B. ab 47:05 (Harald Lesch):

HIER (https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-17-august-2022-100.html)

Oder ein Gespräch auf der Höhe der aktuellen Probleme –

Hier (https://www.psychologie-heute.de/gesellschaft/artikel-detailansicht/42148-wie-kann-es-sein-dass-ihr-nicht-mitbekommt-was-hier-passiert.html)

„Wie kann es sein, dass ihr nicht mitbekommt, was hier passiert?“ Die britische Psychoanalytikerin Sally Weintrobe sieht unsere Kultur als Motor für unseren achtlosen Umgang mit dem Klima – und uns selbst. Von

ZITAT

Nehmen Sie die aktuellen Hitzewellen in Europa. Die Mainstream-Medien im Vereinigten Königreich verbinden sie mit dem Klimawandel, aber auf eine Weise, die die Dringlichkeit der Lage unerwähnt lässt. Es wird über die Hitze berichtet und auf künftig notwendige Handlungen verwiesen – obwohl diese genau jetzt stattfinden müssten.

Selten wird die Nutzung von fossilen Brennstoffen als grundlegende Ursache der steigenden globalen Erwärmung erwähnt. Die große Fülle an Ergebnissen zum Weltklima wird nicht einbezogen, über die die Wissenschaft seit Jahrzehnten berichtet. Den Menschen wird nicht geholfen, Verbindungen herzustellen, um die politischen Kräfte und finanziellen Interessen besser zu verstehen, die diese Dringlichkeit befördern.

Grundsätzlich wird heruntergespielt, wie ernst die Situation ist. Klima-Nachrichten werden in Verbindung mit anderen Nachrichten verbreitet, die die Aufmerksamkeit zerstreuen. Auf jede erdenkliche Weise wird verharmlost, wie groß der Druck ist, dem wir uns gegenübersehen, und die Sicht befördert, dass wir einfach so weitermachen können wie bisher. Auch über die Klimazerstörung im globalen Süden wird nicht berichtet, so, als würden die Menschen dort nicht zählen

Sally Weintrobe

Über Klimawandelleugnung siehe Wikipedia HIER

Wasserstoff als Hoffnungsträger? Siehe hier (kurz zu Mobilität) und hier (ausführlich wwf).

Toleranz und Weltordnung

Die Grundlagen

(Ein Text der philosophischen Tradition, abgeschrieben, mit zusätzlicher Gliederung und mit einzelnen Links versehen, JR)

Die klassische europäische Idee der Toleranz ist ein Kind der Glaubenskriege. Die furchtbare Zerreißung der politischen Einheit im Namen einander feindlicher Glaubenshaltungen hat die Gestaltung des modernen säkularisierten Staates vorangetrieben, und zwar aus dem Bedürfnis nach Friedensstiftung und Rechtssicherheit für alle Bürger. Die Erfahrungen des 16. und 17. Jahrhunderts in vielen Ländern Europas liegen bekanntlich dieser Entwicklung zugrunde. Und in den Horizont muß man daher die heute zur allgemeinen Verständigungsformel gewordene Idee der Toleranz zunächst einmal stellen.

Im wegweisenden Edikt von Nantes hatte der französische König 1598 Gewissensfreiheit (liberté de consciences) versprochen, die den Protestanten das Verbleiben in Frankreich ermöglichen sollte. Auf dieser Linie bewegen sich strategisch alle späteren Deklarationen und Appelle. Die Lösung des Problems latenter Bürgerkriege aufgrund von Glaubensdifferenzen wird erreicht durch planmäßige Entkopplung der politischen Bürgerrolle, die konfessionell neutral ausgelegt wird, von der subjektiven Dimension der Überzeugungen, Glaubensbekenntnisse und Weltanschauungen.

Nun ist klar, daß subjektive Auffassungen und Meinungen stets handlungsleitend sein können, und daß kollektiv geteilte Überzeugungen auch kollektivem Handeln von Gruppen zugrundeliegen.

Also verbirgt sich eine Bedrohung der staatlichen Einheit in jedem Potential der Abspaltung von Sekten, des Zusammenschlusses von Abtrünnigen, Dissidenten usw. Diejenigen, die einer bestimmten heterodoxen Überzeugung folgen, können dem Staate, wie er besteht, jederzeit Konkurrenz machen.

Die Bedrohung der Einheit muß entschärft werden, so daß konkurrierende Vereinigungen nie auf politischer Ebene zu wirklichen Alternativen heranwachsen. Das bestehende Corpus der Gemeinschaft der Bürger bleibt objektiv vorrangig, während die drohenden Gefahren unter Zurückstellung in den subjektiven Bereich des Meinens und Glaubens gebannt werden. Glaube, was Du willst, aber halte Dich an die öffentlich geltenden Normen – so lautet das Toleranzgebot.

Die Vorordnung der unbezweifelt geltenden politischen Einheit vor den Schwankungen und Beliebigkeiten subjektiver Doxa kostet den Preis der Entpolitisierung glaubensgesteuerter Einstellungen und erschwert den Zusammenschluß Gleichgesinnter. Die subjektivistische Reduktion läßt Überzeugungen für die politische Praxis irrelevant erscheinen. Dieser strategische Schachzug im Interesse der öffentlichen Friedensstiftung schafft ein Vakuum, in das später Ersatzgestalten wie die Zivilreligion bei Rousseau, das Nationalgefühl des 19. Jahrhunderts und eine Art Verfassungspatriotismus in der Gegenwart zum Ausgleich eintreten.

Der Wunsch, in einer sittlichen Welt zu leben, die nicht nur das Minimum von Rechtssicherheit zusammen mit sozialen Kompensationen von Defiziten darstellt, sondern bruchlos auch als gemeinsamer Ort unserer Lebensorientierungen gelten kann, bleibt insoweit unerfüllt. Hegel hat im Namen des „objektiven Geistes“ eine auf die Freiheitserwartungen des modernen Subjekts zugeschnittene Institutionenlehre vorgelegt. Aber um die angemessene Deutung des Vorschlags dreht sich bis heute die Diskussion.

Quelle: Rüdiger Bubner: Drei Studien zur politischen Philosophie IV: Zur Dialektik der Toleranz / Universitätsverlag C.Winter Heidelberg 1999 / ISBN 978-3-8253-0863-6 / s.a. hier

Dieses Buch empfiehlt sich zur Lektüre, wenn man das von Charles Taylor (+ Jürgen Habermas) verinnerlicht hat: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. (s.a. hier).

(Denkpause) Ich schalte die Lektüre eines ZEIT-Artikels ein, der mich beeindruckt hat und den ich jetzt in Abschnitten mit der Toleranz-Geschichte in Verbindung zu setzen suche. Eine Übung.

Zitat (Abschluss des ZEIT-Artikels von Parag Khanna):

Der Bogen der Geschichte, den Toynbee gründlicher dokumentiert hat als jeder andere Gelehrte, neigt sich in Wirklichkeit den kleinen kulturellen Zentren zu, die aufblühen, wenn sich die Lektionen ihrer Vorgänger durch die kommerziellen und Wissensnetzwerke verbreiten.

Und wenn eine Welt ohne Zentrum nach Chaos klingt, so ist doch die wünschenwerteste Ordnung eine, in der alle miteinander verbunden sind, aber niemand die Kontrolle hat.

Ich kann diesen großen Artikel nicht in wenigen Zeilen zusammenfassen, ich werde nur die Sätze zitieren, die ich unterstrichen habe, um mich mit ihrer Hilfe besser zu erinnern:

Amerika hat das Internet aufgebaut, kann es aber nicht mehr abschalten.

Noch wichtiger ist, dass keine Gesellschaft auf der Welt außer China selbst will, dass China die Welt anführt.

Statt dass die Seidenstrassen-Initiative die Vormachtstellung der Britischen Ostindien-Kompanie wiederholt, sind die Gegenreaktionen auf sie wichtiger geworden. Während die afroasiatischen Kolonien drei Jahrhunderte brauchten, um die Briten zu vertreiben, haben sich Länder von Nigeria bis Indonesien in nur drei Jahren gegen die Neue Seidenstraße gewehrt. Die europäischen Kolonisatoren waren nicht mit echter Souveränität konfrontiert. China schon.

Wenn sich eine neue globale Ordnung abzeichnet, dann ist es die einer multipolaren Welt kontinentaler Regionen, in der Nordamerika, Südamerika, Europa und Afrika immer stärker zusammenhängen werden – und Asien selbst multipolar mit China, Japan, Indien, Australien und Russland. Keine Region aber ist ein Block. Sie sind vielmehr Schwämme.

Je erschreckender das von uns beschworene Szenario ist, desto stärker überreagieren die Akteure in dem System, um es zu verhindern. Das System entwickelt sich dadurch in nichtlineare Richtungen. Das ist die einfachste Definition von Komplexität, einer Situation, zu der es gerade wegen der unzähligen Kettenreaktionen kommt, die durch eine globalisierte Welt ermöglicht werden. Staaten können diesem System ihre Ordnungsvorstellungen nicht selbst aufzwingen. Vielmehr üben sie Druck innerhalb des Systems aus – und das System erzeugt Gegendruck.

Quelle DIE ZEIT 11.August 2022 Seite 47 Parag Khanna: Ist eine Weltordnung möglich? Nur weil die Globalisierung zu einer neuen Vewrteilung von Zemntren führt, muss sie nicht absterben. Die Zukunft gehört den Netzwerken. (Aus dem Englischen von Michael Adrian)

*    *    *    *

Und dieser Blog-Beitrag, der eigentlich alldies gründlich referieren sollte, könnte mit einem überwältigenden ästhetischen Ausblick enden: eine Musik, die den Geist Rumis in einzigartige Klangbilder verwandelt.

reinhören HIER

Siehe auch Bestenliste August 2022 / Preis der Deutschen Schallplattenkritik und nachfolgenden Artikel „SUFI RUMI“ .

24.08.2022 Heute. Ein schöner, allzu heißer Tag: der Originaltext Bubner ist angekommen

Das einzige, was ich referentiell zu korrigieren habe: die Überschrift „Drei Studien“ ist korrekt. Wenn vor dem (letzten) Vortrag zur Toleranz eine IV steht, ist allerdings noch erwähnenswert, dass die Nr. I allein aus einer Vorbemerkung von 5 Zeilen besteht, die schnell abgeschrieben ist:

Der Einleitungsaufsatz wurde in der Klassensitzung am 10. Mai 1997 vorgetragen, und mehrfach andernorts. Was ich aus den Diskussionen gelernt habe, ist in die gedruckte Fassung eingegangen. Die zwei übrigen Studien sind in zeitlichem und gedanklichem Zusammenhang mit dem Vortragstext entstanden.

Näheres zum Inhalt siehe auf der Rückseite des Umschlages, oben links, im schwarzen Bereich. Und nicht vergessen: das gewichtige, schmale Buch (62 Seiten) kostet weniger als 1 ZEIT + 1 SPIEGEL zusammen, siehe nochmals hier.

Im Alltag begegnet man vielleicht Argumenten zur Toleranz, die besagen, sie sei doch selbstverständlich, zumal heute, da die verständnisvolle Begegnung mit dem Fremden, der Fremdheit, alltäglich geworden ist. Oder im Gegenteil: auf eine Weise problematisch geworden ist, dass nur noch schwer zu argumentieren ist. Das Fremde ist eben – als das Unbekannte – nicht nur das Interessante, sondern auch das Abstoßendende. Man kann das eine nicht einfach durch wohlwollende Appelle ins andere umwandeln. Ich nenne nur das Schächten von Tieren, und ganz besonders, wenn es durch unanfechtbare religiöse Gebote gestützt wird. Da kann man noch so überzeugend für Religionsfreiheit und Toleranz plädieren, im Detail sieht alles anders aus. Die Argumente der Tierschützer sind nicht nur plausibel, sie sind auch menschlich. Aber: Was ist „Menschlichkeit“? Wenn man z.B. vom Schächtverbot unter den Nazis erfährt, kann das nicht als positives Beispiel gelten. Es wird plötzlich notwendig, unabhängig von weltanschaulichen Vorgaben oder „Kollateral“-Phänomenen über die Rechtslage nachzudenken. Siehe zum Beispiel im Wikipedia-Artikel hier.

Ich empfehle mir selbst (und anderen), auch den Bubner-Aufsatz mit der (vorgefassten) Bereitschaft zur Kritik zu lesen. Es ist mir klar, dass es Menschen gibt, die seinen Gedankengang dem „konservativen Lager“ zurechnen. Obwohl ich felsenfest (?) davon überzeugt bin, dass Gedanken (wie Gedankengänge) frei sein sollten. Den Gesetzen der Logik folgend…

Was ich mir bezüglich der Einschätzung von Fremdheit vorgemerkt hatte (Sicht des Ethnologen 1986):

 

Und wie Rüdiger Bubner in seinem Toleranz-Vortrag (1997) das Thema angeht:

(Fortsetzung folgt)

Dipesh Chakrabarty

Das neue Buch (in Arbeit)

so fing es an: SZ 22.07.22

Das Buch bei Perlentaucher HIER

„Europa als Provinz“ (Wikipedia), in der NZZ hier, in der FAZ hier (leider mit Sperre)

NZZ: Chakrabarty verkörpert die intellektuellen Tugenden einer zeitgenössischen, globalisierten Generation aus der ehemals Dritten Welt in Reinform…

Ich erinnere mich an meine frühere Idee zur globalen Musikgeschichte: nicht da draußen liegt die „exotische“ Musik, sondern unsere Musik ist der exotische Sonderfall: Wundersamste Blüte der europäischen Provinz.

Statt aber selbst einen Versuch zu unternehmen, Inhaltliches mitzuteilen aus dem Buch, das ich nicht kenne, sondern erst zu lesen beabsichtige, und statt weiter zu beschreiben, was mich bewegt hat, gerade dieses – nicht ganz billige – Buch zu kaufen, referiere ich lieber durch Kopie das, was der Autor selbst uns im ersten Kapitel mit auf den Weg gibt.

Da Chakraborty – wie auch der nachfolgende Blick ins Register zeigt – sich nicht nur im Abschlussgespräch auf Bruno Latour bezieht, habe ich nachgeschaut, wie oft ich diesem Denker im Verlauf meiner Lebenslektüren „notgedrungen“ begegnet bin, und damit glaube ich, auch hier auf dem richtigen Weg zu sein:

s.a. Kant, Heidegger (!) und Marx

Artikel in diesem Blog:

Ohne mir damit selbst auf die Schulter klopfen zu wollen: ich wurde gefragt, warum ich vorweg Sicherheiten suche, wenn ich mir Lesestoff vornehme. Ganz einfach: ich will mich nicht irren. Und damit schließe ich die verbalen Vorbereitungen. Beinahe. Seite 254 seines Buches (Unterkapitel „Latours Weitblick“) schreibt Chakrabarty:

Bruno Latour entwickelte sein kunstvolles Denken bereits lange bevor viele von uns sich des Problems bewusst wurden, auf das er reagierte: das Problem, vor das die unhaltbare Entgegensetzung von Natur und Wissenschaft auf der einen und von Kultur und Gesellschaft auf der anderen Seite das moderne Denken gestellt hat.