Scherzverwandtschaft

Worüber lacht man im Senegal und warum?

Nachdem ich einmal angefangen habe zu beobachten, inwiefern die gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen stimmen müssen, damit Witze funktionieren (siehe über Ciceros Witz hier), muss ich auch diesen schönen Artikel der aktuellen ZEIT (31. August 2017 Seite 7) aktenkundig machen, der glücklicherweise zugleich schon im Internet abrufbar ist. Es begann damit, dass ich nicht lachen konnte, obwohl es eindeutig als Scherz gemeint oder angekündigt war, dieser Einstieg in den Artikel. Gewiss, – ein Scherz ist nicht dasselbe wie ein Witz, trotzdem:

Scherze kennen kein Tabu im Senegal. „Pass auf, morgen schlachte ich dir ein Schwein! Das koche ich dir, das isst du, und du wirst Christin“, sagt der Christ zur Muslimin. „Dein Schwein kannst du selber essen“, schießt die Muslima zurück.

„Ihr wart die Sklaven, wir waren die Könige“, sagt ein Mann aus der Diola-Ethnie zu einem Serer. „Ach was, versklavt wurdet doch ihr!“

Man bespöttelt die angeblich mangelnde Intelligenz des anderen oder sein unvorteilhaftes Aussehen, lacht über religiöse und ethnische Klischees. Jeder im Senegal verspottet irgendeinen anderen. Eigentlich müssten die Menschen hier einander die Köpfe einschlagen. Genau das tun sie aber nicht.

„Eigentlich“? Das Phänomen ist bekannt: mal wirkt es wie eine Neckerei, mal wie eine höhnische Provokation. Die unreflektierte, von Kind an vorgeprägte Einordnung der Äußerungen ist entscheidend. Jeder von uns hat schon mal bemerkt, dass man wissen muss, wie ein Scherz gemeint ist, was dabei mitgedacht wird. Nicht jeder kann jeden Witz erzählen, – der eine wirkt dabei wie ein böser Zyniker, der andere wie ein erwachsener Lausbube (dem man „nichts übelnehmen“ kann). Der Knalleffekt, der zu einem Witz zu gehören scheint, kann ausbleiben. Stattdessen peinliche Stille…

Hätte mein Bruder den Witz erzählt, hätte ich ihn vielleicht nicht auflaufen lassen, aber wenn mein ungeliebter Vorgesetzter ihn eingeflochten hätte, – was wäre wohl meine Reaktion gewesen? Es kommt auf die Konventionen an. Auch auf die Konvention, sich an Konventionen anzupassen oder ihnen, wo immer man sie vermutet, wenigstens zögerlich (prüfend) zu begegnen. Etwa mit der vorsichtigen Distanzierung: … ist mir leider schon bekannt, oder mit der strengen Frage: soll das ein Witz sein? – Der Bruder stand in diesem Beispiel für „Scherzverwandtschaft“: ich weiß intuitiv, ob er es flapsig oder zielbewusst verletzend gemeint hat. Und er weiß, dass ich es weiß. Aber den Fachbegriff gibt es wirklich!  Frz. cousinage à plaisanterie – das Wort (auch paranté plaisantante) kann man googeln:

Outre les groupes ethniques, cette relation peut aussi s’exercer entre clans familiaux, par exemple entre les familles Diarra et Traoré, ou Ndiaye et Diop. Ainsi, un membre de la famille Ndiaye peut-il croiser un Diop en le traitant de voleur ou de mangeur d’arachide sans que personne ne soit choqué, alors que parfois les deux individus ne se connaissent même pas. Il n’est d’ailleurs pas permis de se vexer. Cette impolitesse rituelle donne lieu à des scènes très pittoresques, où les gens rivalisent d’inventivité pour trouver des insultes originales et comiques.

Siehe französische Wikipedia HIER.

Auch die im ZEIT-Artikel gegebenen Beispiele (oder ähnliche) findet man wieder, z.B. hier.

« Il y a toujours un problème de possession en tous cas ! Chacun veut que l’autre soit esclave ! ».

Bref chacun est l’esclave de l’autre, ce qui concilie le sentiment de supériorité et la réciprocité. La hiérarchie proclamée par l’autre groupe est simplement inversée. L’individu ou le groupe ethnique peut toujours se considérer comme le noyau central, l’ego-centre ou l’ethno-centre autour duquel l’autre ne fait que « tourner » : chacun est au centre de son propre point de vue, alors que, par définition, personne ne l’est.

De fait, le cousinage de plaisanterie semble créer un sentiment de « communauté », paradoxalement basé sur la reconnaissance de la différence.

Quelle 

Im ZEIT-Artikel wird eine historische Herleitung gegeben, die an die mittelalterliche Funktion des Hofnarren in Europa denken lässt:

Besuch bei Raphaël Ndiaye, Ethnolinguist, Philosoph und Direktor des Léopold-Senghor-Kulturinstituts in Dakar. Die Scherzverwandtschaft, sagt Ndiaye, gehe auf Soundiata Keïta zurück, den Gründer des legendären Mali-Reiches.

Im Jahr 1235 bestellte dieser anlässlich der Verabschiedung der Reichsverfassung seine Clanchefs ein und beschwor sie, von jetzt an friedlich zusammenzuleben. Vor den versammelten Honoratioren befahl er dem Griot, seinem Hofsänger, ihn zu beleidigen. Der Griot wagte es nicht, alle Anwesenden glaubten, der König wolle seinen Kopf. Keïta aber sagte: „Was kann es meiner Würde anhaben, wenn mich dieser Griot beleidigt, der doch wie ein Verwandter für mich ist?“ Und er forderte seine Gefolgsleute auf, sich als Verwandte zu begreifen, die einander necken, ja sogar beleidigen dürften, ohne dass das zu Streit oder Krieg führe.

„Auch wenn sie die Form des Humors annimmt, hat die Scherzverwandtschaft doch einen ernsten Kern“, sagt Ndiaye. Sie sollte schon damals Schutz bieten vor Krieg, Familienfehde oder gegenseitiger Versklavung. „Wann immer Familien oder Ethnien Frieden miteinander schlossen, erklärten sie sich zu Scherzverwandten“, sagt Ndiaye. „Und das bedeutete: Es soll nie Krieg geben zwischen unseren Nachfahren.“

Quelle DIE ZEIT 31. August 2017 Seite 7 Angela Köckritz: Witz oder Krieg Der Senegal ist stabiler als seine Nachbarländer. Das hat mit einer besonderen Form des Islams und mit Humor zu tun. / Online HIER

Im Wikipedia-Artikel siehe Stichwort „Hofnarr“ HIER unter 3 Hofnarren in Mittelalter und Neuzeit und 4 Narren außerhalb Europas.

Aber wohlgemerkt: der Griot in Westafrika ist alles andere als ein Hofnarr… siehe (außer in Wikipedia) auch beim GOETHE-Institut hier.