Wir brauchen keinen Homer . . .

Thukydides erinnert sich

Perikles

Thukydides rekonstruiert (?) die Leichenrede, die Perikles im Winter 431/430 gehalten hat. Zur gegebenen Zeit trat er vom Grab weg auf eine hohe Rednertribüne, errichtet, damit er möglichst weithin von der Menge gehört werden könne. Hier zunächst zitiert ab 42 (4):

Mit sichtbaren Zeichen, wahrlich nicht ohne Zeugen, entfalten wir unsere Macht, in Gegenwart und Zukunft uns zum Ruhme: Wir brauchen keinen Homer als Künder unserer Taten noch sonst jemanden, der mit schönen Worten für den Augenblick ergötzt – die Wirklichkeit wird ja doch seiner dichterischen Gestaltung den Glanz nehmen; nein, zu jedem Meer und Land haben wir uns durch unseren Wagemut Zutritt verschafft, überall haben wir mit unseren Siedlungen unvergängliche Denkmäler unseres Glückes oder Unglückes hinterlassen. (5) Für eine solche Stadt, die sie nicht verlieren wollten, sind diese hier in edlem Kampf gefallen [es handelt sich um eine Gedenkrede], und von den Überlebenden ist wohl keiner, der nicht für sie Mühen ertragen will.

Thukydides 

42 (1) Deshalb habe ich so lange über die Stadt gesprochen, um zu beweisen, dass für uns der Kampf etwas ganz anderem gilt als für die, die nichts Ähnliches besitzen, und um zugleich den Ruhm der Männer, denen zu Ehren ich jetzt spreche, durch Beweise deutlich darzustellen.

[Rückblende]

37 (1) Die Staatsverfassung, die wir haben, richtet sich nicht nach den Gesetzen anderer, viel eher sind wir selbst für manchen ein Vorbild, als dass wir andere nachahmten. Mit Namen heißt sie, weil die Staatsverwaltung nicht auf wenige, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist, Demokratie. Es haben aber nach den Gesetzen in den persönlichen Angelegenheiten alle das gleiche Recht, nach der Würdigkeit aber genießt jeder – wie er eben auf irgendeinem Gebiet in Ansehen steht – in den Angelegenheiten des Staates weniger aufgrund eines regelmäßigen Wechsels (in der Bekleidung der Ämter), sondern aufgrund seiner Tüchtigkeit den Vorzug. Ebenso wenig wird jemand aus Armut, wenn er trotzdem für die Stadt etwas leisten könnte, durch seine unscheinbare Stellung gehindert. (2) Frei leben wir als Bürger im Staat und frei vom gegenseitigen Misstrauen des Alltags, ohne gleich dem Nachbarn zu zürnen, wenn er sich einmal ein Vergnügen macht, und ohne unseren Unmut zu zeigen, der zwar keine Strafe ist, aber doch durch die Miene kränkt. (3) Wie ungezwumgen wir aber auch unsere persönlichen Dinge regeln, so hüten wir uns doch im öffentlichen Leben, allein aus Furcht, vor Rechtsbruch – in Gehorsam gegen Amtsträger und Gesetze, hier vor allem gegen solche, die zum Nutzen der Unterdrückten erlassen sind, und die ungeschriebenen, deren Übertretung nach allgemeinem Urteil Schande bringt.

38 (1) Außerdem haben wir reichlich für geistige Entspannung nach der Last der Arbeit gesorgt, durch Wettkämpfe und feierliche Opfer, die wir jährlich feiern, durch eine geschmackvolle Ausstattung unserer Häuser, die uns Tag für Tag erfreut und die Sorgen verscheucht. (2) Dank der Größe unserer Stadt strömen aus aller Welt alle Güter bei uns ein – und so haben wir das Glück, ebenso bequem die Erzeugnisse des eigenen Landes zu genießen wie die fremder Völker.

Auf Möwenkissen gebettet (Texel ’22)

das Land der Griechen…

39 (1) Wir unterscheiden uns auch in der Sorge um das Kriegswesen von unseren Feinden. Wir gewähren jedem Zutritt zu unserer Stadt, und niemals verwehren wir durch Fremdenaustreibungen jemandem etwas Wissens- oder Sehenswertes, dessen unverhüllte Schau etwa dem Feinde nützen könnte, denn wir bauen weniger auf Rüstung und Überraschung als auf unseren eigenen zur Tat entschlossenen Mut. In der Erzählung streben jene in rastlosem Mühen schon von klein auf nach Mannesmut, wir aber leben gelöst, doch gehen wir nicht minder entschlossen an die gleichen Gefahren heran.

Soviel aus der von Thukydides wiedergegebenen Rede des Perikles. Zur Frage, ob es diesen altgriechischen Staatsmann überhaupt gegeben hat, siehe hier.

Die Pest

47 (2) Gleich zu Sommerbeginn [430] fielen die Peloponnesier und ihre Verbündeten mit zwei Dritteln ihres Aufgebotes wie das erste Mal in Attika ein; den Befehl führte Archidamos, Sohn des Zeuxidamos, König von Sparta. (3) Als sie erst wenige Tage in Attika standen, brach zum ersten Mal in Athen die Seuche aus (…).

48 (1) Sie soll ihren Ausgang in Äthiopien oberhalb Ägyptens genommen haben, dann stieg sie nach Ägypten und Libyen hinab und in weite Gebiete des Großköngs. (2) In Athen fiel sie plötzlich ein, zuerst ergriff sie die Menschen in Piräus, weshalb es auch hieß, die Peloponnesier hätten Gift in die Brunnen geworfen – Quellwasser gab es nämlich dort noch nicht. Später kam sie dann in die obere Stadt, und nun starben noch viel mehr Menschen dahin. (…)

53 (1) Auch sonst war die Pest für Athen der Anfang der Sittenlosigkeit. Leichter erfrecht sich jetzt mancher zu Taten, an die er vorher nur Im Geheimen gedacht hatte, da man den raschen Wandel sah zwischen den Reichen, die plötzlich starben, und den früher Besitzlosen, die nun mit einem Mal deren Hab und Gut besaßen. (…) (3) Sich im Voraus um ein edles Ziel abzumühen, war niemand bereit, erschien es ihm doch unsicher, ober er nicht, ehe er es erreicht, schon ums Leben gekommen sei. (…)

Die Pathologie des Krieges

82 (1) Zu so wilder Grausamkeit trieb der Bürgerkrieg; man empfand das noch deutlicher, weil es der erste Krieg dieser Art war. Später geriet sozusagen ganz Hellas in Bewegung. Überall entstand Zwiespalt, (…).

(…); denn in Frieden und Wohlstand leben Städte und Menschen nach besseren Grundsätzen, weil sie nicht in ausweglose Not geraten. Der Krieg aber, der die Annehmlichkeiten des täglichen Lebens raubt, ist ein harter Lehrmeister und gleicht die Leidenschaften der Menschen den Gegebenheiten des Augenblicks an. (…)

(1) So kam durch die Bürgerkriege im Hellenenvolk jede Art von Sittenlosigkeit auf, und die Einfalt, der edle Gesinnung so nahe verwandt ist, wurde verhöhnt und verschwand; einander gegenüber zu stehen mit Misstrauen im Herzen war weithin die Regel. (2) Denn zu schlichten hatte weder das Wort die Kraft noch der Eid bannende Macht; nein, wenn sich einer stärker (als seine Gegner) fühlte, achtete er aufgrund der Überlegung, dass Sicherheit nicht zu erhoffen sei, mehr darauf, keinen Schaden zu nehmen, als dass er irgendjemandem vertraute. (3) Auch Leute mit weniger Verstand konnten sich meist behaupten. Da sie voll Furcht waren wegen ihres eigenen Mangels und des Scharfsinns der Gegner, sie könnten im Wortgeplänkel den Kürzeren ziehen und unvermutet ein Opfer ihrer vielfältigen Arglist werden, schritten sie wagemutig zur Tat. (4) Jene aber, die diese  Haltung verachteten und glaubten,sie würden schon vorher alles merken und hätten nicht nötig, mit Gewalt an sich zu reißen, was auch mit Verstand möglich sei, waren viel wehrloser und kamen dadurch um. (…)

84 (2) Weil das Leben in der Stadt bis zu diesem Grad in Verwirrung geriet, ließ die menschliche Natur erkennen, dass sie stärker geworden war als die Gesetze und dass sie – ohnehin gewohnt, gegen die Gesetze Unrecht zu tun – sich daran noch freute: unfähig, den Zorn zu beherrschen, machtvoller als das Rechtmäßige, feindselig gegenüber dem Hervorragenden. Sie hätten sonst nicht den Rechtspflichten die Rachsucht vorgezogen und der Vermeisdung des Unrechts nicht die Selbstbereicherung, wodurch das Neidgefühl nicht seine verderbliche Wirkung gehabt hätte. (3) Die Menschen ziehen es eben vor, die auch bei solchen Zuständen allgemein anerkannten Normen (nämlich Mitleid und Schonung), auf die sich für alle die Hoffnung gründet, im Falle der Niederlage auch selbst zu überleben, aufzuheben, um nur an anderen die Rachegelüste zu befriedigen und sie nicht bestehen zu lassen, auch für den Fall, dass man selbst in Gefahr geraten und auf eine solcher Normen angewiesen sein könnte.

Quelle Thukydides: DER PELOPONNESISCHE KRIEG Auswahl Griechisch/Deutsch / Übersetzung und Anmerkungen von Helmuth Vretska und Werner Rinner / Nachwort von Hellmut Flashar / Philipp Reclam jun. Stuttgart 2005 / ISBN 978-3-15-018330-4

Über SPARTA siehe hier (mit Karte)

Zur Geschichte Athens siehe hier darin: Blüte Athens im 5. Jahrhundert v. Chr.

siehe auch Attische Demokratie hier

darin auch: Krisen der Demokratie im Verlauf des großen Peloponnesischen Krieges hier

und die Kritische Würdigung der attischen Demokratie hier

In meiner Abschrift nicht berücksichtigt: der bedeutende „Melierdialog“ (der im Reclam-Band ebenfalls enthalten ist). Näheres darüber im oben gegebenen Link bzw. hier, speziell behandelt im Wiki-Artikel über den Melier-Dialog hier. (Dort auch die hier direkt abrufbare Karte der Schauplätze.)

Über das Bildnis des Perikles (mit korynthischem Helm): HIER

JR Texel Bos en Duin 17.09.22