Archiv der Kategorie: Geschichte

Woher kam der Jazz?

Maximilian Hendlers Forschungsreisen

Zitat:

Die befremdlichen Züge, welche die Musik der Afroamerikaner für Weiße an sich hatte und immer noch hat, führten zu einem bis heute weiterwirkenden Irrtum. Die afroamerikanische Musik kommt von den Schwarzen – die Schwarzen kommen aus Afrika -, daher kommt die afroamerikanische Musik aus Afrika. Die Jazzforscher, die alles, was nicht in der Musikästhetik der westlichen Hochkultur enthalten ist, nach Afrika verlegen wollen, ziehen ein Faktum nicht in Betracht: Der größte Teil der traditionellen afrikanischen Musik wurde zu religiösen und sozialen Anlässen gemacht, an denen Afrika extrem reich war und selbst heute noch immer ist.

Für die Afrikaner, die in die amerikanische Sklaverei gerieten, fielen diese Anlässe weg. Ihnen blieb nichts anderers übrig, als sich jener musikalischen Formen zu bedienen, die sie zunächst bei ihren weißen Besitzern und später auch beim weißen Proletariat zu hören bekamen. Ihre Rezeption dieser Musikformen bildet die Basis, aus der in den Jahrzehnten um 1900 der Jazz erwuchs.

GRAZ 2008

WIEN 2023

Was mich das angeht?

Titel, die leicht aufzufinden sind:

S.40 My Gal is a highborn Lady hier oder hier

S.41 Crappy Dan hier

S.43 All coons look alike to me hier (Arthur Collins) hier und hier

S.47 Nobody / When life seems hier

S.77 A Georgia camp meeting hier

S.89/90  Jelly Roll Morton (gesamt) hier Tiger Rag hier different tempi hier

S.94 A happy little chappie hier ?

S.106 Scott Joplin Easy winners (mit Noten) hier

S.106 Frank P. Banta hier

S.120 Original Dixieland Jazz Band 1917 Tiger Rag hier Livery Stable Blues hier

S.126 Duke Ellington 1927 (?) Bugle Call Rag hier

(Fortsetzung folgt)

Als Gegenposition sei an dieser Stelle auf das Buch von Gerhard Kubik (1999) verwiesen, der ein ausgewiesener Afrikakenner ist. Was die Argumentation, dass der Blues aus Afrika kommt, nicht von vornherein glaubwürdiger macht, – als habe sich über Generationen von Sklaven eine solche Erinnerung halten können. Zu berücksichtigen wäre die schlichte Tatsache, dass mit ihrer Ankunft in Amerika das absolute kulturelle Prägerecht der afrikanischen Sklaven die Kirchen und Sekten  übernommen hatten. Da blieb nichts übrig.

Der Name Kubik kommt bei Hendler nicht vor, weil die neueren Forschungen am überlieferten Material und die Einbeziehung der frühen Schichten europäischer Volksmusik einen ganz anderen Weg wiesen.

Und vor allen Dingen: statt den schnellen Weg nach Afrika zu nehmen, lohnt es sich in die Tiefe der Geschichte einzutauchen, und nicht nur dort, wo sie für Menschen unserer Zeit (rückwirkend) interessant ist und Musikprojektionen befeuert. Man lese daraufhin den Wikipedia-Artikel „Great Awakening“ mit Blick auf die unterprivilegierten Schichten der amerikanischen Bevölkerung.

Edwards’ Predigten waren machtvoll und zogen von etwa 1731 an ein großes Publikum an. Der aus England eingereiste methodistische Prediger George Whitefield setzte die Erweckungsbewegung fort, bereiste die britischen Kolonien und predigte in einem dramatischen und emotionalen Stil, der in dieser Zeit neu war. Neu war auch, dass Whitefield im Publikum jedermann – auch Afroamerikaner und Sklaven – akzeptierte…

Durch das Great Revival gelangten erstmals auch viele Sklaven zum christlichen Glauben. In den südlichen Kolonien erlaubten die Baptisten seit den 1770er Jahren sowohl Sklaven als auch Sklavenhaltern das Predigen. Nachdem Frauen in den Kirchen bis dahin überrepräsentiert gewesen waren, stieg auch die Anzahl der männlichen Kirchenmitglieder…

Wie die amerikanische Theologin Kimberly Bracken Long 2002 dargestellt hat, führen Geisteswissenschaftler die Camp Meetings seit den 1980er Jahren auf die Tradition der Holy Fairs zurück, die im 17. und 18. Jahrhundert in Schottland verbreitet waren. Bis dahin hatte man ihre Wurzeln ausschließlich in der amerikanischen Grenzland-Erfahrung vermutet…

Die Bemühungen, christliche Lehren auf die Lösung sozialer Probleme anzuwenden, waren wichtige Vorläufer und Präzedenz-Fälle für die Social-Gospel-Bewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, auch wenn sie in ihrer eigenen Zeit nur sehr eingeschränkt auf bestimmte Themen wie Alkohol und Sklaverei zur Geltung kam und nicht auf die Gesamtwirtschaft bezogen wurden…

NEU (11.05.23) DIE ZEIT Seite 52 Buch-Empfehlung

Fragwürdige Geschichte (Musik)

Der Blick auf die Epochen

siehe andere Versuche:

Das Jahr Tausend

Wendezeiten der (Musik-)Geschichte

Klarheit zur Zeit meiner Väter (vor 1933)

Johannes Wolf hier

  Geschichte der Musik in allgemeinverständlicher Form. 3 Bdd., Leipzig 1925–1929

Zitate: „Ein neuer Stil bahnt sich im 14. Jahrhundert in Ober-Italien, speziell in Florenz an, ein Stil der weltlichen Liedmusik, welche mit dem literarischen Aufschwung jener Zeit Hand in Hand geht.“ Die Renaissance S.64

„Kaum hatte Italien, vornehmlich in Toscana, die Literatur in der Volkssprache zu höherem Fluge ausgeholt, so wandte sich das Interesse dem klassischen Altertum als dem zu erstrebenden Vorbilde zu. Schon ein Dante und ein Petrarca wirkten für eine Wiederbelebung der Antike.“ Die Barockzeit S.1

 

Zitat: Dritter Abschnitt S.33: „Die Revolution braust 1789 von Frankreich her über alle Länder hin, eine neue Zeit bricht an. Geistige wie künstlerische Umwälzungen erfolgen, das Individuum ringt um Anerkennung.“

Achtung:

Neuere Geschichtsschreibung

Ich wusste es nicht mehr: aber in den 50er, 60er Jahren war es nicht verwunderlich, dass eine Musikgeschichte – die auch noch die zeitgenössische Phase umfassen sollte – mit einem Akzent auf dem SINN endete. Ich habe es damals nicht in Frage gestellt, nein, – überhaupt nicht gelesen.

Ja, es beginnt und endet mit: Sinn

Quelle s.u.

Heute fällt es mir auf, wenn ich einen Komponisten, der John Cage erlebt hat, ihn nicht beim Bedenken der Forderung nach SINN berücksichtigt sehe. Schließlich hat der den Sinn der Musik, gerade der eigenen, wie kein anderer in Frage gestellt. Mir war das klar, seit ich in den DuMont-Dokumenten von 1960 seine Beschreibung angewandter Kompositionsmethode gelesen hatte.

Daher erschien mir beim Blogbeitrag über Claus-Steffen Mahnkopf (hier) die Wiederkehr des Wortes SINN überraschend.

Natürlich lassen sich Klangdesigns errechnen, so wie Bildsequenzen. Aber es sind akustische Kaleidoskope, ohne jeden musikalischen Sinn. Rohmaterial vielleicht, Klänge, aber keine Musik. Computer verarbeiten mathematische Fakten, nicht Sinn. Musik gehört aber zum Reich des Sinns. Natürlich können Computer Töne aneinanderreihen, wie sie das auch mit Bildern, Filmsequenzen und Wörtern vermögen. Aber das war es dann auch schon. Denn Texte, Musikstücke, Bilderfolgen und Filme brauchen einen sinnvollen Zusammenhang; sofern Kunstanspruch dabei ist, erst recht. Sinn, der Verweisungszusammenhang von Lebendigem, ist aber eine Dimension, die einem Computer prinzipiell unzugänglich ist, da dieser nicht lebt.

(Zitat Mahnkopf a.a.O. Seite 126 f)

Der Blick über die Epochen im „Wörner“ (1965) 

Quelle Karl H. Wörner: Geschichte der Musik / Ein Studien- und Nachschlagebuch / Fünfte, durchgesehene und erweiterte Ausgabe / Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen 1972 (1954)

Die folgenden Seiten sollen (mich) anmahnen, in welchem Buch ich heute die ständige Suche nach einem passablen Überblick über die Geschichte widergespiegelt finden könnte. Über Reinhart Koselleck. In Erinnnerung daran, dass es mit Altdorfers Gemälde „Alexanderschlacht“ beginnt, in der Mitte James Cooks historische Begegnung mit dem polynesischen Glaubenssystem in die Gegenwart transponiert und mit einer Geschichte der Reiterdenkmäler endet („Pferdezeitalter“).

Wikipedia

Kosellecks Ansatz zur Begriffsgeschichte hat den Bedeutungswandel von Ausdrücken zum Inhalt, damit soll die Wirklichkeitserfahrung vergangener Epochen herausgestellt werden. Weil dieser Wandel um 1800 infolge politischer und industrieller Revolutionen besonders groß war, prägte Koselleck den Begriff der Sattelzeit für den Zeitraum von circa 1750 bis 1850. Alte Worte haben demnach neuen Sinngehalt gewonnen, so dass sie heute keiner Übersetzung mehr bedürfen. Synonym dazu wird der Begriff der Schwellenzeit verwendet.

 

Quelle Stefan-Ludwig Hoffmann: Der Riss in der Zeit / Kosellecks ungeschriebene Historik / Suhrkamp Berlin 2023

Die Brandenburgischen

Wem gewidmet?

näher bitte! noch näher!!

Wer ist dieser Herr? Kein Mensch, der sich was sagen lässt. Wenn man Wikipedia vertraut, findet man ihn hier : Christian Ludwig von Brandenburg-Schwedt.

Wenn man allerdings wie ich in Bielefeld aufgewachsen ist, fragt man als erstes: Brandenburg??? Der große Kurfürst, – hat er mit dem zu tun, ist vielleicht sogar identisch…? Leider nein, dieser lebte viel früher (1620-1688), hieß Friedrich Wilhelm und ist berühmt aus anderen Gründen. Nicht etwa wegen irgendwelcher Musikstücke, einer Sammlung, über welche man heutzutage als Krönung des eigenen Musikerlebens ein kluges Buch schreiben kann. Und dort stoßen dann die wirklich neugierig Lesenden auf eine Art Stammbaum, auf dem links oben sich der große Kurfürst, rechts unten der Widmungsträger der Bachschen „Brandenburgischen Konzerte“ befindet. Und dann kann man versuchen einzuordnen, was einem wirklich am Herzen liegt, z.B. Johann Sebastian Bach (1685-1750). Welch eine Klarheit umgibt uns!

(Tafel nach Goebel)

Zugegeben: Stammbaum ist etwas zuviel gesagt. Die beiden Zweige besagen nichts anderes als: des Großen Kurfürsten erste Ehe samt 6 Kindern und des Großen Kurfürsten zweite Ehe samt 7 Kindern, von denen das letzte – in der Erbtitelfolge ganz unbedeutend – als Widmungsträger der Bachschen Concerti für die musikalische Welt eine zentrale Stellung eingenommen hat: Christian Ludwig von Brandenburg-Schwedt.

Der Vater erhielt sein Ehren-Epitheton „groß“, weil er im Jahre 1675 die Schweden in der Schlacht bei Fehrbellin besiegt hat. Ja, und der andere, der jüngste Sohn, was wurde über ihn aktenkundig? Immerhin gibt es einen Vermerk im Braunschweiger Botschafter am 13. Oktober 1731 (zitiert nach Goebel):

Der Markgraf Christian ist am vergangenen Montag von dem Lust-Schloße Malchau nach dem 6 Meilen von dannen gelegenen Jagdorte Liepe abgegangen, sich auch daselbst mit dem Jagen ein Plaisir zu machen.

Sicherlich kein herausragendes Ereignis in der Biographie des Markgrafen, sondern Normalität des höfischen Vergnügens hier und anderswo, so dass Bach, gerade als er noch in höfischen Diensten stand – also vor seiner Leipziger Zeit – mit dem diesbezüglichen musikalischen Bedarf von Grund auf vertraut war. Jagdsignale, Jagdinstrumente und die zugehörigen Musiker gehörten zu seiner verfügbaren Ausstattung, selbst wenn es um eine Kirchenkantate oder ein offizielles Geburtstagsständchen ging.

Aus der Wikipedia-Biographie:

Seinem [des Königs] Onkel Christian Ludwig, der ein großes Interesse an Musik und den Künsten hatte, gestattete der König jedoch die Beibehaltung einer eigenen Kapelle im Berliner Stadtschloss und übertrug ihm die Herrschaften Malchow und Heinersdorf – diese brachten Christian Ludwig, zusammen mit seinen Einkünften aus dem mütterlichen Erbe, seinem Offizierspatent als Generalmajor (seit 1695) und später Generalleutnant in Stettin und als Regimentschef des Regiments zu Fuß (1806: No. 7) sowie seinem Amt als Kommendator der Kommende Lagow und Administrator und evangelischer Dompropst von Halberstadt allein für das Jahr 1734 konkret 48.945 Taler ein.

Er war zudem der vierte Empfänger des Preußischen Ordens vom Schwarzen Adler. Im Winter 1718/19 besuchte Johann Sebastian Bach die Stadt Berlin und beeindruckte den musikbegeisterten Christian Ludwig mit seinem Können. Christian Ludwig bat Bach um einige seiner Kompositionen und erhielt im Frühling 1721 eine Partitur mit dem Titel Six Concerts avec plusieurs instruments, die heute unter dem Namen Brandenburgische Konzerte bekannt ist.

Vergeblich suche ich in Goebels stoffreichem Historienteil nach einer solchen – vielleicht nur phantasievollen – Ausschmückung der Brandenburgischen Begegnung und halte mich daher weiterhin an Christoph Wolffs knappe Darstellung, s.u.1). Bei Reinhard Goebel führt der Name Mietke zu einem Anhaltspunkt, aber es bleibt doch im Graubereich, ob Bach bei dieser Gelegenheit dem Widmungsträger persönlich begegnet ist, – was aber doch sehr wahrscheinlich ist. Was sonst könnte ihn denn zu einer solchen Riesenarbeit motiviert haben? s.u. 2).

1) 2)

Quelle 1) Christoph Wolff: Johann Sebastian BACH / S.Fischer Frankfurt a. M. 2000 (S.229) 2) Reinhard Goebel: Johann Sebastian Bachs „Brandenburgische Konzerte“ / Verlag Dohr Köln 2023 (S.13)

Fest steht, dass Bach selbst die persönliche Begegnung in seiner Widmung aktenkundig gemacht hat:

Damit verlasse ich die biographische Vorgeschichte und folge den Suggestionen, die Bach mit dem Werk selbst hat geben wollen. Wobei ich mich auf das erste Konzert beschränke und letzlich allen Anregungen folge, die ich Goebel verdanke und die ich anhand von klingender Musik nachzuvollziehen suche. Wenn sich hier und da ein kritischer Ansatz zeigt, mindert das nicht die Leistung seines Buches. Es animiert zu Widerspruch, weil es so prägnant die physischen und materialgebundenen Anteile der Werke in die Analyse einbezieht, während wir an ihnen vielleicht ein Ideal Bachscher Instrumentalmusik verinnerlicht haben.

Dass die Jagd an sich einen hohen Stellenwert hatte für die hohen Herren in jener Zeit, liegt auf der Hand, und es ist nicht meine Aufgabe, daran Kritik zu üben. Wenn Bach ein Werk schreibt, das dem begeisternden Tumult und vielstimmigen Treiben dieses Sports ein musikalisches Äquivalent an die Seite stellt, habe ich nur alle Komponenten wahrzunehmen, die er zu diesem Zweck hervorhebt. Ganz wichtig: wenn es einen Text gibt, der es erlaubt, sie bestimmten Bedeutungen zuzuordnen.

1713 / 1715 Jagdkantate Was mir behagt, das ist die munt’re Jagd BWV 208  Text hier und hier

Zitat aus Wikipedia hier:

1713 aus Anlass des 31. Geburtstags von Christian von Sachsen-Weißenfels als festliche Tafelmusik komponiert, die am Abend nach einer ausgedehnten Jagdveranstaltung des Fürsten von Schloss Neuenburg, im Jägerhof in Weißenfels erklang.

Hat diese große Tafelmusik wirklich mit einem so unscheinbaren Rezitativ begonnen?  Nein, erfährt man von Goebel, es gab „eine aus Allegro – Adagio – Menuet bestehende Komposition (…), die man heute allgemein als die Sinfonia zu der (…) Jagdkantate BWV 208 aus dem Jahr 1715 apostrophiert. Diese (…) überlieferte dreisätzige Werkgestalt ergänzte Bach für die brandenburgische Version bei der Niederschrift 1720/21 um einen zwischen Adagio und Menuet interpolierten Konzertsatz und einen kleinen, aber bedeutenden Zusatz im Menuet-Finale.“ (Goebel S.34) Aber das Textbuch von damals könnte doch bedeutende inhaltliche Hinweise auch zu der vorher gespielten Musik gegeben haben? Goebel hatte immerhin angekündigt: „Die emblematisch-allegorische Aussage dieses Eröffnungswerkes lässt sich umstandslos mit den Worten das Eingangsrezitativs zu Bachs für den Hof in Weißenfels bestimmten  Jagd-Kantate BWV 208 fassen: Was mir behagt, ist nur die munt’re Jagd.“ (Seite 33)

1721 Brandenburgisches Konzert No. 1 hier

1726 Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten BWV 207 (1726), weltliche Kantate, siehe   hier (Wiki), Text hier, zu Ehren des Prof. Gottlieb Kortte: Glück, Dankbarkeit, Fleiß, Ehre / vorangestellt ein Chor, der den „lüster[n]en Hörer herbeilocken soll, um zu erfahren, was der Lohn der Tugend sei“. Der Chor beruht auf dem Material des 1. Satzes Brandenburgisches Konzert  Nr.1  / 1726 Chor = „Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten“ = Rückparodie einer verschollenen Sopranarie nach dem Muster des genannten Konzerts. Zitat Wikipedia:

Bach strukturierte die Kantate in zehn Sätzen, beginnend mit einem instrumentalen Marsch. Er schrieb sie für vier Solisten, die allegorischen Figuren repräsentieren: Glück (Sopran), Dankbarkeit (Alt), Fleiß (Tenor) und Ehre (Bass).

*     *     *

Und wissen Sie, was mir nun fehlt, – nach all den Hinweisen auf emblematisch-allegorische Aussagen (die sogar expressis verbis vorliegen)? Dass ein großer Name genannt wird, der all diese angedeuteten Freuden und Tugenden überragt, und sei es, dass er schließlich durch Abwesenheit geradezu intensiv glänzt und so nur noch den „lüsternen Hörer herbeilocken soll“: DIANA.

Was die maßgebliche Version des Konzertes angeht, fordert Goebel uns heraus: „Warum aber war Bach die Präsentation dieses Instruments [der Piccolo-Violine] so wichtig? Welchen Symbol-Charakter hatte in diesem Zusammenhang dieses Instrument, welchen allegorischen Mehrwert? Nescimus!“

Ja, ist es denn wohl zu verwegen herauszuplatzen und zu entgegnen: doch! wir wissen es, das  kann doch nur Diana selbst sein! Betrachten Sie es recht (mit dem Hirsch):

Diane chasseresse et ses nymphes, huile sur toile de Pierre Paul Rubens réalisée (1636-1639)

Der Ton trügt: so sicher bin ich meiner Sache nicht, schließlich komme ich nicht ganz allein auf solch eine Idee. Oder weil ich das Textbuch der Jagdkantate gelesen habe! Ich höre auch ganz unterschiedliche Aufnahmen und nicht alle mit gleicher Zustimmung, selbst im Falle einer Nachfolge von Nikolaus Harnoncourt…

Concentus Musicus Wien, Festspiele Styriarte 2019, Konzert 20.07.2019 in Schloss Eggenberg, s.a. hier, Einführungstext beginnt bei 1:05, Leitung, Cembalo und Moderation: Stefan Gottfried (Textverschriftlichung JR). Musik ab 5:30

Diese Götter der Antike stehen hier nicht für sich selbst, sondern für Eigenschaften, die man im Barock für Tugenden des Fürsten empfand, sie erzählen sozusagen vom idealen Fürsten. Dasselbe hatte vielleicht auch J S Bach im Sinn, als er seine 6 Brandenburgischen Konzerte komponierte. Sie heißen deswegen Brandenburgische Konzerte, weil er sie 1721 dem Markgraf von Brandenburg widmete und ihm ins Berliner Schloss schickte. Dort residierte der Markgraf in Räumen wie diesem: über und über bedeckt mit Göttern der Antike. Bach selbst hat seine Brandenburgischen Konzerte im Köthener Schloss aufgeführt, dort diente die Gemäldegalerie als Konzertsaal, ebenfalls ein Raum wie dieser, voll von antiken Gottheiten. Hat sich Bach von diesen Bildern inspirieren lassen, als er die Konzerte komponierte, – wir glauben ja, und das hat natürlich etwas mit dem Styriarte-Thema des heurigen Jahres zutun, mit den Metamorphosen des Ovid. Im ersten Brandenburgischen Konzert geht es um die Jagd und die Jagdgöttin Diana. Bach hat diese Musik ursprünglich als Vorspiel zu seiner Jagdkantate komponiert: Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd. So singt Diana am Anfang der Kantate, und unter dieses Motto hat Bach auch sein Konzert gestellt. Zu munterem Treiben des Orchesters (SPIELT) gesellen sich zwei Jäger mit ihren Hörnern und schmettern ihre Signale, die zur Jagd aufrufen. (SPIELT) Zwei Gruppen nehmen Aufstellung, hier die lieblichen Nymphen der Diana, im Orchester durch die Streichinstrumente verkörpert, dort die wackren Schäfer, die auf ihren Instrumenten, Oboe und Fagott, spielen. Und über allem thront ein Violino piccolo, eine kleine Geige, die eine Terz höher gestimmt ist als normal: die Jagdgöttin selbst. Der erste Satz beschwört prachtvoll das Jagdrevier der Diana. Man kann sehr schön hören, wie die drei Gruppen, die Nymphen, die Schäfer, die hornspielenden Jäger sich ständig einander die Motive zuspielen. Im Mittelsatz wird die Musik langsam, leise, träumerisch, die Geige spielt eine ausdrucksvolle Melodie in Moll, die von der Oboe aufgegriffen wird, während sich die anderen Instrumente schlafen legen. Wenn die Geige Diana verkörpert, dann muss die Oboe ihr Geliebter sein, der Schäfer Endymion. Ihr Schäferstündchen spielt sich in der Nacht ab. Denn Diana ist ja auch die Mondgöttin, man hört es am silbrigen Glanz dieses Satzes. Am nächsten Morgen blasen die Hörner dann endlich zur Jagd. Das merkt man am galoppierenden Rhythmus des Themas und an den schmetternden Signalen der Hörner, allen voran die virtuose Piccologeige der Diana. Zur Feier der gelungenen Jagd findet dann noch ein Ball statt, viermal spielen alle ein festliches Menuett, dazwischen hat jede der drei Jagdgruppen ihren Auftritt. Die Schäfer mit ihren Oboen tanzen ein Menuett, die Nymphen wagen sich mit ihren Streichinstrumenten an eine kesse Polonaise, und die Jäger schmettern zur Begleitung der Oboen einen Marsch. (MUSIK ganz)

Nun? Was soll man weiter sagen? Scheint doch absolut o.k., abgesehen von einer Kleinigkeit – denn eins ist wohl ebenso klar: Protest ab „Endymion“!!! Von einem Schäferstündchen kann wohl keine Rede sein, einfach absurd! Hören Sie nur einmal das Adagio! Die Oboe, offenbar piano wie alle anderen. Und dann die Piccolovioline im Takt 5 forte (!), ich denke: durchdringend, scharf… Was sind das für ungeheure Affekte, ich sehe da nichts, nein, nichts vom silbrigen Glanz einer stillen mondhellen Nacht. Wohl höre ich etwas vom schweren Tod eines menschenähnlichen, fühlenden Wesens, und sei es in Gestalt eines Hirsches! Schauen Sie noch einmal genau auf das Rubensbild der Diana und auf die Tiere vor ihr.

Ja, eine andere Möglichkeit gäbe es tatsächlich: hier – und damit die andere Form des Diana-Mythos. Ist es deutlich, wie die Melodien – piano in Oboe, forte in Violino piccolo (Diana) – aufeinander verweisen, wie sie sich „spiegeln“, wie sie einander ins Auge fassen? Was für eine Schönheit, was für eine abgrundtiefe Trauer! Und im Takt 35 – ein dumpfer Schlag – ist alles vorbei, die V.piccolo hat sich schon seit Takt 30 unter die Tutti-Violinen gemischt, sie holt Atem, der Hirsch ist tot.

Natürlich kennt auch Lateinlehrer Bach seinen Ovid, sieht auch die entsprechenden Bilder an den Wänden der Jagdschlösser, ist in der Lage, völlig verschiedene (oder auch in der Struktur ähnliche!) Musiken dazu zu schreiben… Nicht Endymion schläft, Actaeon – als Hirsch – stirbt, und – allegro – WEITER GEHT DIE JAGD, Diana allen voran. Ausgesungen hat es sich, auf der Violino piccolo gebrochen Akkorde reden ein ruppige Sprache!

*    *    *

Man höre – „unbefangen“ – die Anfänge der folgenden Aufnahmen (es geht um die Musik, nicht um die Beurteilung der Interpretation, auch sehr kurze Ausschnitte, z.B. die ersten30 Sekunden):

Und was soll diese letzte Musik? Nein, es ist nicht dasselbe Thema … aber man könnte es verbessert haben, wenn man es zufällig nach 1717 aus Dresden vernommen hätte, wo Heinichen sein Hofamt angetreten hatte. …man? nur einer hätte es so tun können, wie wir es nun kennen.

Ja, wenn das stimmt, was ich oben von Goebel abgeschrieben: „Diese (…) überlieferte dreisätzige Werkgestalt ergänzte Bach für die brandenburgische Version bei der Niederschrift 1720/21 um einen zwischen Adagio und Menuet interpolierten Konzertsatz und…“), dann wäre es genau der dritte Bachsche Satz, der bisher fehlte, und er ist soviel besser als der Kopfsatz von Heinichen, schon in der Weiterkonstruktion des Themas, dass man nicht mehr von Imitat sprechen könnte, eher von einer dezenten Dresden-Kritik aus der Leipziger Werkstatt, nebst Verbeugung in Richtung Brandenburg…

Das Thema Dresden beschäftigt Goebel auf einigen Seiten seines Buches, zumal die Hochzeit König August des Starken im September 1719, die „sich als eines der großen Hoffeste des frühen 18. Jahrhunderts lange im kollektiven Bewusstsein als schlicht ‚unnachahmlich‘ hielt.“ Und man wisse, „dass vor allem die kurz gehaltenen Berliner Königskinder neidisch auf Dresden und seine joviale Festkultur waren“ (Goebel a.a.O.Seite 39). Warum – das ist dabei eine schwer zu lösende Frage – warum fügt Bach in seine abschließende Tanzfolge für den Brandenburger eine „Poloineße“ ein, seit Polens Eingemeindung das Markenzeichen der Dresdner Musikszene, – ist das nun ein Scherz, dieser etwas duckmäuserischer Satz mit einem plötzlich dreinfahrenden forte-Aufbegehren, wohlgemerkt ein Satz, zu dem die Violino piccolo (stellvertretend für des Fürsten Diana-Nähe) ausdrücklich zum Schweigen aufgefordert wird. Scherzhaft gemeint ist ganz sicher im höfischen Menuet das Jagdsignal der Hörner, das von Anfang bis Ende etwas ungebührlich präsent ist und sicherlich auch mal dynamisch witzig auftrumpfen darf. Das Trio II für die 2 Hörner und mit allen Oboen unisono ist von so hinreißender Wirkung, dass ich die Gruppe nicht selten erlebt habe, wie sie in der Körpergestik trabende Pferde suggerierten. Goebel verweist mit Recht darauf, dass das Menuet in seiner frühen Phase recht schnell genommen wurde, – die Tanzfolge bot hier gewiss keinen besinnlichen Ausklang, sondern auch allerhand Gelegenheit zu fürstlichem Entertainment, wenn nicht sogar vom Hörnerklang gestützte Späße.

Selbst wenn die großartigen Heinichen-Concerti heute hinter Bachs Brandenburgischen vollständig verblassen, lohnt es sich, sie gerade im Blick auf diese neu zu hören und mit Hilfe von Goebels Booklet zu erschließen, auch hinsichtlich der Atmosphäre der Zeit und – wie gehabt – der Festkultur, ob Jagd, Hochzeit, Universitätsfeier, prominenter Geburtstag. Wenn es um Bachs Musik geht, können wir nicht sagen: Ach, das Lob der Tugenden eines Professors namens Gottlieb Kortte ist mir gar zu bieder, hatte Bach denn kein größeres Thema?

Nein, er hatte auch nicht die Wahl in einer anderen Zeit zu leben, und wenn er einen Anlass sah, einen Chor umzubauen oder neu zu erfinden wie „Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten“, eine geniale Jagdmusik in einem neuen Zusammenhang wiederzuerwecken, dann dürfen wir ihm ewig dankbar sei, ihm und den Zeitumständen! Zurück zu Heinichen:

… die Concerti »per l’orchestra di Dresda« – man kann sie augenblicklich nur so bezeichnen, da jeder herkömmliche Gattungsbegriff unzutreffend ist -, die hier erstmals komplett vorgelegt werden.

Ein Großteil dieser Konzerte erklang hinter streng verschlossenen Türen (das unverkennbare Jagdkolorit deutet auf das bei Dresden gelegene Wasserschloß Moritzburg*) und verschwand nach Heinichens Tod hinter ebensolchen: Schon der äußerst mitteilsame Heinichen-Artikel in E. L. Gerbers »historisch-biographischem Lexikon« von 1790 erwähnt die Concerti mit keinem Wort.

Wie wir aus späterer Korrespondenz zwischen Telemann und Pisendel erahnen können,  betrachteten höfische Auftraggeber, besonders aber die sächsischen Kurfürsten, die kompositorischen Leistungen ihrer Dichter als Privatbesitz; das kompositorsche Vermächtnis eines Zelenka jedenfalls wurde wie ein Augapfel  und auch mit Argusaugen gehütet. Wurden solche »geschützten« Kompositionen unter der Hand zwischen Interessenten weitergereicht und verbreitet, so bemühte man sich zumindest, die Provenienz zu verschleiern: Entweder veränderte man den Satzbestand oder man fügte sogar gravierende, sinnentstellende Fehler ein, mit denen wir heute bisweilen unsere liebe Last haben.

Quelle ©Reinhard Goebel: Johann David Heinichen: Zwölf Concerti Grossi / Booklet Archiv Produktion

* Moritzburg: Es lohnt sich, diesen Wiki-Artikel zu studieren, z.b. betreffend der Sammlung Rothirschgeweihe im Speisesaal – oder anderswo:

Im Monströsensaal befinden sich 39 krankhaft veränderte Geweihe, darunter auch der berühmte 66-Ender, der 1696 von Friedrich III. Markgraf von Brandenburg erlegt worden war. Während die auf holzgeschnitzten Tierköpfen montierten Trophäen im Speise- und Steinsaal im Vordergrund stehen, ergänzen sie im Monströsensaal die hier vorherrschenden Ledertapeten mit deren Darstellungen aus der antiken Mythologie.

Vielleicht gehen Sie auch dem hier gegebenen Link nach und positionieren den Markgrafen auf unserem oben wiedergegebenen Stammbaum zwischen Großem Kurfürst und kleinstem Halbbruder. Ja, man kannte sich.

Jetzt fehlt mir noch, was Goebel Schönes über das „unnachahmliche“ Hochzeitsfest in Dresden im September 1719 in seinem Buch über  Bachs Brandenburgische Konzerte referiert:

Die musikalischen Beiträge zu diesem vierwöchigen Fest stammen aus der Feder von Johann David Heinichen, Johann Christoph Schmidt und Antonio Lotti und waren derart vielversprechend und spektakulär modern, dass Georg Friedrich Händel und Georg Philipp Telemann sich als lauschende Zaungäste bei den „Dresdner Herzensfreunden“ [so Telemann & Pisendel] einfanden, ja, vielleicht auch hier und dan selbst musizierend Hand anlegten [wichtige Anmerkung hierzu S.39].

So lange wie das ungefähre Dutzend der Concerti grossi „per l’orchestra di Dresda“ von Johann David Heinichen oder auch eine so meisterhafte Kreation wie Telemanns Suiten-Konzert F-Dur TWV 51: F 4 unbekannt und ungehört waren, so lange löste auch das dem ersten der Bach’schen Six Concerts angehängte Menuet-Rondo Befremdem, Ratlosigkeit und Erklärungs-Notstand aus.

Das typisch Dresdnerische mancher Concerti Heinichens ist – neben prominenter Verwendung der Zeichen setzenden Hörner und von Satz zu Satz wechselnden Solisten – ein nahtloses auslaufen des Concerto über angehängte Suiten – auch wieder mit buntester Kombination der vorhandenen Orchester-Instrumente –  in das höfische Fest.

Quelle Reinhard Goebel: Johann Sebastian Bachs „Brandenburgische Konzerte“ / Verlag Dohr Köln 2023 (Seite 39)

Musica Antiqua Köln unter der Leitung von Reinhard Goebel bei einer Aufnahme in Hamburg (etwa 1985). Produkt: J.S.Bach (Ouverture) Suite Nr. 4 D-Dur BWV 1069 [Goebel wendet sich gerade zurück, spricht mit dem Geiger schräg hinter ihm, und der bin ich.)

*     *     *

Zitat (zum Brandenburg I, bzw. „Vereinigte Zwietracht“:

Gewisse Redundanzen dieses Satzes lassen sich nur aus der Form der Devisen-Arie erklären: Im einer solchen wird die musikalische Motivik eines Arien-Textes im Ritornell emblematisch präfiguriert, beim Entritt der Stimme rückwirkend durch den Text erklärt, im Orchester dann (wortfrei – nun aber mit Kenntnis des Textes) erneut aufgegriffen und danach erst mit der Vertonung neuer Textteile weitergeführt. Die Devise ist in diesem Satz aber bereits drei Mal (bei einer reinen Instrumentalmusik damit das entscheidende Mal zu viel und überflüssig!) erklungen, bevor in Takt 24 endlich Bewegung in den Satz kommt.

Quelle Goebel a.a.O. Seite 37f

Aha, … „endlich Bewegung in den Satz kommt“, ich war eigentlich schon ganz zufrieden…

Eins fehlt also noch: ich möchte mir probeweise Goebels Hörweise aneignen, da wo sie in seinen Bemerkungen durchschimmert. Er hört im Brandenburgischen Concerto innerlich den Chor (oder das Sopran-Solo) mit, aus dem es rückübertragen worden ist. Er hört im Violino-Piccolo-Part also den verborgenen Text – und spürt so Unregelmäßigkeiten auf, die uns vielleicht entgehen, falls wir nicht kleinkrämerisch Takte nachzählen und vergleichen. Aber ein bisschen würde es schon stören, wenn man genauer hinhörte, statt sich davontragen zu lassen. Man muss also zumindest wissen, wo welche Textzeilen behandelt waren und wie oft sie wiederholt werden, bevor es weitergeht. Beginn in den Brandenburg-Noten Takt 17:

Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten,
Der rollenden Pauken durchdringender Knall!
Locket den lüsteren Hörer herbei,
Saget mit euren frohlockenden Tönen
Und doppelt vermehretem Schall
Denen mir emsig ergebenen Söhnen,
Was hier der Lohn der Tugend sei.

Aber kann es wirklich etwas bedeuten, ob eine Wiederholung mehr oder nicht durch den Text motiviert ist oder nicht?  welcher in jedem Fall unzählige Male dasselbe sagt? Ein mir noch ungelöstes Rätsel.

Und seither grübele ich (unten), was Goebel (s.o.) gemeint hat (Stichwort Devisen-Arie). Für mich geschieht im Brandenburg I Satz 3 am Anfang folgendes:

Takt 1-4 Aufsteigendes Thema in öffnende Geste hineinlaufend 0:07

Takt 5-7 Absteigende Antwort / Takt 8-11 Abwartende Haltung 0:20

Takt 12-16+ Zusammenfassende und abschließende Geste 0:29

Takt 16-20 Solo V. Piccolo Schein-Wiederholung mit anders öffnender Geste 0:36

Takt 21-24 Tutti wie zu Anfang (auch öffnende Geste), aber pianissimo! 0:43

Takt 25-30 Absteig. Antwort mit massiver V.P., modulierender Halbschluss 0:54

Takt 31-34 V.P. weiter aufsteigend, die Modulation festigend 1:02

Takt 35-38 Tutti Thema C-dur mit Halbschluss 1:09

TAKT 38-40 V.P. Soloabschluss C-dur (im Chor der Kantate steht hier der letzte „durchdringend[e] Knall“. )* 1:13

Wenn Sie diesen Abschnitt hören wollen (orchestral), dann bewusst oben ab Anfang bis genau 1:13, nur bis da, – obwohl es ja unmittelbar weitergeht; in der Chorkantate folgt nach diesem angehängten Zwischenspiel die Strophe „Locket den lüsteren Hörer“.

Aber da ist nichts, was musikalisch zuviel ist und nach einer Erklärung durch die Devisen-Arie ruft, – tut mir leid.

*diese beiden Takte der Solo-V.P. (bzw. des Chores) sind Zusatz, denn „eigentlich“ würde auf Takt 38 direkt Takt 41ff folgen: analog „Takt 5-7 Absteigende Antwort / Takt 8-11 Abwartende Haltung“ sowie „Takt 12-16+ Zusammenfassende und abschließende Geste“ / so dass wir erst Ende Takt 52 ans überzeugende Ende des ersten Hauptteils gelangt sind. [Zeitpunkt:1:35] Etwas ganz Neues beginnt… das sonderbare Kurzgespräch des Violino Piccolo mit der Oboe (im Chor: „Locket den lüsteren Hörer herbei“), Zwischenkadenz A-moll Takt 63. [1:55]

Und der Zusatz: nach dem Muster „Takt 8-11 Abwartende Haltung“ sowie „Takt 12-16+ Zusammenfassende und abschließende Geste“, denn es soll wieder – etwas ganz Neues beginnen… [2:07] nämlich ab Takt 70 das nächste sonderbare Kurzgespräch des Violino Piccolo mit den Gefährten der 1. Geige und: die Große Adagio-Kadenz! Beruhigung. Da-capo ist willkommen. [2:41]

Ich würde sagen: dieses zweimal erwähnte ganz Neue bezeichnet man in der Rhetorik als „Perturbatio“ (s.a. hier)

*     *     *

Erster Versuch zur Textverteilung des Satzes in „Vergnügte Zwietracht“

RITORNELL

T.17 Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

T.21 Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

Der rollenden Pauken durchdringender Knall! / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

T.41 RITORNELL

T.53 Locket den lüsteren Hörer herbei, / Saget mit euren frohlockenden Tönen /

Und doppelt vermehretem Schall / Denen mir emsig ergebenen Söhnen /

Was hier der Lohn der Tugend sei / Was hier der Lohn der Tugend sei / Was hier der Lohn der Tugend sei. T.66

T.67 RITORNELL

T.73 Locket den lüsteren Hörer herbei, / Locket den lüsteren Hörer herbei, /

Saget mit euren frohlockenden Tönen / Und doppelt vermehretem Schall / Denen mir emsig ergebenen Söhnen / Was hier der Lohn der Tugend sei / Was hier der Lohn der Tugend sei / Was hier der Lohn der Tugend sei.  / T. 88-89 ADAGIO (→folgt DACAPO)

T.90 Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten / Der rollenden Pauken durchdringender Knall!

T.115 RITORNELL

hier Noten dazu (Petrucci)

Neuer Versuch, die beiden Sätze nebeneinander zu sehen (Synopse): beide in externen Fenstern zum Abhören bereitstellen

n : Neues Material

HIER 1 Brandenburgisches I, 3

(0:00) bis 0:29/1:13 — 1:35 n1:48/1:55 n2:07/2:29 -Adagio- 2:41 (Dacapo) — 4:00 Ende

HIER 2 Vereinigte Zwietracht

(3:07) bis 3:22 — 4:01/4:21 n4:44/4:55 n5:16/5:21 -Adagio- 5:35 (Dacapo) — 6:45 Ende

Damit sind die erwähnten unterschiedlichen (Takt-)Längen noch nicht geklärt. Es muss also an dieser Stelle etwas präzisiert werden.

Ich betrachte jedoch im Prinzip die analytische Arbeit, die ich mir vorgenommen hatte, als erledigt. Jede/r andere hätte mit einer gewissen Hartnäckigkeit, die zum Frühling gehört, darauf kommen können. Dank an Reinhard Goebel, der mich mit seinem Buch auf gewisse Formprobleme aufmerksam gemacht hat! Der Tag passt auch: Ostermontag, 10. April 2023 / 21.30 Uhr / Bad Lippspringe / Cecilien-Klinik / JR

 

 

Grabstein als Last

Als mein Vater am 31. August 1959 gestorben war, ging es zunächst gar nicht um den Grabstein. Niemand hatte es damit eilig. Fest stand aber schon, dass darauf Platz sein sollte für den Namen und die Daten unserer Mutter. Niemand ahnte – am wenigstens sie selbst – dass sie noch fast ein halbes Jahrhundert vor sich hatte.

Schon zu Weihnachten präsentierte ihr ein seit alters befreundeter Künstler als Geschenk einen Grabsteinentwurf, der in der engeren Familie auf einhellige Ablehnung stieß. Erstens: dieses harfenähnliche Instrument, vielleicht in Erinnerung an ein weihnachtliches Schulkonzert meines Vaters, das er selbst zu unser aller Befremden betitelt hatte: „Zwingt die Saiten in Kythera“, – oder Cythara? niemand kannte den Choral oder die Bach-Kantate BWV 36, in der er vorkommt. Was soll das Wort „zwingt“? Und das andere: hieß es vielleicht korrekt Kythara? Natürlich, siehe hier. Eine altgriechische Zither oder Leier? Aber mein Vater sah sich doch lebenslang am Flügel, nicht einmal eine Gitarre rührte er an, die unter Schülern plötzlich hoch im Kurs stand. Für sie hatte er sogar Gershwin geübt. Aber – was ist das: feixte dieser Grabstein nicht ungehörig?

Der Entwurf hatte keine Chance. So peinlich er uns war, wie sollte man es begründen? Der eigentliche Grund lag tiefer, aber niemand kam drauf. Nicht das Altgriechisch-Zopfig-Musische störte, sondern das Soldatische, das meinem Vater immer unsympathisch gewesen war. Ein Heldengrab? Es ist dem alten vaterländischen Orden nachempfunden. Eine Art Eisernes Kreuz für musikalische Verdienste posthum? Am Ende der fünfziger Jahre?

Und heute, nach weiteren 60 Jahren fällt es mir auf, was genau uns damals widerstrebte:

Quelle Wiki hier

In meiner Sammlung familiärer Erinnerungsstücke befindet sich auch das folgende Verdienstkreuz (für Onkel Ernst, den Bruder unsrer Mutter, der seit 1943 dann im Osten „vermisst“ war).

Was für ein Formenspiel, was hat das alles zu bedeuten? Ich lese hier. Im folgenden Zitat geht es um die Ordensstiftung im Jahr 1813 (alles weitere siehe im Link):

Auch die Form des neuen Ehrenzeichens war symbolisch aufgeladen. Bewusst wurde die Anlehnung an das Balkenkreuz des Deutschen Ordens gesucht: ein schwarzes Tatzenkreuz mit sich verbreiternden Balkenenden auf einem weißen Mantel, wie ihn die Deutschritter schon seit dem 14. Jahrhundert tragen. Damit sollte der nun beginnende Krieg in die Tradition der Kreuzzüge gerückt und so sakralisiert werden. Im Mittelpunkt der Symbolwelt um das Eiserne Kreuz stand die Ehefrau Friedrich Wilhelms III., Königin Luise. Seit ihrem Tod 1810 hatte sich um sie ein Mythos als vorbildliche Gattin, liebende Mutter, preußische Madonna und Märtyrerin gesponnen, an den der König mit dem Eisernen Kreuz anknüpfte.

All dies hat mit meinem Vater nichts zu tun. Die 50er Jahre waren auch für uns mit seinem Lebensende vorbei… Sein Grabstein sollte abgerundet sein. Ich fuhr im April 1960 nach Berlin, um dort zu studieren, wo auch er studiert hatte. Wichtiger war allerdings: Ich wollte so weit wie nur möglich fort von zu Hause.

Die ernste Geschichte der Figura

Im Mittelpunkt: Flaubert

FIGURA: Seit Tagen verfolgt mich aufs Neue dieser Begriff, ich überlege, lese hier, lese dort, auch im eigenen Blog, aber wenn ich es nicht auf meine der Gegenwart angepasste Art notiere und repetiere, wird alles, was ich daraus gelernt habe, wieder verschwinden. In alle Winde zerstreut. Wie schon früher einmal. Hätte ich etwa unter dem Namen Stendhal (Kap. XVIII) nachgeschaut? Also los. Zunächst: Nichts als dies Stückchen Text. Mögliche Überschrift: „Die einsame Frau“. Und sucht man Aufklärung über den beiläufig erwähnten französischen Ort „Tostes“, so findet man hier etwas, – aber nötig ist das nicht.

Am Nachmittag erschien zuweilen vor den Fenstern des Eßzimmers ein sonnengebräunter Männerkopf mit einem schwarzen Schnurrbarte und einem trägen Lächeln um den Mund, in dem die Zähne leuchteten. Alsbald begann eine Walzermelodie aus einem Leierkasten, auf dessen Deckel ein kleiner Ballsaal aufgebaut war mit daumenhohen Figuren darin: Frauen in roten Kopftüchern, Tiroler in Lodenjacken, Affen in schwarzen Röcken, Herren in Kniehosen; alle tanzten sie zwischen den Sofas und Lehnstühlen und Tischen, wobei sie sich in Spiegelstücken vervielfältigten, die mit Goldpapier aneinandergereiht waren. Der Leierkastenmann drehte die Kurbel und spähte dabei nach rechts und links nach allen Fenstern. Hin und wieder spie er einen langen Strahl tabakbraunen Speichels gegen die Prellsteine oder stieß mit dem Knie seinen Kasten in die Höhe, dessen Gurt ihm die Schultern drückte. In einem fort, bald schwermütig und schleppend, bald flott und lustig, dudelte die Musik hinter dem roten Taftbezug, der unter einer schnörkelhaft ausgestanzten Messingleiste an den Leierkasten angenagelt war. Es waren Melodien, die gerade Mode waren und die man überall hörte, in den Theatern, Salons und Tanzsälen, Klänge aus der fernen Welt, die auf diese Weise die einsame Frau erreichten. Diese Klänge im Dreivierteltakt wollten dann nicht wieder aus ihrem Kopfe weichen. Wie die Bajadere über den Blumen ihres Teppichs, tanzten ihre Gedanken im Rhythmus dieser Melodien und wiegten sich von Traum zu Traum und von Trübsal zu Trübsal. Wenn der Mann die milden Gaben in seiner Mütze gesammelt hatte, umhüllte er seinen Kasten mit einem blauwollnen Uberzug, nahm ihn auf den Rücken und verließ das Dorf schweren Schrittes. Emma schaute ihm lange nach.

Am unerträglichsten waren ihr die Mahlzeiten im Eßzimmer unten im Erdgeschoß. Der Ofen rauchte, die Türe knarrte, die Wände waren feucht und der Fußboden kalt. Die ganze Bitternis ihres Daseins schien ihr da auf ihrem Teller zu liegen, und aus dem Dampf des ausgekochten Rindfleisches wehte ihr gleichsam der Brodem ihres ihr so widerwärtig gewordenen Lebens entgegen. Karl aß und aß, während sie ein paar Nüsse knackte oder, auf die Ellenbogen gestützt, sich damit vergnügte, mit der Messerspitze allerlei Linien in das Wachstuch zu kritzeln.

In der Wirtschaft ließ sie jetzt alles gehen, wie es ging. Ihre Schwiegermutter, die einen Teil der Fastenzeit zu Besuch nach Tostes kam, war ob dieses Wandels arg verdutzt. Emma, die erst in ihrem Äußeren so akkurat und adrett gewesen war, lief nunmehr tagelang in ihrem Morgenkleide umher, trug graue baumwollne Strümpfe und fing an zu knausern und zu geizen. Sie meinte, man müsse sich einschränken, da sie nicht reich seien, fügte aber hinzu, sie sei höchst zufrieden und überaus glücklich, und in Tostes gefalle es ihr über alle Maßen. Mit solch wunderlichen Reden beschwichtigte sie die alte Frau Bovary. Im übrigen zeigte sie sich für die guten Lehren der Schwiegermutter nicht empfänglicher denn früher. Als diese gelegentlich die Bemerkung machte, die Herrschaft sei für die Gottesfurcht der Dienstboten verantwortlich, ward Emmas Antwort von einem so zornigen Blick und einem so eiskalten Lächeln begleitet, daß die gute Frau ihr nicht wieder zu nahe kam.

Die Übersetzung – so steht es am Ende dieser Ausgabe im Projekt Gutenberg – stammt von Arthur Schurig. Ich lasse es dabei bewenden. „Frau Bovary“ (sic!) von Gustave Flaubert.

Und hier der Sekundär-Text, der mich immer wieder in Bewegung setzt, man schaue noch einmal auf den Mittelteil der oben wiedergegebenen deutschen Übersetzung: er entspricht dem französischen Zitat, das jetzt in der fünften Zeile zu lesen ist: Am unerträglichsten waren ihr die Mahlzeiten im Eßzimmer unten im Erdgeschoß… 

Quelle Erich Auerbach: MIMESIS Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur / Vierte Auflage Francke Verlag Bern und München 1946 (4.1967)

Dies Werk besaß ich seit April 1969, ohne es in allen Kapiteln durchzuarbeiten, aber wohl ahnend, welche Bedeutung es haben könnte. Angesichts der vielen Anregungen von außen, versäumte ich die Welt in wesentlichen Zügen. Schon 1962 hatte ich – dank Hugo Friedrichs „Struktur der modernen Lyrik“ – Flauberts „Trois Contes“ bzw. „Drei Erzählungen“ gelesen, mich aber dummerweise über die zweite („Saint Julien L’Hospitalier“) so geärgert, dass ich ihren Wert nicht erkennen konnte. Die dritte aber las ich nur noch, weil ich sie auf „Salome“ bezog, die Strauss-Oper, die ich bis zur Besinnungslosigkeit hörte (LP Gesamtaufnahme mit Nilsson & Solti bei einem Bielefelder Freund). Ich hätte mir die abschreckende, übertriebene Heiligengeschichte als einen magischen Film vorstellen müssen, etwa wie Jean Cocteaus „Orphée“, den ich in Berlin -zigmal gesehen hatte (auch die Fortsetzung).

Damals hat mich „Jesus Christus“ geschockt, – der Freigeist Flaubert vorm Kreuz eingeknickt? – heute habe ich mich sofort an Wikipedia gehalten, um den Wahrheitsgehalt des letzten Satzes zu eruieren, der mir damals aus der Luft gegriffen schien. (Ich hätte auch das lehrreiche Nachwort von Walter Boehlich wirklich lesen sollen, so wäre ich klüger geworden. Es ist nie zu spät:)

Der zweisprachige Flaubert-Band war damals als Nr. 44  in der Reihe Die Fischer-Bibliothek der hundert Bücher erschienen, heute nur noch antiquarisch aufzufinden. Grund genug für mich, 2017 die neue deutsche Ausgabe im Hanser-Verlag zu erwerben, neue Übersetzung von Elisabeth Edl, die auch ein lesenswertes Nachwort beiträgt; wunderbar der Anhang mit den Briefen des Autors aus der Entstehungszeit der Drei Geschichten sowie (Vorsicht!) aus seiner Reise in den Orient.

Den Covertext zu lesen, ist nicht ersprießlicher als eine Schein-Kritik zweier Berliner Aufführungen der „Neunten“ (Barenboim, Jurowski). Wir haben Thielemann erlebt (Semper-Oper) und uns geprüft. Zur Gänze. Der Kritiker aber ließ durchschimmern, man könne sich vorstellen, wie Beethovens Sinfonie nach dem langsamen Satz abbräche, gleich der „Unvollendeten“ von Schubert. Mein Gott, warum denn nicht, wenn einem zu lang wird. Auch von dem gendergerechten Prolog sprach er, „Schwestern, überm Sternenzelt“? Und er fände es besser ohne… Wie recht er hat. Salome, die tanzt, bis sie Johannes‘ des Täufers Kopf bekommt – fünf Jahre nach ihrer gefeierten Neuübersetzung der Madame Bovary / usw. usw. – ja, gerade höchstes Lob kann verletzen. Ich bin kein Maßstab, ich habe 60 Jahre gebraucht, ehe ich es neu lesen kann.

*    *    *

Doch zurück zum Auerbach-Titel: handelt es sich bei den Flaubert-Texten um „dargestellte Wirklichkeit“ ? Es ist doch bloße Fiktion? Eine dumme Frage, die man aber doch für sich selbst einmal klären muss. Auch fiktive Wirklichkeit wird nicht anders dargestellt als reale Wirklichkeit. Mit denselben Mitteln, wie denn sonst?!

(Fortsetzung folgt)

Urtext mit geheimen Zeichen?

Wie der Praktiker zur wissenschaftlichen Arbeit kommt

Für angehende Musiker[innen] gehört es schon früh zu den selbstverständlichen Fragen, ob die in den Noten – als Achtel, Viertel oder wie auch immer – scheinbar eindeutig dargestellten Töne kurz oder lang, markiert oder leichtfüßig wiederzugeben sind. Alles, was nicht ausdrücklich in den Noten steht – und das ist viel -, kann zu einem Problem werden. Viele Details, die den Vortrag betreffen, werden im lebendigen Unterricht vermittelt, manches, was um 1800 selbstverständlich war, gerät in einer anderen Epoche in Vergessenheit. Es muss gesagt und vorgemacht werden, es kommt nicht von selbst. Auch neue, groteske Missdeutungen werden regelrecht eingeübt. Ich nenne nur ein Beispiel: im Laufe des 19. Jahrhundert wurde es selbstverständlich, dass ein guter Musiker über den Taktstrich hinwegdenkt, dass er eine Melodielinie partout über mehrere Takte hinwegspannt. Dies nicht zu tun, war geradezu ein Zeichen für unmusikalisches Verhalten. In meiner Lernzeit (50er Jahre) gab es dementsprechend die geigerische Manie, den Schluss eines Taktes immer zu crescendieren und in die Eins des nächsten Taktes hinüberzuziehen. Ein Markenzeichen dieser nicht abbrechenden Intensität war auch das Dauervibrato, das man zur Schau trug, als dürfe es keine entspannteren Phasen geben.

Insofern musste erst wieder gelernt werden, dass vieles z.B. in der Barockmusik ganz anders zu handhaben ist; dass es einen rastlos wandernden Bass gab, dass andererseits die Tanzmusik bestimmte Betonungen – auch taktweise – vorgab und die Musik trotzdem nicht langweilig wird, sondern gerade dadurch erst ihren hinreißenden Drive bekommt.

Heute wundert sich kein musikalischer Mensch mehr, dass über solche Fragen der Artikulation, Betonung und Phrasierung endlos gestritten werden kann. Dass es – auch nach jahrzehntelanger bewährter Orchesterpraxis – niemals überflüssig wird, nachzufragen, wie genialische Menschen denn wohl selbst ihre Werke einem Publikum dargeboten oder mit Schülern ausgearbeitet haben. Und was sie dabei in die Noten eintrugen, um ja nicht missverstanden zu werden. Jeder Hinweis wäre nützlich. Ich erinnere nur an den Vortrag der Mazurken von Chopin: wie nah oder wie fern stehen sie noch der Praxis der polnischen Volksmusik? – oder dem, was der Komponist selbst als „Nationalcharakter“ empfand, aber schon als hauptstädtische Modifikation betrachtet werden könnte (siehe hier).

Ich hatte mich in den 60er Jahren relativ früh mit „Aufführungspraxis“ beschäftigt, dank meinem Lehrer Franzjosef Maier, erst recht seit er uns im Kurs für Alte Musik Köln Georg Muffats Vorrede zum „Florilegium secundum“ studieren ließ (die wohl auch für ihn neu war) und wie man mit solchem Rüstzeug nicht nur „Terpsichore“ von Praetorius adäquat erarbeiten konnte, sondern entsprechend auch die genuin französische Musik: Suiten von Lully, Rameau oder Campra. Damals eine neue Welt! (Maiers Name fehlt übrigens in den Annalen der Stadt Köln, siehe hier ab Seite 6, Dr. Alfred Krings war die treibende Kraft.)

Die praktizierenden Musiker begannen erfolgreich ins Gehege der Musikwissenschaft einzudringen und machten ungeahnte klangliche Entdeckungen. August Wenzinger, Fritz Neumeyer, Gustav Leonhardt, Nikolaus Harnoncourt und viele andere. Concentus musicus Wien, Cappella Coloniensis, Collegium Aureum, La Petite Bande. Am Anfang ahnte niemand, dass eine musikalische Revolution bevorstand. Für mich war es eine Offenbarung, als ich im Musikhaus Tonger zufällig diese Abhandlung entdeckt hatte und all die Zeichen zu hinterfragen begann, die mir eigentlich aus der Violinschule von Leopold Mozart schon seit den 50er Jahren (Musikbücherei Bielefeld) vertraut sein mussten. Aber der Fall liegt so: man kennt es in der Schriftlichkeit, als archaisches Faktum, aber man realisiert es nicht, die Bedeutung erreicht uns erst auf einer ganz anderen Ebene.

Bielefeld 50er Jahre

Neu war in den 60er Jahren, dass die Zeichen uns auf den Leib rückten, wir schafften uns auch das Material an, die Bögen, um die gemeinten Stricharten auch „taktil“ zu erleben. Wir versuchten es zumindest. Wie geht ein Springbogen, ein Spiccato, mit solchen Bögen?

Entwicklung des Bogens (nach David D. Boyden 1971)

Soviel – so knapp wie möglich – zu meiner Vorgeschichte des (Kennen-)Lernprozesses der „Aufführungspraxis“ oder der „historisch informierten Spielweise Alter Musik“ oder wie auch immer Sie es nennen wollen, wobei die Spannweite der Impulse, die von der „Alten Musik“ ausgingen, sich kontinuierlich über Klassik, Romantik in Richtung Moderne erweiterte, wo wir mit Leibowitz, Kolisch, Adorno zugleich wieder bei Beethoven gelandet sind… Man lese nur Thomas Seedorf über die Erweiterung des Repertoires hier. Ein Zwischenstopp bei Ravel, dessen Bolero hier nicht als Beitrag zur Geschichte der Aufführungspraxis gedacht ist: eine Melodie-, Harmonie-, Monotonie- und Instrumentationslehre ohnegleichen…

Ist es ein Wunder, dass auch heute noch ein Buch mit neuen Erkenntnissen zu Beethovens Aufführungspraxis uns in Aufregung versetzen kann? Nein, es ist kein Wunder, zumal es von diesem Dirigenten stammt, einem Mann der Praxis: Uroš Lajovic, aus der Schule der Praktiker Bruno Maderna und Hans Swarowsky. Und mit besonderer Sympathie habe ich unter dem beflügelnden Vorwort des Buches den Namen eines ehemaligen WDR-Kollegen gelesen, – mit dem entsprechenden berufsbezogenen Zusatz: Michael Schwalb, Cellist und Musikjournalist.

(Fortsetzung folgt)

Beethoven-Link betr. Punkt und Keil hier , siehe Schwalb Seite 10

(Fortsetzung oder Ergänzung folgt)

Slavoj Žižek

Ein unorthodoxer Denker zur Lage unserer Welt

Es ist mir entfallen, warum ich dieses Buch damals nicht verschlungen habe, ich glaube, ich hatte es wegen „Così fan tutte“ gekauft, nie gehörte oder gelesene Gedanken, die ich gerade brauchte, weil ich immer wieder von der Mozart-Oper besessen war. Auch heute fesselt es mich sofort, – aber 80% des Buches, das ich seit 1. März 2007 besitze, sehen absolut ungelesen aus. Während spezielle Themen offenbar um so nachhaltiger wirkten (siehe hier). Heute z.B. erinnerte ich mich, weil ein Freund sich gerade für Sibelius zu interessieren beginnt, und schon droht uns Adornos uraltes Verdikt den Weg zu versperren, – da könnte vielleicht doch gerade der musikliebende linke Philosoph aus Slowenien zu einem probaten Gegengift verhelfen…

Doch es gibt noch mehr Gründe, sein Werk hervorzukramen und zu Rate zu ziehen. Er ist kein Denker von der ganz peniblen Art, er ist impulsiv, man glaubt ihm beim Vorgang des Denkens zuzusehen, und schon ist man persönlich eingebunden: wie sagt man doch? man ist involviert… und ich studiere – zumal als Musiker – aufs neue intensiv seine Themenliste von damals.

Nun traf alldies zusammen mit einem Werbeheft der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, und das Verhängnis nahm seinen Lauf: ich begann mir allerhand zu notieren, weils womöglich der Wahrheitsfindung dient. Ganz sicher war ich mir nicht, aber als erst ein Anfang gemacht war, musste ich immer weiterschreiben. Mich interessiert, wie eine linke Position heute argumentiert (nach Putins Wahnsinn).

Folgender Text ist – als eilige Abschrift – noch nicht gründlich Korrektur gelesen.

(Moderation: Die Philosophin Dr. Rebekka Reinhard, stellvertretende Chefredakteurin »Hohe Luft«)

Slavoj Žižek :

(auf deutsch beginnend) Es ist eine grroße Ähre für mich, hier zu sein. Leider muss ich jetzt ins Englische wechseln (wir folgen dem Übersetzer), – ich glaube, die Frage ist die alte Leninsche Frage: „Was tun?“ Eigentlich wissen wir, was zu tun ist, die Medien sagen es uns, – Globalisierung, Kooperation usw. – das Problem ist unsere Apathie. Wir wissen, was zu tun ist, aber wir tun es nicht. Ich bin froh, darüber mit Ihnen zu sprechen, denn Deutschland ist immer noch das Land des Denkens. Ich denke , und das ist meine erste Provokation für heute: Wir haben es vielleicht mit der elften umgekehrten These von Karl Marx zu tun: die Philosophen haben die Welt nur interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Vielleicht haben wir im 20. Jahrhundert versucht, die Welt zu schnell, zu stark zu verändern, ohne sie wirklich zu verstehen. Heute müssen wir vielleicht einen Schritt zurücktreten und nachdenken. Wir brauchen eine neue Interpretation, und das sage ich als radikaler Linker.

(Mod. Sie haben von Apathie gesprochen, seit Beginn der Pandemie, erst recht seit Beginn des Krieges in der Ukraine, frage ich mich mehr und mehr, wie real die Realität noch ist, bis hin zu dem Punkt, dass ich mich frage: bin ich eigentlich wach, wenn ich mich frage, ob ich wach bin, oder wenn ich mich frage, ob ich träume. Was ist realer: die Träume, die ich nachts habe, oder die Realität, in der ich jeden Tag neu und wieder anders erwache? Wie geht es Ihnen?)

Das ist eine sehr interessante Frage. Ich gehe nicht im Detail auf Freuds Interpretation ein, aber vielleicht ist es der ultimative Freudsche Traum, wenn ein Sohn zu seinem Vater kommt und sagt: Vater, siehst du nicht, dass ich verbrenne, und dann wacht der Vater auf. Wissen Sie: oft sind unsere Träume – und hier rede ich nicht von leeren Träumen, sondern von Träumen über das, was uns erwartet, so schrecklich, dass wir sogar bereit sind, in der Realität zu erwachen, um schlafen zu können. Denn die Realität scheint auf den ersten Blick noch normal: Okay, Krieg in der Ukraine usw., aber schau mal, die Blumen, da gehen Menschen, so schlimm ist es doch nicht, also ja, wir können auch in die Realität flüchten. Heute scheint mir, der ich mich als atheistischer Christ definiere, ein Bezug auf das Thema der Apokalypse sehr passend. Wissen Sie: die Offenbarung des Johannes am Ende des Neuen Testaments, die vier Reiter der Apokalypse, sind wir da nicht schon? Es gibt die Interpretation, dass der erste Reiter die Pest ist, den haben wir: die Pandemie. Der zweite Reiter ist der Krieg, den bekommen wir jetzt. Dann der Hunger, der wird kommen, wir kennen die Konsequenzen des Krieges und in der Ukraine, nicht nur globaler Krieg, es wird deswegen in der Ukraine und in Russland nicht genug Weizen, Dünger usw. geben.

Und, was mich besonders schockiert hat, als Philosoph versuche ich darüber nachzudenken, dieser Schock hat nicht, wie man erwarten könnte, gute Folgen, in dem Sinne, o.k. es ist ein Trauma, aber es weckt uns auf, es ermöglicht uns, Probleme zu vergessen. Erstens die Zeitlichkeit dieser Krise, erinnern Sie sich noch an den Beginn der Pandemie? Die üblichen Zeiteinheiten der Behördem und der Wissenschaft waren damals zwei Wochen. Hab noch 2 Wochen Geduld, dann wird das besser. Dann waren es zwei Monate, dann hieß es vor einem Jahr: nächstes Jahr, und jetzt weiß keiner mehr Bescheid. 6:10

Und noch etwas: ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist, aber in meinem Land erinnern sich viele meiner Freunde fast nostalgisch an die Pandemie. Die Regeln waren klar, man hat ein bisschen gelitten, aber man hatte genug Zeit, alles war irgendwie unter Kontrolle. Und jetzt ist alles viel schlimmer. Und dabei sind wir wohl bei weitem noch nicht am Tiefpunkt angelangt.

Ein dritter Punkt ist extrem wichtig: was sind die negativen Folgen dieser Krise? Ich weiß wieder nicht, wie es in Deutschland ist, aber hier in Slowenien – und ich habe überall das gleiche gehört – feiern die Neokonservativen diesen Krieg. Und warum? Weil sie ihn so interpretieren: in den letzten Jahren haben wir in einer Ära der künstlichen Probleme gelebt. Feminismus zum Beispiel. Mal ernsthaft: die Lage ist doch gar nicht so schlimm für die Frauen. Oder Rassismus, das ist eine Randerscheinung. Politische Korrektheit: das ist doch lächerlich. JETZT sind wir wieder bei den harten Tatsachen angekommen. Auch die Geswchlechterrollen sind klar festgelegt. Das ist ein Lieblingsthema der heutigen Konservativen. Ukrainische Frauen fliehen ins Ausland und kümmern sich um die Kinder, das ist ihre eigentliche Arbeit, während die Männer in der Ukraine bleiben, um zu kämpfen. Sehen Sie, das ist die eigentliche Tragödie dieses Krieges,- er mag eine globale Katastrophe sein, aber dieser Krieg ist kein Moment der Wahrheit. It’s not a moment of truth! Er ist ein Moment, der uns brutal von den wirklichen Problemen ablenkt. Nicht, dass er selbst kein echtes Problem wäre, abewr erlenkt uns von großen Problemen ab, wahren Katastrophen, die uns erwarten.

Also ja, ich bin ein Pessimist.

(Damit sind wir schon genau bei dem Titel Ihres neuen Buches: Unordnung im Himmel. Es ist ein Buch buchstäblich über alles. Sie schreiben kleine, scharfe kurze Beobachtungen über die aktuelle Weltlage, es ist eine Kaleidoskop Sie beleuchten Was meinen Sie damit?)

Etwas sehr Einfaches! 10:00 Für Mao ist der Himmel noch in Ordnung, er will einen allgemeinen Überblick geben, wohin die Geschichte geht. Und Unordnung unter dem Himmel bedeutet hier nicht einfach Chaos. Wir Kommunisten, die wir wissen, wohin sich die Geschichte bewegt, können das Chaos ausnutzen, um unsere Ziele zu verfolgen. Heute glaube ich nicht, dass wir Linken immer noch den Anspruch haben können, einen globalen Blick zu haben. Die Karten sind so seltsam gemischt, dass Gescgehnisse, die einst typisch für die Linke waren, nun von der Rechten vereinnahmt werden. Nur ein Satz, ein bekanntes Beispiel, wir erinnern uns leider alle an den 6. Januar 2021, als die von Trump aufgehetzte Meute das Capitol stürmte, und wissen Sie was? Viele meiner linksgerichteten Freunde waren fasziniert und weinten, sie sagten: Wir hätten das machen sollen, die Linken wo waren wir? Selbst dieser ultimative, radikal linke Traum vom Volksaufstand wird nun von der radikalen Rechten vereinnahmt.

Der nächste Punkt ist diese Orientierungslosigkeit. Ich nutze gern diesen Begriff des kognitiven Mapping meines guten Freundes Fredric Jameson

es geht darum, einen allgemeinen Überblick über die Situation zu bekommen. Wie sind vollkommen desorientiert! Eine grundsätzliche Frage. Was ist China heute? Ist es noch kommunistisch? Oder eine neue Art von postautoritärer, neokkapitalistischer Gesellschaft? Undsoweiter. Oder wie ist es mit unseren eigenen Gesellschaften? Ich bin nicht ganz einverstanden mit manchen meiner Freunde, Yanis Varoufakis zum Beispiel behauptet, dass der Kapitalismus bereits in etwas anderes übergeht. Manche nennen das Technofeudalismus. Ich habe daran meine Zweifel. Aber Figuren wie Bill Gates, Elon Musk oder Jeff Bezos sind tatsächlich keine Kapitalisten alten Stils, die die Arbeiter ausbeuten. Sie sind eher Feudalherren über ein bestimmtes Gebiet, die Pacht kassieren.Ich weiß nicht, wem Zoom (?) gehört, aber wir sind wahrscheinlich irgendwie über Microsoft verbunden, also bekommt er Gebühren dafür. Es passiert soviel Neues, und wir haben nicht einmal eine grobe Orientierung. Wenn ich also kurz auf das von Ihnen eingangs Gesagte eingehen darf: Ich stimme Ihnen zu, dass man den Hintergrund, die Komplexität der Situation sehen muss, aber meinen Sie nicht auch, dass diese Komplexität oft nur eine Ausrede ist, um das Offensichtliche zu verleugnen? Z.B. haben einige meiner Freunde, nicht nur die rechtsgerichteten, sondern auch linksradikale, immer noch diese uneindeutige Haltung Putin gegenüber. Sie sagen okay okay, aber trotzdem ist er ein Stachel im Fleisch des amerikanischen Imperialismus, und der ist immer noch unser Hauptfeind. Also spricht auch manches für Putin. Deshalb sagen sie gerne, die Situation ist komplexer. Meine Antwort: ja natürlich. Aber das sollte uns nicht blind machen für die offensichtliche Tatsache, dass ein großer Staat einen anderen Staat brutal angegriffen hat. Diese grundlegende Tatsache darf man nicht weginterpretieren. 14:52

(Die Unordnung ist total, der Wunsch nach einer neuen Ordnung ist natürlich auch sehr dringlich ….Und die Medien )

16:08 Um Missverständnissen vorzubeugen, ich stehe trotz aller Komplexität ganz auf der Seite der Ukraine. In dem Sinne, dass ich voll und ganz für die ukrainische Verteidigung bin.Im übrigen gibt es soviel Absurdes in der russischen Argumentation. Ich bin nicht so drauf, dass ich sage: hören Sie sich die andere Seite an, Entschuldigung, aber zufällig verstehe ich russisch. Ich höre die ganze Zeit zu, ich folge ihren Podcasts usw. also bin ich durchaus informiert. Ist Ihnen das auch aufgefallen: laut russischer Propaganda ist die Ukraine ein Land von Neonazis. Es gibt da einen Typen, der ist der Horror in Person. Nicht Dugin, Putins offizieller Philosoph, sondern – merken Sie sich diesen Namen Timofei Sergeitsev, der schrieb in einem offiziellen Kommentar, der in einigen russischen Bulletins veröffentlicht wurde: dass der ukrainische Nazismus ungleich gefährlicher sei als der von Hitler. Das ist die wichtigste Botschaft: dass Russland uns alle rettet.Was ich sagen will – und das als Linker – denken Sie daran, welchen Namen Putin nannte, als er seine Abnsicht erklärte, in die Ukraine einzumarschieren, einen einzigen Namen hat er negativ erwähnt und angegriffen: LENIN. Und in gewisser Weise hatte er recht: vor der Oktoberrevolution war die Ukraine unterdrückt, die einzige wirklich goldene Ära für die Ukraine waren die zwanziger Jahre, als die Ukraine als Nation voll entwickelt war. 18:07 Gleichzeitig redete er aber über die Nazis. Also hat die Ukraine für Putin zwei Väter: Lenin und Hitler. Das macht es für mich ein bisschen verdächtig. Ja, all das stimmt. Ich bin aber trotzdem beunruhigt. Ich bin nicht für einen totalen Weltkrieg, der enorme Risiken birgt, trotzdem stört mich vieles an der westlichen Reaktion. Ich traue den großen Worten nicht, Sie wissen schon: Putin, Den Haag, Strafgerichtshof, aber viele Menschen wissen beispielsweise nicht, dass trotz des Krieges in der Ukraine immer noch russisches Gas durch die Ukraine in den Westen fließt. Gegen reguläre Bezahlung natürlich. Das wirkliche Grauen für mich ist das hier: in diesem Moment, wo wir hier – wie Sie sagen – die Russen so leicht als Barbaren, als unzivilisiert abtun, sollte sich der Westen an zwei oder drei Dinge erinnern: erstens, sagt Putins offizieller Philosoph Dugin, der Westen müsse akzeptieren, dass es nicht nur ein Wahrheit gibt, die europäische, somdern auch eine russische Wahrheit. Wir dürfen nicht dieselbe Sprache sprechen. Das stört mich. Auch wenn ich Selenski voll und ganz unterstütze, wenn er sagt, wir verteidigen hier Europa, aber wenn ich Selenski wäre, würde ich noch einen Schritt weiter gehen und sagen: in Wahrheit verteidigen wir hier auch alle Russen. Die Ukraine verteidigt das russische Volk vor der Katastrophe, in die Putin es treibt. Vergessen Sie nie den Terror, unter dem das russische Volk leidet, sie sind unsere Verbündeten!

Zweiter Punkt: diese Idee, es nicht Krieg zu nennen, sondern spezielle Intervention … manchmal verwenden die Russen sogar den Begriff „humanitäre Intervention“ um den Frieden zu erhalten. Kommt Ihnen das nicht bekannt vor? 20:48 Hat der Westen das nicht auch jahrelang getan? Immer wieder sehr brutal interveniert, mit genau der gleichen Argumentation?

Letzter Punkt. Hier liegt die westliche Heuchelei klar auf der Hand. Putin, Kriegsverbrecher, Bombardierung von Kiew, Katastrophe. Sorry. Aber Putin – erinnern Sie sich? – hat vor ein paar Jahren Aleppo bombardieren lassen, die größte Stadt Syriens, viel brutaler als sie es jetzt in der Ukraine tun, – bis jetzt, wer weiß was noch kommt. Abgesehen von Mariupol. Aber: wo ist hier die Ausgewogenheit, wir haben damals protestiert, aber nicht so richtig ernsthaft. Jetzt ist es auf einmal ernst, und das hinterlässt einen schrecklichen Eindruck. Die Menschen in Lateinamerika, Asien, Afrika, der Dritten Welt bemerken diese europäische Heuchelei, und wir sollten auch hier den Mut aufbringen, dies nicht zu akzeptieren, dass dies ein Konflikt der Zivilisationen ist. Nochmals: wir sprechen sonst die russische Sprache, – Dugin, Sergeitsev, und all die anderen sagen dasselbe, nur genau andersherum. Sie sagen: Russland ist dieselbe Insel der Zivilisation, Europa und der amerikanische Liberalismus fallen in die totale Barbarei zurück. Ich denke, die Lehre daraus ist, dass wir unbedingt universalistisch bleiben sollen, hier würde ich sogar Jürgen Habermas und seinem Universalismus zustimmen. Deshalb bin ich für Europa, denn, was auch immer man gegen Europa sagen kann, Sklaverei, das Schreckliche, was wir in der Moderne getan haben, – diejenigen, die das Vermächtnis Europas angreifen, die Sklaverei, die Unterdrückung der Frauen, usw., tun dies aber immer in Begriffen, die aus dem Erbe der europäischen Aufklärung stammen. Die Größe Europas besteht nicht darin, dass es keine Fehler macht, sondern darin, dass es immer noch die beste Quelle für begriffliche Instrumente ist, die uns helfen, uns selbst zu kritisieren.

(Ja, Sie plädieren immer wieder dafür, die Blickrichtung zu wechseln…) 24:35

Jetzt werde ich Sie wieder überraschen – erstens: lassen Sie uns nicht in Selbstzufriedenheit verfallen. Meine Formel, die ich vor Jahren auf der Grundlage meiner eigenen Erfahrungen in Ex-Jugoslawien oder in Ruanda vertreten habe, gilt meines Erachtens überall: Sie lautet: es gibt keine ethnische Säuberung ohne Poesie. Um ethnische Säuberungen zu verstehen, sollte man einen Blick auf die Dichter, die Intellektuellen und Philosophen werfen, die den Boden dafür bereitet haben. Bei uns hier ist es der berüchtigte Karadziz, aber das ist in allen Ländern so ähnlich. Z.B. war ich schockiert, dass in Irland William Butler Yeats, den Sie vielleicht auch kennen, 1936 die sogenannten Nürnberger Rassengesetze, die die Rechte der Juden einschränkte, voll unterstützt hat.

Wieviele große Dichter waren Rassisten, Faschisten, sie haben oft genug den Weg dafür bereitet, und deshalb sollte man Künstlern nicht zu leichtfertig vertrauen. Manche leisten Großartiges, wie Paul Celan, Samuel Beckett, aber man muss immer auf der Hut sein.

Ich sage nicht, dass wir jede Liebe zu unserem Heimatland verurteilen sollen, aber was wir von wirklich großen Schriftstellern und Dichtern lernen können, will ich anhand eines Beispiels aus Russland zeigen. Der größte russische Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts Andrej Platonow, der sich mit dem Schicksal dieses geringen, heimatlosen, primitiven Volkes beschäftigt hat, das es nicht geschafft hat sich einzugliedern. Und da berkommt man ein ganz anderes Bild von Heimat. Nicht diese große, nationalstaatliche Heimat, sondern eine wunderbare kleinteilige Heimat. Ich erinnere mich an einen Baum hinter meinem Haus, ich erinnere mich, wie im Wald der Wind wehte, usw. usf. Die Linke sollte sich das alles wieder zueigen machen. Überlasst dem Feind nicht das Gebiet, dass er besetzen will. Ich gehe noch weiter:

Warum sollte die Rechte das Recht haben, über Familienwerte zu sprechen, wo der neoliberale Kapitalismus alles getan hat, um die übermäßig ausgebeuteten Frauen und Familienwerte und kleine Gemeinschaften und die Solidarität effektiv zu zerstören.

Also noch einmal: machen Sie keine Kompromisse, indem Sie das Thema dem Feind überlassen. Wenn ich also sage: „ich liebe mein Land“, bin ich nicht gleich ein Nazi. 28:00

(Unordnung überall Mao – warum Kommunismus nicht ausgeträumt)

Ich habe hier ein klare, sehr kurze Antwort. Es geht wieder um Scheinheiligkeit. Erinnern Sie sich noch an das große Treffen in Glasgow vor ein paar Monaten? Mit Prince Charles, vielen Promis, Premierministern usw. sie forderten das Richtige, globale Zusammenarbeit, allgemeine Gesundheitsversorgung, und zwar international. Die ökologische Krise ist nicht lokal beschränkt. Erinnern Sie sich, dass im letzten Sommer im Südwesten Kanadas und dem Nordwesten der Vereinigten Staaten 50 Grad herrschten. Das ist die Folge einer Störung der Luftzirkulation in allen nördlichen Teilen der Erde, hier ist also unbedingt Zusammenarbeit erforderlich. Die globale Erwärmung birgt auch die Gefahr von Hungersnöten, viele Länder sind betroffen, auf dem Treffen wurde vor allem viel geredet, und ich würde sogar sagen: insgeheim machen sich alle bewusst, dass es keine ernsthaften Konsequenzen geben würde. Was mein kommunistisches Programm angeht, ich bewundere intelligente, ehrliche Konservative, die sich der praktischen Grenzen der Machbarkeit bewusst sind. Was man zusammen mit ihnen alles erreichen kann. Versuchen wir eine Ordnung zu schaffen, deren Programm darin besteht, das zu tun, worüber die großen Medien immer sprechen. Die großen Medien sprechen über die aktuellen Gefahren auf diese zwangsneurotische Weise, man redet viel und muss nichts tun. Mein kommunistisches Programm ist also das zu tun, was wir die ganze Zeit in den Medien lesen. Pandemien können nur durch globale Zusammenarbeit zumindest in Schach gehalten werden. Wir brauchen eine Art globaler, wenn nicht Gesundheitsvorsorge, so doch zumindest Selbstkontrolle, so dass wir wissen, wie das alles zusammengeht.

Was die Ökologie betrifft, sind wir sogar – würde ich sagen – zu besessen von der globalen Erwärmung. Wir schauen zuviel nach oben, schauen wir auch nach unten: was zum Teufel geht in den Tiefen unserer Ozeane vor, das ist dann beunruhigend, und wenn das ein Regime bedeutet, das ein bisschen autoritärer ist, natürlich nicht im faschictischen Sinn, nicht in dem Sinn, dass wir eine Weltregierung bekommen sollten, das würde totale Korruption bedeuten, aber eine Art von internationalem Gremium, das souveränen Ländern verbindlich Entscheidungen auferlegen kann. Wenn wir diesen Schritt nicht machen, habe ich große Angst um unsere Zukunft. Und ich meine das sehr ernst. Ich spreche nicht von unseren Enkeln, ich spreche davon, wie es in 20 bis 30 Jahren ausgeht, wenn die gegenwärtigen Tendenzen weitergehen.

(Wenn Sie, die uns hier zuschauen, Slavoj Zizeks neues Buch : Slavoj, hätten Sie denn noch eine Buchempfehlung? )

Ich tue etwas Paradoxes und lege Ihnen ein Buch ans Herz, dessen Grundthese ich nicht teile, das aber eine wunderbare alternative Sicht auf die Geschichte vermittelt, es handelt sich um David Graebers und David Wengrows Buch „The Dawn of Everything“, in der deutschen Übersetzung „Anfänge“. Es ist eine Art alternative Geschichte, die mit dem Mythos aufräumt, die übrigens auch der marxistische Mythos ist, dass die Ausbeutung der Frauen und das Patriarchat automatisch mit der Entstehung von Staaten begonnen hätten. Den großen Übergang zu Siedlungen und ortsgebundener Landwirtschaft, und sie beweisen das ziemlich überzeugend. Ein Beispiel ist das Inkareich, ein Aspekt dieses Reiches waren Kinderopfer, Autorität, ein anderer Aspekt war eine außergewöhnliche Form gleichberechtigter Zusammenarbeit. Ich glaube nicht, dass wir heute etwas direkt Vergleichbares tun können, aber deshalb mag ich alternatives Science Fiction, das ist die Lektion, die ich von Hegel gelernt habe. Deshalb hat Hegel verboten, Pläne für die Zukunft zu machen. Es ist gut, sich vor Augen zu halten, dass, wenn etwas passiert, es immer andere Möglichkeiten gibt, und dass die Dinge auch eine andere Wendung hätten nehmen können. Die Notwendigkeit ist immer eine rückwirkende Notwendigkeit. Wir können nur einen einigermaßen logischen Überblick darüber geben, wie es den Menschen bisher ergangen ist. Die Zukunft ist offen. Und dieses Buch gibt Ihnen das Gefühl dafür.

Verlag Klett-Cotta (s.a. hier)

(Ich stelle nochmal eine Frage…Sachbuchempfehlung WBG?)

Ich habe eine traurige Empfehlung, ich mag diese absolut pessimistischen Bücher, die eine Alternative aufzeigen, und dann darstellen, wie wir bei einem Versuch, eine Katastrophe zu vermeiden, die Welt noch verschlimmern würden. Z.B. gibt es ein Buch von Steven Fry, dem britischen Schauspieler, „Geschichte machen“ – „Making History“ , kein großartiges Buch, aber die Idee gefällt mir. Ein jüdischer Wissenschaftler erfindet nach dem Zweiten Welktkrieg eine Möglichkeit, wie man die Vergangenheit ein wenig modifizieren, also nicht komplett verändern kann. Da Hitler die Katastrophe war, führte er rückwirkend Chemikalien in den Bach des Dorfes ein, in dem Hitler geboren wurde. So dass in den Jahren, in denen Hitler hätte geboren werden sollen, alle Frauen dort unfruchtbar waren. Dadurch wird Hitler also nicht geboren. Was passiert? Die Nazis tauchen trotzdem auf, aber ein anderer, viel intelligenterer Kerl, der sich in Atomphysik auskennt, übernimmt die Führung. Deutschland entwickelt als erstes Land Atomwaffen, und Deutschland siegt. Und so widmet er, der heutige Wissenschaftler, sein ganzes Leben der Aufgabe, Hitler nachträglich zurückzubringen. Dieser radikale Pessimismus gibt meine Sicht auf das Leben wieder. (lacht)

(Wonderful! Vielen Dank )

(Satz in deutsch) Und es war mir eine grroße Ähre für mich und eh… eine Sache tut mir aber leid, es wirkt so etwas männlich-chauvinistisch, warum sollten Sie nur ein Medium sein, es hätte mich gefreut, wenn Sie sich etwas mehr beteiligt hätten. Sonst wird man mir männlichen Chauvinismus und sexuelle Objektivierung vorwerfen. Aber Sie sind der lebende Beweis dafür, dass intelligente Frauen nicht hässlich sein müssen. (Lachen auf beiden Seiten)

Und so wäre es schön, vielleicht ein anderes Mal darüber zu sprechen, damit ich auch Ihre Sicht der Dinge kennenlerne.

(Mod. Abschließend: Wenn Sie Fragen dazu haben, Anregungen, Kritik – was sagen Sie dazu?) 38:22

Nachwort JR: die letzten Sätze gehen leider ziemlich nach hinten los, – im Gespräch mit einer weiblichen Person anerkennende Worte über ihr Aussehen zu verlieren, zumal das Phänomen des männlichen Chauvinismus etc. ja gerade kritisch benannt wurde. Das geht gar nicht. – Ich schließe aber eine ironische Absicht nicht aus…

Die Andeutung der Geschichte von Steven Fry bleibt am Ende völlig unverständlich, daher der Link zum Nachlesen, – obwohl die echte Version auch nicht soviel erhellender ist.

Die Sequenz über den Traum (oben im Moderationstext) bezieht sich wohl auf Tschuangtse (Schmetterling); ich empfehle eine Orientierung hier.

Zur Ablenkung notiere ich, was ich gerade im Fernsehen bemerkenswert fand (und was mich an die obigen Bemerkungen über Heimat erinnerte): unser Europa. Schauen Sie in terra X HIER  Meilensteine der Kontinental-Geschichte Europas ab etwa hier bei 28:35 (!).

ZITAT Gunther Hirschfelder, Anthropologe der Universität Regensburg:

Wir haben lange geglaubt, diese Regionen werden mal in den Nationen aufgehen. Heute wissen wir aber, dass Nationen durch Regionen konstituiert werden, und dass der Mensch, der in einer Region lebt, eine regionale Identität braucht, aber nicht unbedingt eine nationale.

siehe Link

Zurück zu Slavoj Žižek, aber in konsistenterer Darstellung,

aus der SFR-Reihe Kultur Sternstunden 30.05.2022 mit Yves Bossart

Was uns die Fuge sagen soll?

Auch wenn sie nur eine Technik ist…

… dann heißt das doch noch lange nicht, dass wir nur dies zu konstatieren haben. Eine Kathedrale bauen zu können, ist zunächst mal eine Sache der Technik, noch früher allerdings muss da der Wille vorhanden sein, sich einer solchen Technik zu bedienen, ja, sie zu imaginieren, zu entwickeln und einen Bau zu errichten, der nicht nur dumm im Raume steht. Insofern darf man ungeniert weiterfragen, wenn uns jemand mitteilt:

Fugales, kontrapunktisches Denken und Komponieren ist die Königsdisziplin der europäischen Musik, seit diese um 1200 aus dem Schatten der nur mündlichen Überlieferung in die Schriftlichkeit der Mensural-Notation heraustrat.

Man kann sofort entgegnen: warum tat sie es denn? Oder soll man lieber abwarten, was denn daraus wurde, als sie aus dem Schatten herausgetreten war, – der Grund dafür, oder die Gründe müssen doch virulent geblieben sein.

Die Technik besteht im Wesentlichen darin, durch Imitation der Intervalle und Rhythmen einer zuerst eintretenden Stimme – Dux genannt – seitens des ihm nachfolgenden Comes eine sinnfällige Verknüpfung herzustellen.

Im Laufe der Jahrhunderte entdeckte und sammelte das komponierende Kollektiv eine derartige Menge von kombinatorischen Kunstgriffen, vom einfachen Kanon auf gleicher Tonhöhe bis hin zu Umkehrungen, Spiegelungen und extremen Vergößerungen und Stauchungen, die selten, aber nie auf Anhieb als solche zu hören sind, aber bis zum Ende der Barockzeit den Beweis für die wundervolle hermetische Durchstrukturierung selbst des Tonraums durch die ordnende Hand Gottes lieferten.

Der Grund kam schneller als ich dachte: die ordnende Hand Gottes selbst im Tonraum (dem flüchtigen, ungreifbaren) zu beweisen.

(Achtung: winzige Abweichungen vom Originaltext im folgenden Zitatabschnitt).

Mit Bezeichnungen wie „Kirchenstil“, Prima Prattica und stile antico differenzierte man diese kunstvolle Kompositionsweise von dem um 1600 erfundenen und in die Schriftlichkeit drängenden, am Volkslied orientierten madrigalesken Stil sowie auch von der Affekt- und Seelenmusik der seconda prattica.

Aber natürlich vermischten und durchdrangen sich die verschiedenen Kompositionsweisen sofort: der stile antico wurde in jeder folgenden Stil-Periode aufgehübscht und den Erfordernissen einer zumindest gewissen Modernität angepasst, während der Affektmusik und dem einfachen Volkslied mittels fugaler Techniken eine Art Standeserhöhung zukam.

Nötigten im Verlauf des Spätbarock Practica wie die Artifici Musicali des G. B. Vitali, das Musicalische Kunstbuch von Johann Theile, sowie Musicalisches Opfer sowie Kunst der Fuge von J. S. Bach dem Hörer wie auch dem Betrachter noch einmal höchste Bewunderung ab, so rückte die Aufklärung dem Stile Antico zu Leibe und nahm ihm mit einem Male die Aura des Göttlichen.

1753/54 legte der Berliner Musik-Theoretiker Fr. W. Marpurg mit seiner Publikation Abhandlung von der Fuge auf 350 Textseiten, sekundiert von 120 Seiten Noten-Beispielen das bislang nur privatissime und von geheimnisvollem Sfumato umflorte Wissen dem staunenden Publikum als erlernbares Handwerk vor: nicht Genialität, nicht Erkenntnis der göttlichen Ordnung machte den erfolgreichen Fugen-Komponisten aus, sondern die schlichte Beherrschung der Zahlen! Marpurg zeigte, daß Canons und Fugen mathematisch vorausplanbar waren.

Ich habe diesen Text herausgehoben, weil hier einer der besten Kenner der Materie spricht: Altmeister Reinhard Goebel, der schon 1984 eine frisch durchdachte „Kunst der Fuge“ vorgelegt hatte, verfolgt das Thema Fuge aufs neue am Beispiel der Streichquartettbesetzung und zwar quer durch die Musikgeschichte von 1600 bis 1828, ja, er hat es regelrecht inszeniert. Seine Veröffentlichung mit dem Armida-Quartett beschäftigte mich vor fast einem Jahr hier und hier.

Den Anfang der Fuge Tr. 3 von Alessandro Scarlatti habe ich per Ohr skizziert, weil mir die Noten fehlten, habe es allerdings auch von d- nach cis-moll transponiert, um Vergleiche anzuregen. Ich weiß noch nicht, ob das sinnvoll war, jedenfalls zur hörenden Analyse verführend. Ein Thema, das – mehr pathetisch als mathematisch – über Bach auf Beethoven op. 111 und  Schubert („Der Atlas“) weist.

a) Fugen-Anfang A.Scarlatti b) Detail aus Bachs Präludium (BWV 849), das eine Vorahnung des Fugen-Themas gibt, das in c) folgt. Ausführlicher nachlesbar in den zwei folgenden Ausschnitten:

Es geht um Takt 26/27, Mittelstimme, e“-his“-cis“ Fugen-Exposition (BWV 849)

Das Thema im Kern rückwärts bei Schubert (der sich an Beethovens op.111 anlehnt)

Schubert „Der Atlas“

Beethoven op. 111

Noch zweimal Bach, Matthäuspassion und H-moll-Messe:

Goebel sprach vom Kirchen-Stil (stile antico), ihn absetzend von der neuen Affekt- und Seelenmusik (seconda prattica), dann aber auch von der Durchdringung der Stile, was nun nicht einmal als Vergehen gegen die gottgegebene Ordnung aufgefasst werden kann: Christus als menschgewordener Gott hat an beidem teil. Die Umrisse des Themas als Figur des Kreuzes. Der Hinweis auf die Affekt-Formel des Leidens, die im Gebrauch des verminderten Intervalls erkennbar wird, – zumal der Quarte, noch enger gefasst in der verminderten Terz (siehe hier die beiden letzten Beispiele) –  gilt also dem Leiden schlechthin, auch innerhalb der Ordnung Gottes. Ein Beispiel dafür ist das Thema der zweiten Kyrie-Fuge innerhalb der H-moll-Messe (s.o.). Man hört es im Extrem der Affekt- und Seelenmusik zusammengefasst in den 4 letzten gesungenen Takten des Schubert-Liedes „Der Atlas“.

Mit den Anfangstakten des Liedes „Der Doppelgänger“ kehren wir dann – fast notengetreu – zum Thema der Bach-Fuge zurück (ohne dass Schubert dies mitgedacht oder gar gemeint haben muss).

Näheres zum Lied (incl. Ton & Text) hier

  Näheres zum Lied (incl. Ton & Text) hier

Bach Fuge BWV 849 Anfang

Ich wollte an dieser Stelle beginnen, stufenweise eine Gesamt-Übersicht zur Fuge zu liefern, was sicher nur anhand der Noten zu leisten wäre. Womit aber viele Laien-Musikerliebhaber ausgeschlossen wären. Am besten wäre, man könnte lernbegierigen Menschen während des tönenden Ablaufes etwas zuflüstern, so dass etwa die große Dreiteilung dieser Fuge und die allmähliche Steigerung der Kontrapunktik und der inneren Dynamik (fast) unmittelbar vor die Sinne tritt. Ich habe eine gute Aufnahme gesucht (immer bevorzugt: Angela Hewitt, immer leicht auffindbar: Andras Schiff) und dabei etwas anderes gefunden, etwas viel Kostbareres, denn wie selten gibt es Künstler:innen, die ihre Gegenstände ebensogut verbal erklären können wie im Klang realisieren. Jörg Demus gehört gewiss zu ihnen. Ich habe ihn erlebt, als ich im Collegium Aureum saß und er mit uns die Mozart-Klavierkonzerte im Fuggerschloss Kirchheim aufnahm. Eine Pioniertat. Uns ging er mit seiner höflichen Redseligkeit zuweilen auf die Nerven, heute bin ich ihm ebenso dankbar wie seinem Kollegen Paul Badura-Skoda, der Beethoven am selben Ort unvergesslich spielte (und auch erläuterte, womit er gern einen neuen Aufnahme-Take einleitete). Kurz: ich möchte den folgenden Youtube-Beitrag mit Bachs Praeludium und Fuge Cis-moll BWV 849 aus dem Wohltemperierten Klavier Band 1 herzlich empfehlen (nur nicht ungeduldig werden: manches muss man sich selbst ergänzen, z.B. wenn es um Fünfstimmigkeit, Chor, Intonation und Orgel geht, da fehlt etwas… , und ich persönlich lasse mich nicht auf das Gleichnis vom Himalaya ein, ohne den Ausblick auf indische Musik zu verlangen, doch diesen Exkurs in Parallelwelten der Affektenlehre versage ich mir heute, Bach zu Ehren):

Praeludium beginnt ab 22:10, Fuge ab 24:54 ABER: von vorn beginnen!

Bis etwa 7:00 spricht er über Verzierungen, dann über die Tonart cis-moll, – auch E-dur sei positiv gestimmt. Ab 8:55 über die Fuge, Vergleich auch mit der aus WTK II in Fis-moll (Laufthema). Bei 11:00 Vor- und Rückschau auf, letzteres in Gestalt des Alten Stils, wie in Fuge E-dur, wo Bach sogar das alte Schriftzeichen einer langen Brevis-Note gebraucht. Ab 12:20 das Thema der cis-Fuge, das Intervall his-e für sich angeschlagen = große Terz, der Begriff „Auffassungsdissonanz“. 13:30 alte Texte passen: „Kyrie eleison“ und „Et incarnatus est“ (singt), also Leidensausdruck. Für Demus ist die Fuge klar dreiteilig. Das „zweite Thema“ (Laufthema in Achteln) „Engelein und Blumen“. Verschwinden im dritten Teil. Ist es eine Tripelfuge (mit 3 echten Themen? 14:15 kein Thema, nur fester Kontrapunkt? Auf jeden Fall: Dreiteilige Fuge. 14:30 Verweis auf Orgel, Intonationshilfe für Chor 15:30 es gibt nur 2 fünfstimmige Stellen („Fuga à 5“), 17:00 Verweis auf César Francks Orgelbearbeitung. 18:00 Palestrina (alter Stil) 18:50 Tenor-Solo, Dynamik, die sich aus der Stimmführung und den Verläufen ergibt. Ab 22:10 Ganzfassung (ab 24:57 Fuge).

Die Dreiteiligkeit der Fuge war seit Riemann und vor allem: Hermann Keller abgesegnet (1950 bzw. 1965). Und was dieser schrieb, ist auf einer schöne Art altmodisch, – und immer noch lesenswert.

über die drei Themen…

… der drei Teile (von unten nach oben)

„Stylus gravis“ ist ein wichtiges Stichwort. 1968 brachte die Dissertation von Christoph Wolff endgültig Licht in das Dunkel: „Der Stile Antico in der Musik Johann Sebastian Bachs“. Hier ist seine Liste der Werke, die als Ganzes dazugehören, dann eine weitere Liste mit Werken, die nur zu einem Teil im Stile Antico gehalten sind, – sowie die Begründung dieser Zuordnung. Die E-dur-Fuge aus dem Zweiten Band des WTK gehört zur ersten Kategorie, während die hier behandelte  Cis-moll-Fuge aus dem Ersten Band des WTK zur zweiten Kategorie gehört, da mit dem Takt 36 ein anderes, „verspieltes“ Element zutage tritt.

Quelle Christoph Wolff: Der Stile Antico in der Musik Johann Sebastian Bachs / Studien zu Bachs Spätwerk / Franz Steiner Verlag Wiesbaden 1968

Wenn ich im Folgenden etwas von der fortschreitende Differenzierung der Fugen-Analyse anzudeuten suche, so nicht, um sie als Bedingung einer künstlerisch überzeugenden Interpretation zu postulieren. Im Gegenteil: man sollte durchaus wissen, bis in welches Detail das Bachsche Opus dem sezierenden Blick standhält; aber was von den Ergebnissen präsent bleiben sollte, das ist dem lebendig musizierenden Menschen wahrhaftig nicht von außen vorzuschreiben. Der große Bach-Forscher Alfred Dürr folgt in seiner Monographie, die 1998 erschien, einem Mittelweg, der die Formverläufe darstellt, aber auch historische und aufführungspraktische Hintergründe liefert.  Und selbst bei ihm ist oft ein Blick auf den unerbittlichen Analysten Ludwig Czaczkes zu konstatieren.

Quelle Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach / Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle Kassel 1998 (Seite 118 f)

Dies ist nur ein Ausschnitt (auf der 2. Seite fehlt die obere Hälfte, die Formübersicht im unteren Kasten ist nicht vollständig –  Teil C und D folgen nächsten, nicht abgebildeten Seite); ja, und Czaczkes bleibt unverzichtbar. Und selbst wenn man längst felsenfest überzeugt ist, dass man eine dreiteilige, sehr übersichtliche Form vor sich hat, ist man am Ende eines besseren belehrt – und ein bisschen unglücklich. Das kommt von der freudlosen Methode:

Quelle Ludwig Czaczkes: Analyse des Wohltemperierten Klaviers / Form und Aufbau der Fuge bei Bach Band I / Österreichischer Bundesverlag Wien 1982

Auf der nächsten Seite entwickelt er ähnlich die Herkunft des anderen Kontrasubjekts (jenes mit den Achtelgängen, Jörg Demus sprach von Engeln und Blumen), und zwar füllen wir einen Quartsprung stufenweise mit Sekundschritten aus …. und „wenden und drehen es dann nach allen Richtungen, so werden wohlbekannte Motive lustig vor unseren Augen tanzen“ (Czaczkes). An wenigen Stellen des Analysewerks lässt der Autor sich zu solchen Wendungen hinreißen, sein Metier ist die trockene Arbeit am Präparat. Man muss längst auf andere Weise musikalisch hochmotiviert sein, um sich darauf einzulassen. Unvorstellbar auch, dass Bach in dieser Art an seinen Fugen gearbeitet hat. Aber was ist die Vision, die den Komponisten geleitet hat, ehe er sich in die Detailarbeit versenkte? Gerade bei Werken, die so eindeutig auf die sakrale Sphäre verweisen, wie die, die den „stile antico“ heraufbeschwören: ob streng durchgeführt wie in der E-dur-Fuge, oder ihn mit anderen Charakteren überwölbend, durchsetzend, wie in der Cis-moll-Fuge, – das ist doch keine technische Spielerei, in der man zeigt, dass man wirklich mit allen kontrapunktischen Wassern gewaschen ist. Wenn ich ein Bild dafür suche, das groß genug ist für solche universalen Entwürfe, so bin ich bald bei der Weltenorgel, wie sie bei Athanasius Kircher abgebildet ist, – allerdings – – – ohne dort zu verweilen, denn Bach war ja in der höfischen und bürgerlichen, ja, familiären Welt ebenso zuhaus wie in der kirchlichen, gottesdienstlichen, religiösen. Insofern neige ich dazu, die Widmungskürzel, die Bach ans Ende seiner Werke setzte, S.D.G – Soli Deo Gloria – nicht so gewichtig zu interpretieren wie in früheren Jahren, als ich gerade mal die Schrift des Theologen (!) und Musikwissenschaftlers Walter Blankenburg über Bachs H-moll-Messe (1974) gelesen habe. Der dort zitierte Bach-Zeitgenosse Buttstedt (1716) hat mich durch ein reproduziertes Titelblatt schwer beeindruckt, ohne dass ich versucht hätte, das etwas einfältige Weltbild dahinter abzuschätzen. Wer weiß, ob ich nicht – ermutigt durch Jörg Demus – versucht gewesen wäre, die Engelchen oder Kinder Gottes in einer Fuge wie unserer „aktuellen“ in Cis-moll noch ernster zu nehmen.

Ohne hier den (mehr als 20 Jahre späteren) Konflikt Scheibe vs. Bach aufrollen zu wollen, sei doch erwähnt, dass einer der bekanntesten Musiktheoretiker der Zeit, Johann Mattheson (1681-1764) sich weder deutlich für noch gegen Bach positionierte; er schätzte, ja: bewunderte ihn, stand aber wohl eher im Lager einer „moderneren“ Richtung, die öffentlich wirkunsvoll mit dem Opern-Stil sympathisierte (er selbst – einst Wunderkind an der Orgel – hatte in Hamburg als  Opernsänger begonnen und wartete dort seit 1799 mit eigenen Opern auf, war seit 1715 jedoch Domorganist). Bach pflegte mit ihm keine persönlichen Kontakte. Um so interessanter, in den ersten großen Mattheson-Büchern (seit 1713) nach dem Stellenwert zu fahnden, den dieser den großen Stilen seiner Zeit beimaß. Der Name Buttstedt war für mich jetzt der Auslöser, die akribische Einleitung des Musikwissenschaftlers Dietrich Bartel zu studieren und die Mattheson-Werke wieder ernstzunehmen (Laaber Reprint). Zugleich die Einschätzung, dass diese Auseinandersetzung schon damals über den „Dialog mit einem reaktionären Organisten hinaus“ (Bartel) Bedeutung annehmen sollte.

Für mich persönlich war immer eine entscheidende Frage, wie spekulativ man bei Bach vorgehen kann, wieviel musikalisch umgesetzte Theologie z.B. in dem Kürzel steckt D.S.G., oder ob man – mit Adorno – grundsätzlich davon absehen sollte und nur die Qualität der Werke zum Maßstab nehmen sollte. (Das Projekt „Morimur“ – Helga Thoene 1994 – war für mich absolut inakzeptabel.) Das große Gottes-Lob findet man überall in jener Zeit als letzthinnige Begründung, auch bei dem Buttstedt-Gegner Mattheson. Und selbst dann, wenn ersatzweise dann ganz in der Nähe der Begriff „Natur“ auftaucht…

Daher gehe ich so ausführlich auf meinen Fehlgriff von damals ein, obwohl er vielleicht doch zu bedenkenswerten Ergebnissen geführt hat.

Abgesehen von den Druckfehlern oder Verbesserungen, für die ich nichts kann ( am schlimmsten die Korrektur: „Sei Soli“ statt „Sei Solo“), würde ich heute ohne Buttstedt auszukommen suchen. Hier folgen die Beispiele der vorherigen Seite, auf die ich mich beziehe. Das Ornament gefällt mir auch heute noch. Gleich anschließend das Titelblatt, mit dem Mattheson den Erfurter Organisten 1717 erledigte:

1713  1717 Also: Matthesons „Orchestre“ Erstes und Zweites Titelblatt, dieses ausdrücklich gegen Buttstedts inzwischen erschienene Streitschrift gerichtet, gegen seine „Todte (nicht tota) Musica“. Die Schreckensfigur im Zusammenhang mit „Ut,Re,Mi“ war damals Aretinus = Guido von Arezzo.

Um diesen Artikel nicht ins Uferlose auszudehnen, soll es mit der Andeutung dieser frühen Polarisierung genug sein: auf der einen Seite „Ut, Re, Mi“ etc.“, die alten Kirchentonarten – „tote Musik“, auf der anderen der „Galant Homme“, ein Mann von Welt, von erlesenem französischen Geschmack. Nicht zu vergessen: In Bachs höfischer Köthener Zeit (1717-1723) entstanden seine allerfranzösischsten Werke. Und diese Zeit war nie ganz abgetan, nicht als er seine „Galanterien“ (Clavir Uebung 1731) schrieb, nicht als er sich in den Stile Antico versenkte (ab 1742 „Kunst der Fuge“ – mit contrapunctus VI „In Stylo francese“). Und im zweiten Band des „Wohltemperierten Klaviers“ (ab 1740) findet man bekanntlich nicht weit von der Fuge in E-dur BWV 878, dem clavieristisch gefassten Musterbeispiel des Stile antico, das französische Praeludium (hier) und die frappierende „Gavotte“-Fuge in Fis-dur BWV 882. Es ist nur ein paar Jahre her, – bitte im Blog nachlesen und nachhören hier (Die Fuge als Tanz) und hier (Couperin Pièces). Merken: „Les Niais des Sologne“ von Rameau. UND mir zeitlich noch näher – das einzig schöne Erlebnis in der Solinger Klinik: „Les Passions“ mit Andreas Pilger hier.

War Bach ein erfolgreicher Fugenkomponist? Er hat durchaus Adressaten genannt, für wen also komponierte er das „Wohltemperierte Clavier“? Er nennt in seiner Widmung als erstes den „Nutzen und Gebrauch der Lehr-begierigen Musicalischen Jugend“, dann den „besonderen Zeitvertreib“ derer, die schon was können. Und ganz ans Ende schreibt er S.D.G., „Gott allein zur Ehre“.  Heute kann man über jeden Punkt streiten. Die Jugend ist von Haus aus wohl nicht in diesem Sinne „musikalisch“ lernbegierig, auch der Zeitvertreib der Älteren läuft über das Handy. Und Gott?

Zu Bachs „Soli Deo Gloria“ siehe auch Relativierendes – ja, natürlich unter Johann Mattheson , obwohl er sich, wie wir oben bei Bartel gelesen haben, „als tiefgläubiger Orthodox-Lutheraner … täglich der Bibellese widmet“. Siehe aber auch, was Reinhard Goebel (oben in Blau) über Fr.W.Marpurg und seine angeblich mathematisch vorausplanbaren Fugen sagte. Kennen Sie vielleicht eine einzige bewegende Fuge von Marpurg??? (Vgl. auch die neulich digital realisierte Zehnte von Beethoven, heute ist alles möglich! sogar eine vorgetäuschte Künstliche Genialität.)

Was ich aber nicht relativieren möchte, ist der Kommentar einer jungen Pianistin unserer Zeit.

…eigene Person auszuklammern und dadurch in bislang ungeahnte Dimensionen musikalischen Verstehens und Ausdrucks vorzudringen.

Die Autorin schreibt des weiteren über „Das Ich als Störfaktor“, durchaus bemerkenswert für eine hochvirtuose Bach-Interpretin in ihrem Debüt-Album. Darüberhinaus auch philosophisch bedenkenswert! Ich bin so froh über diese neue überzeugende und begeisternde Interpretation der Bachschen Präludien und Fugen, auch wenn man hier und da vielleicht andere Ideen suggerieren wollte, nie entsteht der Eindruck, – wie etwa bei Glenn Gould – , dass da jemand sagt: „Ich, ich, ich.“ Oder gar behauptet: Bach hat es so gewollt, und der Weg durch ihn führt direkt zu Gott. (Auch das gibt es, wenn auch nicht bei Gould. Dann ist auch schnell das berühmte Goethe-Zitat zur Hand: wie in Gottes Busen vor der Weltschöpfung…)

Aber immer wieder wird man gefragt: Muss man nicht sehr gläubig sein, wenn man Bachs Musik spielt? Wer darauf eine Antwort erwartet, kann es mit seiner Musik nicht ernst meinen. Man müsste ja stattdessen über den Pietismus sprechen, über Luther sprechen, über die Geschichte des Christentums, und wie es geschehen konnte, dass die katholische Kirche inzwischen jeden Kredit verspielt hat. Der Wissenschaftler Martin Geck hat, was Bachs persönliche Motivation angeht, schon 1967 alles Notwendige gesagt:

„…besitzt die Kraft, das musikalische Sachgesetz final zu erfüllen, anstatt wechselnden Anregungen von innen und außen kausal zu folgen.“

Eine frühe Studie, wieder veröffentlicht (S. 46 – 55) in dem insgesamt lesenswerten Band:

Martin Geck: »Denn alles findet bei Bach statt« Erforschtes und Erfahreres / Metzler Musik / Verlag J. B. Metzler Stuttgart Weimar 2000 / ISBN 3-476-01740-0

Die Pianistin:

Weiteres auf der Website HIER oder – in WDR 3:

Eine atemberaubende Live-Vorstellung! – und immer wieder: was für ein Werk! Der Einstieg in die Partita c-moll BWV 826, beginnend mit dem grandiosen Pathos einer Französischen Ouvertüre, fortfahrend mit einer überirdischen Melodie, die nie enden sollte, deren süße Klagelaute aber plötzlich überspringen in eine furiose Fuge, eine zweistimmige, und zwar von einer Vehemenz, wie man sie im Wohltemperierten Klavier nur 1mal wiederfindet: in e-moll, teuflisch wie ein Spuk ist sie dort vorbei, nach einem großangelegten Praeludium. Und befindet sich gar nicht so weit entfernt von der großen fünfstimmigen in cis-moll, an der wir uns noch gedanklich abarbeiten wollen. Die Partiten (1731 Opus 1): wie gesagt, „Galanterien“ steht da in der Aufzählung der Tanz-Formen, – was denkt sich Bach bei diesen übergroßen Werken eines anderen Genres, die unter dem Gesamttitel „Klavierübung“ laufen und deren erste Bach 1726 einem Säugling  gewidmet hat? Das Widmungsgedicht ist der Forschung fast etwas peinlich, Hermann Keller freut sich nur, „dass Bach ein besserer Komponist als Dichter war und dass seine Musik nichts von der Unterwürfigkeit des Bürgers Bach unter seinen früheren Souverän [den Vater des Säuglings in Cöthen] bezeugt!“

*    *    *

Mit Vorbehalt: Die Fuge in cis-moll  BWV 849 als Form (Anwendung von kontrapunktischen Techniken) und Ausdruck – nicht nach Dürr, nicht nach Czaczkes – sondern intuitiv…

 

Ich habe beim Spielen und Üben nach der einfachsten Form für ein Gebilde gesucht, das höchst kompliziert gearbeitet ist, aber nicht unübersichtlich. Dass es ein fünfstimmige Fuge ist, halte ich für wesentlich, ich kann kein Schema akzeptieren, in dem das nicht zum Vorschein kommt. Daher habe ich alle wirklich fünfstimmigen Abschnitte durch eine geschlängelte Linie gekennzeichnet; sie läuten das Ende einer Durchführung ein. Bis zur entsprechenden Kadenz darf sich die Stimmenzahl wieder verringern, damit (?) der Beginn der neuen Durchführung offen liegt, siehe Takt 20. In Takt 35/36 liegt der Fall anders – das Laufthema soll folgen, der Charakter verändert sich, der Satz verdünnt sich ohnehin. Ab Takt 66 die Idee des chromatischen Abstiegs (vgl. Takt 102 ff), der große Bass-Einstieg des Hauptthemas liegt an. Am Schluss: es geht dem Höhepunkt zu, der Apotheose des Orgelpunktes am Ende der Fuge. Ab Takt 86: das Laufthema erschöpft sich – unter dem großen Sopran-Einstieg des Hauptthemas, das sich nunmehr verwandelt im Ansturm der Engführungen; es kehrt erst wieder zurück, wenn das absolute Ende in Sicht ist: ab Takt 107. Der Orgelpunkt hat es schon angezeigt!

Eine Cembalo-Version wäre fällig, – jede Orgel-Version disqualifiziert sich (in meinen Ohren)  bereits im Präludium – , mit der Frage: wie durchsichtig lässt sich das dichte Gewebe der Stimmen wiedegeben? Die Leonhardt-Aufnahme von 1963 ist seltsam unbefriedigend. Interessante Aspekte verspricht ein leidenschaftlich-unbewegter Kommentator (Fr.Siebert hier): vor allem sein Hinweis auf Luthers bzw. Johann Gottfried Walthers Version des Chorals „Nun komm der Heiden Heiland“ mit der verminderten Quarte lässt aufhorchen, aber auch die Entdeckung, dass das Hauptthema dieser Fuge auf jedem Ton der Cis-Tonleiter erklingt! Aber ist es deswegen schon eine Mixowasnochmal-Skala? Gerade nicht! Doch davon später. Auch die Ausführung: Was mich schon im Präludium skeptisch stimmt: wenn die eine Hand jedesmal wartet, bis die andere ihr Ornament ausgeführt hat. Das Grundzeitmaß muss gewahrt werden! Dem französischen Cembalisten Bertrand Cuiller höre ich allerdings gern zu, wie er sich singend Gedanken macht, ohne allerdings zu einer Analyse zu kommen. Am Ende steht Gott und der Glaube, das ist mir sympathisch, allein mir fehlt … was? (man lese Goethes „Faust“ Osterszene).

Ich verstehe nicht recht, weshalb man bei Johann Gottfried Walther nachschaut (NB: auch Buttstedt taucht in der Bio auf, wenn auch negativ), welcher Kirchentonart das Bachsche Thema entsprungen sein könnte, „Nun komm der Heiden Heiland“ , ich denke, in Luthers Original einfach dorisch – man könnte aber bei Bach selber zu suchen, der wohl den entscheidenden Leiteton in den Choral eingeführt und ihn somit dem dorischen Modus entfremdet hat. Hat er nicht schon entsprechende Choralvorspiele geschrieben? Oder Kantaten? Wenn man sie nicht alle präsent hat, schaut man eben mal in den „Schmieder“:

Auch Wikipedia ist interessant, wenn man Alfred Dürrs Kantaten-Bände nicht zur Hand hat: hier. 1714 die Uraufführung dieser Adventskantate, so früh also, damit wären wir auch wieder beim Phänomen „Französische Ouverture“… Aber hilft uns dergleichen etwa weiter bei der Fugen-Analyse? Geht es über einen Kommentar zum Hauptthema der Cis-moll-Fuge hinaus? (Immerhin ist dieser thematische Zusammenhang bisher nirgendwo vermerkt, soweit ich weiß.)

Es ginge etwa so: 1. das Kreuz, der Heiland, der Herr, in den Stimmen von unten nach oben aufsteigend, alle Wesen erfassend, 2. die himmlische Sphäre realisiert sich (Engel?), 3. ein schreitendes Thema (der Mensch?) tritt auf, wird bedeutsam, am Ende dieses Teils B zum erstenmal die chromatische Bewegung von oben herab bis gis. Teil C Durchführung V, Hauptthema in der tiefsten Lage auf CIS und  in der höchsten auf cis“, am Ende  – nach der 5stimmigkeit – noch einmal auf cis“, das Achtelthema löst sich auf, Durchführung VI. das Hauptthema und das „Menschen“-Thema in dichtester Engführung, chromatischer Abstieg des Soprans über 4 Takte, Ziel: gis, ausgedehnte 5stimmigkeit, Orgelpunkt. Das letzte Zitat des Hauptthemas endet auf der Quinte des Schlussakkords (gis), das Menschen-Thema auf der Terz eis. – Ich habe aufgehört, das Narrativ von der Erlösung auszumalen…

Etwa in dieser Art stellt der Schweizer Pianist Jürg Lietha die Fuge dar, hier ab 7:35 (Video bricht leider bei 9:55 ab): Heilige Dreifaltigkeit: Vater (Thema 3), Sohn (Thema 1) Heiliger Geist (Thema 2) auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Das klingt auf den ersten Blick verführerisch, aber wieso eigentlich? Warum soll eine Musik, bei der man an „Anderes“ denkt, attraktiver sein, als wenn man bei ihr „selbst“ verharrt?

Die mächtige Forte-Fuge (Friedrich Gulda)

Von den vielen Aufnahmen, die leicht greifbar sind (z.B. auch Sokolow: spannend, dramatisch aufgeladen, jedoch „wegen Nebels“ ausgesondert), kehre ich zurück zu der CD mit Schaghajegh Nosrati – und bin überwältigt von der Klanglichkeit, dem tieferen Sinn, der quasi von selbst hervortritt. Ich beschränke mich auf die Fuge: weder zu schnell noch zu langsam, nicht aufgesetzt dynamisch, überall durchsichtig, alles Thematische deutlich, linearisch, ohne Zeigestock, der Klang ist in Stille gehüllt, wie der Edelstein in eine Samtschatulle. (Ich glaube, dieses Bild stammt von Heinrich Neuhaus.)

Um die Form dieser Fuge auch für solche Hörer:innen erschließbar zu machen, die nicht den Noten folgen können, gebe ich im folgenden noch zum Ablauf die betreffenden Zeitangaben. Nachteil: man folgt der Musik anhand eines pedantischen Minutenplans, der auch wieder ablenkt; aber er erlaubt vielleicht doch, sich zeitgleich auf die Musik zu konzentrieren (denke ich). Zunächst die starke, aber auch kalte Version von Friedrich Gulda, dann die hoch differenzierte, ausgesprochen kontrapunktisch durchdachte und empfundene Version von Schaghajegh Nosrati.

Gulda

A I 00:00     II 0:47

B III 1:15     IV 1:43

C V  2:32     VI 3:15 Orgelpunkt 3:38 Schluss 4:08

Nosrati

A I 00:00     II 0:43

B III 1:08     IV 1:33

C V  2:16     VI 2:54 Orgelpunkt 3:14 Schluss 3:48

Der Orgelpunkt im Bass setzt unauffällig ein: im Sopran ist vorher der Ton GIS als Ziel einer absteigenden chromatischen Linie erkennbar, um dann zum letzten großen Themenzitat überzugehen. Ein unglaublich ergreifender Abschluss. Warum eigentlich? Ist nicht ALLES schon gesagt?

Wir brauchen keinen Homer . . .

Thukydides erinnert sich

Perikles

Thukydides rekonstruiert (?) die Leichenrede, die Perikles im Winter 431/430 gehalten hat. Zur gegebenen Zeit trat er vom Grab weg auf eine hohe Rednertribüne, errichtet, damit er möglichst weithin von der Menge gehört werden könne. Hier zunächst zitiert ab 42 (4):

Mit sichtbaren Zeichen, wahrlich nicht ohne Zeugen, entfalten wir unsere Macht, in Gegenwart und Zukunft uns zum Ruhme: Wir brauchen keinen Homer als Künder unserer Taten noch sonst jemanden, der mit schönen Worten für den Augenblick ergötzt – die Wirklichkeit wird ja doch seiner dichterischen Gestaltung den Glanz nehmen; nein, zu jedem Meer und Land haben wir uns durch unseren Wagemut Zutritt verschafft, überall haben wir mit unseren Siedlungen unvergängliche Denkmäler unseres Glückes oder Unglückes hinterlassen. (5) Für eine solche Stadt, die sie nicht verlieren wollten, sind diese hier in edlem Kampf gefallen [es handelt sich um eine Gedenkrede], und von den Überlebenden ist wohl keiner, der nicht für sie Mühen ertragen will.

Thukydides 

42 (1) Deshalb habe ich so lange über die Stadt gesprochen, um zu beweisen, dass für uns der Kampf etwas ganz anderem gilt als für die, die nichts Ähnliches besitzen, und um zugleich den Ruhm der Männer, denen zu Ehren ich jetzt spreche, durch Beweise deutlich darzustellen.

[Rückblende]

37 (1) Die Staatsverfassung, die wir haben, richtet sich nicht nach den Gesetzen anderer, viel eher sind wir selbst für manchen ein Vorbild, als dass wir andere nachahmten. Mit Namen heißt sie, weil die Staatsverwaltung nicht auf wenige, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist, Demokratie. Es haben aber nach den Gesetzen in den persönlichen Angelegenheiten alle das gleiche Recht, nach der Würdigkeit aber genießt jeder – wie er eben auf irgendeinem Gebiet in Ansehen steht – in den Angelegenheiten des Staates weniger aufgrund eines regelmäßigen Wechsels (in der Bekleidung der Ämter), sondern aufgrund seiner Tüchtigkeit den Vorzug. Ebenso wenig wird jemand aus Armut, wenn er trotzdem für die Stadt etwas leisten könnte, durch seine unscheinbare Stellung gehindert. (2) Frei leben wir als Bürger im Staat und frei vom gegenseitigen Misstrauen des Alltags, ohne gleich dem Nachbarn zu zürnen, wenn er sich einmal ein Vergnügen macht, und ohne unseren Unmut zu zeigen, der zwar keine Strafe ist, aber doch durch die Miene kränkt. (3) Wie ungezwumgen wir aber auch unsere persönlichen Dinge regeln, so hüten wir uns doch im öffentlichen Leben, allein aus Furcht, vor Rechtsbruch – in Gehorsam gegen Amtsträger und Gesetze, hier vor allem gegen solche, die zum Nutzen der Unterdrückten erlassen sind, und die ungeschriebenen, deren Übertretung nach allgemeinem Urteil Schande bringt.

38 (1) Außerdem haben wir reichlich für geistige Entspannung nach der Last der Arbeit gesorgt, durch Wettkämpfe und feierliche Opfer, die wir jährlich feiern, durch eine geschmackvolle Ausstattung unserer Häuser, die uns Tag für Tag erfreut und die Sorgen verscheucht. (2) Dank der Größe unserer Stadt strömen aus aller Welt alle Güter bei uns ein – und so haben wir das Glück, ebenso bequem die Erzeugnisse des eigenen Landes zu genießen wie die fremder Völker.

Auf Möwenkissen gebettet (Texel ’22)

das Land der Griechen…

39 (1) Wir unterscheiden uns auch in der Sorge um das Kriegswesen von unseren Feinden. Wir gewähren jedem Zutritt zu unserer Stadt, und niemals verwehren wir durch Fremdenaustreibungen jemandem etwas Wissens- oder Sehenswertes, dessen unverhüllte Schau etwa dem Feinde nützen könnte, denn wir bauen weniger auf Rüstung und Überraschung als auf unseren eigenen zur Tat entschlossenen Mut. In der Erzählung streben jene in rastlosem Mühen schon von klein auf nach Mannesmut, wir aber leben gelöst, doch gehen wir nicht minder entschlossen an die gleichen Gefahren heran.

Soviel aus der von Thukydides wiedergegebenen Rede des Perikles. Zur Frage, ob es diesen altgriechischen Staatsmann überhaupt gegeben hat, siehe hier.

Die Pest

47 (2) Gleich zu Sommerbeginn [430] fielen die Peloponnesier und ihre Verbündeten mit zwei Dritteln ihres Aufgebotes wie das erste Mal in Attika ein; den Befehl führte Archidamos, Sohn des Zeuxidamos, König von Sparta. (3) Als sie erst wenige Tage in Attika standen, brach zum ersten Mal in Athen die Seuche aus (…).

48 (1) Sie soll ihren Ausgang in Äthiopien oberhalb Ägyptens genommen haben, dann stieg sie nach Ägypten und Libyen hinab und in weite Gebiete des Großköngs. (2) In Athen fiel sie plötzlich ein, zuerst ergriff sie die Menschen in Piräus, weshalb es auch hieß, die Peloponnesier hätten Gift in die Brunnen geworfen – Quellwasser gab es nämlich dort noch nicht. Später kam sie dann in die obere Stadt, und nun starben noch viel mehr Menschen dahin. (…)

53 (1) Auch sonst war die Pest für Athen der Anfang der Sittenlosigkeit. Leichter erfrecht sich jetzt mancher zu Taten, an die er vorher nur Im Geheimen gedacht hatte, da man den raschen Wandel sah zwischen den Reichen, die plötzlich starben, und den früher Besitzlosen, die nun mit einem Mal deren Hab und Gut besaßen. (…) (3) Sich im Voraus um ein edles Ziel abzumühen, war niemand bereit, erschien es ihm doch unsicher, ober er nicht, ehe er es erreicht, schon ums Leben gekommen sei. (…)

Die Pathologie des Krieges

82 (1) Zu so wilder Grausamkeit trieb der Bürgerkrieg; man empfand das noch deutlicher, weil es der erste Krieg dieser Art war. Später geriet sozusagen ganz Hellas in Bewegung. Überall entstand Zwiespalt, (…).

(…); denn in Frieden und Wohlstand leben Städte und Menschen nach besseren Grundsätzen, weil sie nicht in ausweglose Not geraten. Der Krieg aber, der die Annehmlichkeiten des täglichen Lebens raubt, ist ein harter Lehrmeister und gleicht die Leidenschaften der Menschen den Gegebenheiten des Augenblicks an. (…)

(1) So kam durch die Bürgerkriege im Hellenenvolk jede Art von Sittenlosigkeit auf, und die Einfalt, der edle Gesinnung so nahe verwandt ist, wurde verhöhnt und verschwand; einander gegenüber zu stehen mit Misstrauen im Herzen war weithin die Regel. (2) Denn zu schlichten hatte weder das Wort die Kraft noch der Eid bannende Macht; nein, wenn sich einer stärker (als seine Gegner) fühlte, achtete er aufgrund der Überlegung, dass Sicherheit nicht zu erhoffen sei, mehr darauf, keinen Schaden zu nehmen, als dass er irgendjemandem vertraute. (3) Auch Leute mit weniger Verstand konnten sich meist behaupten. Da sie voll Furcht waren wegen ihres eigenen Mangels und des Scharfsinns der Gegner, sie könnten im Wortgeplänkel den Kürzeren ziehen und unvermutet ein Opfer ihrer vielfältigen Arglist werden, schritten sie wagemutig zur Tat. (4) Jene aber, die diese  Haltung verachteten und glaubten,sie würden schon vorher alles merken und hätten nicht nötig, mit Gewalt an sich zu reißen, was auch mit Verstand möglich sei, waren viel wehrloser und kamen dadurch um. (…)

84 (2) Weil das Leben in der Stadt bis zu diesem Grad in Verwirrung geriet, ließ die menschliche Natur erkennen, dass sie stärker geworden war als die Gesetze und dass sie – ohnehin gewohnt, gegen die Gesetze Unrecht zu tun – sich daran noch freute: unfähig, den Zorn zu beherrschen, machtvoller als das Rechtmäßige, feindselig gegenüber dem Hervorragenden. Sie hätten sonst nicht den Rechtspflichten die Rachsucht vorgezogen und der Vermeisdung des Unrechts nicht die Selbstbereicherung, wodurch das Neidgefühl nicht seine verderbliche Wirkung gehabt hätte. (3) Die Menschen ziehen es eben vor, die auch bei solchen Zuständen allgemein anerkannten Normen (nämlich Mitleid und Schonung), auf die sich für alle die Hoffnung gründet, im Falle der Niederlage auch selbst zu überleben, aufzuheben, um nur an anderen die Rachegelüste zu befriedigen und sie nicht bestehen zu lassen, auch für den Fall, dass man selbst in Gefahr geraten und auf eine solcher Normen angewiesen sein könnte.

Quelle Thukydides: DER PELOPONNESISCHE KRIEG Auswahl Griechisch/Deutsch / Übersetzung und Anmerkungen von Helmuth Vretska und Werner Rinner / Nachwort von Hellmut Flashar / Philipp Reclam jun. Stuttgart 2005 / ISBN 978-3-15-018330-4

Über SPARTA siehe hier (mit Karte)

Zur Geschichte Athens siehe hier darin: Blüte Athens im 5. Jahrhundert v. Chr.

siehe auch Attische Demokratie hier

darin auch: Krisen der Demokratie im Verlauf des großen Peloponnesischen Krieges hier

und die Kritische Würdigung der attischen Demokratie hier

In meiner Abschrift nicht berücksichtigt: der bedeutende „Melierdialog“ (der im Reclam-Band ebenfalls enthalten ist). Näheres darüber im oben gegebenen Link bzw. hier, speziell behandelt im Wiki-Artikel über den Melier-Dialog hier. (Dort auch die hier direkt abrufbare Karte der Schauplätze.)

Über das Bildnis des Perikles (mit korynthischem Helm): HIER

JR Texel Bos en Duin 17.09.22

Toleranz und Weltordnung

Die Grundlagen

(Ein Text der philosophischen Tradition, abgeschrieben, mit zusätzlicher Gliederung und mit einzelnen Links versehen, JR)

Die klassische europäische Idee der Toleranz ist ein Kind der Glaubenskriege. Die furchtbare Zerreißung der politischen Einheit im Namen einander feindlicher Glaubenshaltungen hat die Gestaltung des modernen säkularisierten Staates vorangetrieben, und zwar aus dem Bedürfnis nach Friedensstiftung und Rechtssicherheit für alle Bürger. Die Erfahrungen des 16. und 17. Jahrhunderts in vielen Ländern Europas liegen bekanntlich dieser Entwicklung zugrunde. Und in den Horizont muß man daher die heute zur allgemeinen Verständigungsformel gewordene Idee der Toleranz zunächst einmal stellen.

Im wegweisenden Edikt von Nantes hatte der französische König 1598 Gewissensfreiheit (liberté de consciences) versprochen, die den Protestanten das Verbleiben in Frankreich ermöglichen sollte. Auf dieser Linie bewegen sich strategisch alle späteren Deklarationen und Appelle. Die Lösung des Problems latenter Bürgerkriege aufgrund von Glaubensdifferenzen wird erreicht durch planmäßige Entkopplung der politischen Bürgerrolle, die konfessionell neutral ausgelegt wird, von der subjektiven Dimension der Überzeugungen, Glaubensbekenntnisse und Weltanschauungen.

Nun ist klar, daß subjektive Auffassungen und Meinungen stets handlungsleitend sein können, und daß kollektiv geteilte Überzeugungen auch kollektivem Handeln von Gruppen zugrundeliegen.

Also verbirgt sich eine Bedrohung der staatlichen Einheit in jedem Potential der Abspaltung von Sekten, des Zusammenschlusses von Abtrünnigen, Dissidenten usw. Diejenigen, die einer bestimmten heterodoxen Überzeugung folgen, können dem Staate, wie er besteht, jederzeit Konkurrenz machen.

Die Bedrohung der Einheit muß entschärft werden, so daß konkurrierende Vereinigungen nie auf politischer Ebene zu wirklichen Alternativen heranwachsen. Das bestehende Corpus der Gemeinschaft der Bürger bleibt objektiv vorrangig, während die drohenden Gefahren unter Zurückstellung in den subjektiven Bereich des Meinens und Glaubens gebannt werden. Glaube, was Du willst, aber halte Dich an die öffentlich geltenden Normen – so lautet das Toleranzgebot.

Die Vorordnung der unbezweifelt geltenden politischen Einheit vor den Schwankungen und Beliebigkeiten subjektiver Doxa kostet den Preis der Entpolitisierung glaubensgesteuerter Einstellungen und erschwert den Zusammenschluß Gleichgesinnter. Die subjektivistische Reduktion läßt Überzeugungen für die politische Praxis irrelevant erscheinen. Dieser strategische Schachzug im Interesse der öffentlichen Friedensstiftung schafft ein Vakuum, in das später Ersatzgestalten wie die Zivilreligion bei Rousseau, das Nationalgefühl des 19. Jahrhunderts und eine Art Verfassungspatriotismus in der Gegenwart zum Ausgleich eintreten.

Der Wunsch, in einer sittlichen Welt zu leben, die nicht nur das Minimum von Rechtssicherheit zusammen mit sozialen Kompensationen von Defiziten darstellt, sondern bruchlos auch als gemeinsamer Ort unserer Lebensorientierungen gelten kann, bleibt insoweit unerfüllt. Hegel hat im Namen des „objektiven Geistes“ eine auf die Freiheitserwartungen des modernen Subjekts zugeschnittene Institutionenlehre vorgelegt. Aber um die angemessene Deutung des Vorschlags dreht sich bis heute die Diskussion.

Quelle: Rüdiger Bubner: Drei Studien zur politischen Philosophie IV: Zur Dialektik der Toleranz / Universitätsverlag C.Winter Heidelberg 1999 / ISBN 978-3-8253-0863-6 / s.a. hier

Dieses Buch empfiehlt sich zur Lektüre, wenn man das von Charles Taylor (+ Jürgen Habermas) verinnerlicht hat: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. (s.a. hier).

(Denkpause) Ich schalte die Lektüre eines ZEIT-Artikels ein, der mich beeindruckt hat und den ich jetzt in Abschnitten mit der Toleranz-Geschichte in Verbindung zu setzen suche. Eine Übung.

Zitat (Abschluss des ZEIT-Artikels von Parag Khanna):

Der Bogen der Geschichte, den Toynbee gründlicher dokumentiert hat als jeder andere Gelehrte, neigt sich in Wirklichkeit den kleinen kulturellen Zentren zu, die aufblühen, wenn sich die Lektionen ihrer Vorgänger durch die kommerziellen und Wissensnetzwerke verbreiten.

Und wenn eine Welt ohne Zentrum nach Chaos klingt, so ist doch die wünschenwerteste Ordnung eine, in der alle miteinander verbunden sind, aber niemand die Kontrolle hat.

Ich kann diesen großen Artikel nicht in wenigen Zeilen zusammenfassen, ich werde nur die Sätze zitieren, die ich unterstrichen habe, um mich mit ihrer Hilfe besser zu erinnern:

Amerika hat das Internet aufgebaut, kann es aber nicht mehr abschalten.

Noch wichtiger ist, dass keine Gesellschaft auf der Welt außer China selbst will, dass China die Welt anführt.

Statt dass die Seidenstrassen-Initiative die Vormachtstellung der Britischen Ostindien-Kompanie wiederholt, sind die Gegenreaktionen auf sie wichtiger geworden. Während die afroasiatischen Kolonien drei Jahrhunderte brauchten, um die Briten zu vertreiben, haben sich Länder von Nigeria bis Indonesien in nur drei Jahren gegen die Neue Seidenstraße gewehrt. Die europäischen Kolonisatoren waren nicht mit echter Souveränität konfrontiert. China schon.

Wenn sich eine neue globale Ordnung abzeichnet, dann ist es die einer multipolaren Welt kontinentaler Regionen, in der Nordamerika, Südamerika, Europa und Afrika immer stärker zusammenhängen werden – und Asien selbst multipolar mit China, Japan, Indien, Australien und Russland. Keine Region aber ist ein Block. Sie sind vielmehr Schwämme.

Je erschreckender das von uns beschworene Szenario ist, desto stärker überreagieren die Akteure in dem System, um es zu verhindern. Das System entwickelt sich dadurch in nichtlineare Richtungen. Das ist die einfachste Definition von Komplexität, einer Situation, zu der es gerade wegen der unzähligen Kettenreaktionen kommt, die durch eine globalisierte Welt ermöglicht werden. Staaten können diesem System ihre Ordnungsvorstellungen nicht selbst aufzwingen. Vielmehr üben sie Druck innerhalb des Systems aus – und das System erzeugt Gegendruck.

Quelle DIE ZEIT 11.August 2022 Seite 47 Parag Khanna: Ist eine Weltordnung möglich? Nur weil die Globalisierung zu einer neuen Vewrteilung von Zemntren führt, muss sie nicht absterben. Die Zukunft gehört den Netzwerken. (Aus dem Englischen von Michael Adrian)

*    *    *    *

Und dieser Blog-Beitrag, der eigentlich alldies gründlich referieren sollte, könnte mit einem überwältigenden ästhetischen Ausblick enden: eine Musik, die den Geist Rumis in einzigartige Klangbilder verwandelt.

reinhören HIER

Siehe auch Bestenliste August 2022 / Preis der Deutschen Schallplattenkritik und nachfolgenden Artikel „SUFI RUMI“ .

24.08.2022 Heute. Ein schöner, allzu heißer Tag: der Originaltext Bubner ist angekommen

Das einzige, was ich referentiell zu korrigieren habe: die Überschrift „Drei Studien“ ist korrekt. Wenn vor dem (letzten) Vortrag zur Toleranz eine IV steht, ist allerdings noch erwähnenswert, dass die Nr. I allein aus einer Vorbemerkung von 5 Zeilen besteht, die schnell abgeschrieben ist:

Der Einleitungsaufsatz wurde in der Klassensitzung am 10. Mai 1997 vorgetragen, und mehrfach andernorts. Was ich aus den Diskussionen gelernt habe, ist in die gedruckte Fassung eingegangen. Die zwei übrigen Studien sind in zeitlichem und gedanklichem Zusammenhang mit dem Vortragstext entstanden.

Näheres zum Inhalt siehe auf der Rückseite des Umschlages, oben links, im schwarzen Bereich. Und nicht vergessen: das gewichtige, schmale Buch (62 Seiten) kostet weniger als 1 ZEIT + 1 SPIEGEL zusammen, siehe nochmals hier.

Im Alltag begegnet man vielleicht Argumenten zur Toleranz, die besagen, sie sei doch selbstverständlich, zumal heute, da die verständnisvolle Begegnung mit dem Fremden, der Fremdheit, alltäglich geworden ist. Oder im Gegenteil: auf eine Weise problematisch geworden ist, dass nur noch schwer zu argumentieren ist. Das Fremde ist eben – als das Unbekannte – nicht nur das Interessante, sondern auch das Abstoßendende. Man kann das eine nicht einfach durch wohlwollende Appelle ins andere umwandeln. Ich nenne nur das Schächten von Tieren, und ganz besonders, wenn es durch unanfechtbare religiöse Gebote gestützt wird. Da kann man noch so überzeugend für Religionsfreiheit und Toleranz plädieren, im Detail sieht alles anders aus. Die Argumente der Tierschützer sind nicht nur plausibel, sie sind auch menschlich. Aber: Was ist „Menschlichkeit“? Wenn man z.B. vom Schächtverbot unter den Nazis erfährt, kann das nicht als positives Beispiel gelten. Es wird plötzlich notwendig, unabhängig von weltanschaulichen Vorgaben oder „Kollateral“-Phänomenen über die Rechtslage nachzudenken. Siehe zum Beispiel im Wikipedia-Artikel hier.

Ich empfehle mir selbst (und anderen), auch den Bubner-Aufsatz mit der (vorgefassten) Bereitschaft zur Kritik zu lesen. Es ist mir klar, dass es Menschen gibt, die seinen Gedankengang dem „konservativen Lager“ zurechnen. Obwohl ich felsenfest (?) davon überzeugt bin, dass Gedanken (wie Gedankengänge) frei sein sollten. Den Gesetzen der Logik folgend…

Was ich mir bezüglich der Einschätzung von Fremdheit vorgemerkt hatte (Sicht des Ethnologen 1986):

 

Und wie Rüdiger Bubner in seinem Toleranz-Vortrag (1997) das Thema angeht:

(Fortsetzung folgt)