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Toleranz und Weltordnung

Die Grundlagen

(Ein Text der philosophischen Tradition, abgeschrieben, mit zusätzlicher Gliederung und mit einzelnen Links versehen, JR)

Die klassische europäische Idee der Toleranz ist ein Kind der Glaubenskriege. Die furchtbare Zerreißung der politischen Einheit im Namen einander feindlicher Glaubenshaltungen hat die Gestaltung des modernen säkularisierten Staates vorangetrieben, und zwar aus dem Bedürfnis nach Friedensstiftung und Rechtssicherheit für alle Bürger. Die Erfahrungen des 16. und 17. Jahrhunderts in vielen Ländern Europas liegen bekanntlich dieser Entwicklung zugrunde. Und in den Horizont muß man daher die heute zur allgemeinen Verständigungsformel gewordene Idee der Toleranz zunächst einmal stellen.

Im wegweisenden Edikt von Nantes hatte der französische König 1598 Gewissensfreiheit (liberté de consciences) versprochen, die den Protestanten das Verbleiben in Frankreich ermöglichen sollte. Auf dieser Linie bewegen sich strategisch alle späteren Deklarationen und Appelle. Die Lösung des Problems latenter Bürgerkriege aufgrund von Glaubensdifferenzen wird erreicht durch planmäßige Entkopplung der politischen Bürgerrolle, die konfessionell neutral ausgelegt wird, von der subjektiven Dimension der Überzeugungen, Glaubensbekenntnisse und Weltanschauungen.

Nun ist klar, daß subjektive Auffassungen und Meinungen stets handlungsleitend sein können, und daß kollektiv geteilte Überzeugungen auch kollektivem Handeln von Gruppen zugrundeliegen.

Also verbirgt sich eine Bedrohung der staatlichen Einheit in jedem Potential der Abspaltung von Sekten, des Zusammenschlusses von Abtrünnigen, Dissidenten usw. Diejenigen, die einer bestimmten heterodoxen Überzeugung folgen, können dem Staate, wie er besteht, jederzeit Konkurrenz machen.

Die Bedrohung der Einheit muß entschärft werden, so daß konkurrierende Vereinigungen nie auf politischer Ebene zu wirklichen Alternativen heranwachsen. Das bestehende Corpus der Gemeinschaft der Bürger bleibt objektiv vorrangig, während die drohenden Gefahren unter Zurückstellung in den subjektiven Bereich des Meinens und Glaubens gebannt werden. Glaube, was Du willst, aber halte Dich an die öffentlich geltenden Normen – so lautet das Toleranzgebot.

Die Vorordnung der unbezweifelt geltenden politischen Einheit vor den Schwankungen und Beliebigkeiten subjektiver Doxa kostet den Preis der Entpolitisierung glaubensgesteuerter Einstellungen und erschwert den Zusammenschluß Gleichgesinnter. Die subjektivistische Reduktion läßt Überzeugungen für die politische Praxis irrelevant erscheinen. Dieser strategische Schachzug im Interesse der öffentlichen Friedensstiftung schafft ein Vakuum, in das später Ersatzgestalten wie die Zivilreligion bei Rousseau, das Nationalgefühl des 19. Jahrhunderts und eine Art Verfassungspatriotismus in der Gegenwart zum Ausgleich eintreten.

Der Wunsch, in einer sittlichen Welt zu leben, die nicht nur das Minimum von Rechtssicherheit zusammen mit sozialen Kompensationen von Defiziten darstellt, sondern bruchlos auch als gemeinsamer Ort unserer Lebensorientierungen gelten kann, bleibt insoweit unerfüllt. Hegel hat im Namen des „objektiven Geistes“ eine auf die Freiheitserwartungen des modernen Subjekts zugeschnittene Institutionenlehre vorgelegt. Aber um die angemessene Deutung des Vorschlags dreht sich bis heute die Diskussion.

Quelle: Rüdiger Bubner: Drei Studien zur politischen Philosophie IV: Zur Dialektik der Toleranz / Universitätsverlag C.Winter Heidelberg 1999 / ISBN 978-3-8253-0863-6 / s.a. hier

Dieses Buch empfiehlt sich zur Lektüre, wenn man das von Charles Taylor (+ Jürgen Habermas) verinnerlicht hat: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. (s.a. hier).

(Denkpause) Ich schalte die Lektüre eines ZEIT-Artikels ein, der mich beeindruckt hat und den ich jetzt in Abschnitten mit der Toleranz-Geschichte in Verbindung zu setzen suche. Eine Übung.

Zitat (Abschluss des ZEIT-Artikels von Parag Khanna):

Der Bogen der Geschichte, den Toynbee gründlicher dokumentiert hat als jeder andere Gelehrte, neigt sich in Wirklichkeit den kleinen kulturellen Zentren zu, die aufblühen, wenn sich die Lektionen ihrer Vorgänger durch die kommerziellen und Wissensnetzwerke verbreiten.

Und wenn eine Welt ohne Zentrum nach Chaos klingt, so ist doch die wünschenwerteste Ordnung eine, in der alle miteinander verbunden sind, aber niemand die Kontrolle hat.

Ich kann diesen großen Artikel nicht in wenigen Zeilen zusammenfassen, ich werde nur die Sätze zitieren, die ich unterstrichen habe, um mich mit ihrer Hilfe besser zu erinnern:

Amerika hat das Internet aufgebaut, kann es aber nicht mehr abschalten.

Noch wichtiger ist, dass keine Gesellschaft auf der Welt außer China selbst will, dass China die Welt anführt.

Statt dass die Seidenstrassen-Initiative die Vormachtstellung der Britischen Ostindien-Kompanie wiederholt, sind die Gegenreaktionen auf sie wichtiger geworden. Während die afroasiatischen Kolonien drei Jahrhunderte brauchten, um die Briten zu vertreiben, haben sich Länder von Nigeria bis Indonesien in nur drei Jahren gegen die Neue Seidenstraße gewehrt. Die europäischen Kolonisatoren waren nicht mit echter Souveränität konfrontiert. China schon.

Wenn sich eine neue globale Ordnung abzeichnet, dann ist es die einer multipolaren Welt kontinentaler Regionen, in der Nordamerika, Südamerika, Europa und Afrika immer stärker zusammenhängen werden – und Asien selbst multipolar mit China, Japan, Indien, Australien und Russland. Keine Region aber ist ein Block. Sie sind vielmehr Schwämme.

Je erschreckender das von uns beschworene Szenario ist, desto stärker überreagieren die Akteure in dem System, um es zu verhindern. Das System entwickelt sich dadurch in nichtlineare Richtungen. Das ist die einfachste Definition von Komplexität, einer Situation, zu der es gerade wegen der unzähligen Kettenreaktionen kommt, die durch eine globalisierte Welt ermöglicht werden. Staaten können diesem System ihre Ordnungsvorstellungen nicht selbst aufzwingen. Vielmehr üben sie Druck innerhalb des Systems aus – und das System erzeugt Gegendruck.

Quelle DIE ZEIT 11.August 2022 Seite 47 Parag Khanna: Ist eine Weltordnung möglich? Nur weil die Globalisierung zu einer neuen Vewrteilung von Zemntren führt, muss sie nicht absterben. Die Zukunft gehört den Netzwerken. (Aus dem Englischen von Michael Adrian)

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Und dieser Blog-Beitrag, der eigentlich alldies gründlich referieren sollte, könnte mit einem überwältigenden ästhetischen Ausblick enden: eine Musik, die den Geist Rumis in einzigartige Klangbilder verwandelt.

reinhören HIER

Siehe auch Bestenliste August 2022 / Preis der Deutschen Schallplattenkritik und nachfolgenden Artikel „SUFI RUMI“ .

24.08.2022 Heute. Ein schöner, allzu heißer Tag: der Originaltext Bubner ist angekommen

Das einzige, was ich referentiell zu korrigieren habe: die Überschrift „Drei Studien“ ist korrekt. Wenn vor dem (letzten) Vortrag zur Toleranz eine IV steht, ist allerdings noch erwähnenswert, dass die Nr. I allein aus einer Vorbemerkung von 5 Zeilen besteht, die schnell abgeschrieben ist:

Der Einleitungsaufsatz wurde in der Klassensitzung am 10. Mai 1997 vorgetragen, und mehrfach andernorts. Was ich aus den Diskussionen gelernt habe, ist in die gedruckte Fassung eingegangen. Die zwei übrigen Studien sind in zeitlichem und gedanklichem Zusammenhang mit dem Vortragstext entstanden.

Näheres zum Inhalt siehe auf der Rückseite des Umschlages, oben links, im schwarzen Bereich. Und nicht vergessen: das gewichtige, schmale Buch (62 Seiten) kostet weniger als 1 ZEIT + 1 SPIEGEL zusammen, siehe nochmals hier.

Im Alltag begegnet man vielleicht Argumenten zur Toleranz, die besagen, sie sei doch selbstverständlich, zumal heute, da die verständnisvolle Begegnung mit dem Fremden, der Fremdheit, alltäglich geworden ist. Oder im Gegenteil: auf eine Weise problematisch geworden ist, dass nur noch schwer zu argumentieren ist. Das Fremde ist eben – als das Unbekannte – nicht nur das Interessante, sondern auch das Abstoßendende. Man kann das eine nicht einfach durch wohlwollende Appelle ins andere umwandeln. Ich nenne nur das Schächten von Tieren, und ganz besonders, wenn es durch unanfechtbare religiöse Gebote gestützt wird. Da kann man noch so überzeugend für Religionsfreiheit und Toleranz plädieren, im Detail sieht alles anders aus. Die Argumente der Tierschützer sind nicht nur plausibel, sie sind auch menschlich. Aber: Was ist „Menschlichkeit“? Wenn man z.B. vom Schächtverbot unter den Nazis erfährt, kann das nicht als positives Beispiel gelten. Es wird plötzlich notwendig, unabhängig von weltanschaulichen Vorgaben oder „Kollateral“-Phänomenen über die Rechtslage nachzudenken. Siehe zum Beispiel im Wikipedia-Artikel hier.

Ich empfehle mir selbst (und anderen), auch den Bubner-Aufsatz mit der (vorgefassten) Bereitschaft zur Kritik zu lesen. Es ist mir klar, dass es Menschen gibt, die seinen Gedankengang dem „konservativen Lager“ zurechnen. Obwohl ich felsenfest (?) davon überzeugt bin, dass Gedanken (wie Gedankengänge) frei sein sollten. Den Gesetzen der Logik folgend…

Was ich mir bezüglich der Einschätzung von Fremdheit vorgemerkt hatte (Sicht des Ethnologen 1986):

 

Und wie Rüdiger Bubner in seinem Toleranz-Vortrag (1997) das Thema angeht:

(Fortsetzung folgt)