Eine sehr andere Musik, ein neues Hören, ein guter Rat: Ganz gründlich vorbereiten (Links!), dann einfach wirken lassen…
Gesualdo „Ardita Zanzaretta“ Text und Übersetzung hier
Composer: Carlo Gesualdo {Gesualdo di/da Venosa} (8 March 1566 — 8 September 1613) – Performers: Ensemble „Métamorphoses“ – Conductor: Maurice Bourbon – Year of recording: 1996
Ardita zanzaretta
Morde colei che il mio cor strugge e tiene
In così crude pene;
Fugge poi, e rivola
In quel bel seno che il mio cor invola,
Indi la prende e stringe e le dà morte
Per sua felice sorte.
Ti morderò ancor io,
dolce amato ben mio,
e se mi prendi e stringi, ahi, verrò meno
provando in quel bel sen dolce veleno.
die Quelle: (Zeitangabe vor) Nr.13
00:00:00 – 01. Se la mia morte brami 00:03:34 – 02. Beltà, poi che t’assenti 00:06:55 – 03. Tu piangi, o Filli mia 00:10:04 – 04. Resta di darmi noia 00:13:12 – 05. Chiaro risplender suole 00:17:41 – 06. „Io parto“ e non più dissi 00:20:47 – 07. Mille volte il dì moro 00;23:57 – 08. O dolce mio tesoro 00:26:43 – 09. Deh, come invan sospiro 00:29:25 – 10. Io pur respiro in così gran dolore 00:32:20 – 11. Alme d’amor rubelle 00:34:17 – 12. Càndido e verde fiore 00:36:32 – 13. Ardita Zanzaretta 00:39:46 – 14. Ardo per te, mio bene 00:43:08 – 15. Ancide sol la morte 00:45:33 – 16. Quel „no“ crudel que la mia speme ancise 00:47:53 – 17. Moro, lasso, al mio duolo 00:51:28 – 18. Volan quasi farfalle 00:54:23 – 19. Al mio gioir il ciel si fa sereno 00:56:54 – 20. Tu segui, o bella Clori 00:59:15 – 21. Ancor che per amarti 01:02:34 – 22. Già piansi nel dolore 01:05:07 – 23. Quando ridente e bella
Folgendes Video: bitte ganzer Bildschirm, Dunkelheit im Raum, Konzentration
die Quelle: (Zeitangabe vor) Nr.19
00:00:00 – 01. Se la mia morte brami 00:03:34 – 02. Beltà, poi che t’assenti 00:06:55 – 03. Tu piangi, o Filli mia 00:10:04 – 04. Resta di darmi noia 00:13:12 – 05. Chiaro risplender suole 00:17:41 – 06. „Io parto“ e non più dissi 00:20:47 – 07. Mille volte il dì moro 00;23:57 – 08. O dolce mio tesoro 00:26:43 – 09. Deh, come invan sospiro 00:29:25 – 10. Io pur respiro in così gran dolore 00:32:20 – 11. Alme d’amor rubelle 00:34:17 – 12. Càndido e verde fiore 00:36:32 – 13. Ardita Zanzaretta 00:39:46 – 14. Ardo per te, mio bene 00:43:08 – 15. Ancide sol la morte 00:45:33 – 16. Quel „no“ crudel que la mia speme ancise 00:47:53 – 17. Moro, lasso, al mio duolo 00:51:28 – 18. Volan quasi farfalle 00:54:23 – 19. Al mio gioir il ciel si fa sereno 00:56:54 – 20. Tu segui, o bella Clori 00:59:15 – 21. Ancor che per amarti 01:02:34 – 22. Già piansi nel dolore 01:05:07 – 23. Quando ridente e bella
2. HOCHZEITSMADRIGAL, komponiert 1965/76, ist ein Lied an die unbändige Lebensfreude (Text: „Al mio gioir“, „Bei meiner Freude“). Es zeigt vier Abschnitte der Hochzeitszeremonie: Posieren der Gäste und Verwandten für Fotos an der Kirchenpforte – Einzug und Dröhnen der Glocken, mit Posen – Vorbereitung des Brautbetts bei Kerzenlicht, mit Posen – private Dialoge der Neuverheirateten (Text: das mittelalterliche deutsche Liebeslied „Du bist mein, ich bin dein …“), unter den spionierenden Blicken der Verwandten durchs Schlüsselloch, mit Posen.
Fortsetzung oben im Video Drei Madrigalkomödien ab 7:00
3. MORO, LASSO wurde 1963/72 zu Gesualdos 350. Todestag komponiert. Hier wird das Stück, wohl das bekannteste unter allen Madrigalen Gesualdos, aus einer rückwärtigen Perspektive gezeigt, wie für einen Zuschauer von der Seitenbühne aus: zum Läuten der Glocken lassen die Darsteller, hustend, knurrend, sich räuspernd, langsam die Masken lebender Menschen sinken und ihre in Wahrheit toten Gesichter zum Vorschein kommen
die Quelle: (Zeitangabe vor) Nr.17
00:00:00 – 01. Se la mia morte brami 00:03:34 – 02. Beltà, poi che t’assenti 00:06:55 – 03. Tu piangi, o Filli mia 00:10:04 – 04. Resta di darmi noia 00:13:12 – 05. Chiaro risplender suole 00:17:41 – 06. „Io parto“ e non più dissi 00:20:47 – 07. Mille volte il dì moro 00;23:57 – 08. O dolce mio tesoro 00:26:43 – 09. Deh, come invan sospiro 00:29:25 – 10. Io pur respiro in così gran dolore 00:32:20 – 11. Alme d’amor rubelle 00:34:17 – 12. Càndido e verde fiore 00:36:32 – 13. Ardita Zanzaretta 00:39:46 – 14. Ardo per te, mio bene 00:43:08 – 15. Ancide sol la morte 00:45:33 – 16. Quel „no“ crudel que la mia speme ancise 00:47:53 – 17. Moro, lasso, al mio duolo 00:51:28 – 18. Volan quasi farfalle 00:54:23 – 19. Al mio gioir il ciel si fa sereno 00:56:54 – 20. Tu segui, o bella Clori 00:59:15 – 21. Ancor che per amarti 01:02:34 – 22. Già piansi nel dolore 01:05:07 – 23. Quando ridente e bella
Fortsetzung oben im Video Drei Madrigalkomödien ab 12:22
Und was nun? (Mehr lesen!)
Es ist mir schon recht, dass mein Scanner die Gesualdo-Seiten aus dem ersten Band des Mammutwerkes von Frieder Reininghaus (u.a.) nicht in aller Schärfe wiedergibt, meine Absicht ist nicht, den Kauf dieser Fundgrube profunder Musikwissenschaft zu erübrigen. Um so mehr fällt ins Auge, dass der Inhalt sich leicht wie eine gute Tageszeitung fassen lässt, und ich muss deshalb auch noch die nächste Doppelseite folgen lassen, die zeigt, dass auch die Bebilderung zur Lebendigkeit beiträgt, selbst wenn es um einen grausigen Tod geht, den man bei Gesualdo ja immer auf der Lauer wähnt. Dabei gehen mir vor allem einige anrührende Zeilen durch den Kopf:
Er konnte nie alleine schlafen, ohne jemand, der ihn umarmte und ihm den Rücken wärmte. Zu diesem Zwecke hatte er einen gewissen Castelvietro aus Modena, der sehr zärtlich zu ihm war und immer bei ihm schlief, wenn die Fürstin fort war.
Am 8. September 1613 starb Gesualdo unter nicht genau bekannten Umständen – wenn nicht durch die Intrige seiner Schwiegertochter oder als Folge einer der Prügelorgien, dann vermutlich an Asthma.
Autor: Alexander Ziane, Mitherausgeber des Werkes.
Ein Charakteristikum dieser singulären Musikgeschichte ist, dass man wahrhaftig nicht aufhören kann, von Kapitel zu Kapitel weiterzuwandern. Und ich schwöre, den Clou der Story vom Eigenlob der edlen Frau Musica halte ich geheim (er befindet sich im letzten Teil des nachfolgenden Kapitels, das von Albrecht Braun und Frieder Reininghaus selbst stammt). „Weil die lieben Engelein selber Musicanten sein“? Von wegen!
Zu den Einzeichnungen: das Notenexemplar wurde ursprünglich von einer Cellistin gespielt, jetzt übe ich es auf der Bratsche, daher die entsprechenden (farbigen) Fingersätze. Nur beim Üben glaube ich es zu verstehen, und zwar anders als es in der Analyse avisiert ist, die ich seit August 1969 kenne. Sie bezieht sich wohlgemerkt auf die Courante, während ich mich zunächst auf die Allemande konzentrieren will. (Mit dem Prélude habe ich mich schon früher beschäftigt, siehe hier.)
Quelle Diether de la Motte
Über die Courante und nachfolgende Sätze
Quelle Hans Vogt: Johann Sebastian Bachs Kammermusik / Reclam Stuttgart 1981, Seite 191 f
(dies ist nur ein Anfang, der mich verpflichten soll…)
Zunächst herausgegriffen ein Kadenzphänomen:
dasselbe leicht melodisiert:
Vorweg also nur dieses kleine Beispiel, G-dur – G7 – C-dur – D-dur – G-dur, es dient einer oberflächlichen Rückerinnerung an ein Phänomen der klassischen Kadenz, die aber schon viel früher erfunden wurde: um deutlicher ihren Zweck zu erfüllen, über die Dominante zur Tonika zurückzukehren, nimmt sie einen kleinen Umweg, – sie geht nicht einfach über die Subdominante (IV), sondern stärkt diese, indem die vorhergehende Tonika mit Hilfe einer kleinen Septime in einen Dominantseptakkord verwandelt wird (Zwischendominante), der „verschärft“ zur Subdominante strebt, auf die dann die „echte“ Dominante (eventuell ebenfalls ergänzt zum Dominantseptakkord) zwingend folgen kann. – Bei Mozart kennt man das, wenn ein Gedanke gegen Ende des Satzes „abschiednehmend“ wiederkehrt, so im Mittelsatz der „Sonata facile“, wo allerdings auch noch der Ton F mit dem kühneren (tonartfremden) F-dur-Akkord bedacht wird, der vielleicht sogar noch die Chromatik des nächsten Taktes aufrührt.
Für eine Nebenbemerkung ist meine Beschreibung etwas lang geraten; wer es gut versteht, wird sich nicht ärgern. Eigentlich wäre auch, bevor ich fortfahre, noch eine Bemerkung zum „Neapolitaner“ fällig, der in Bachs Allemande in Takt 22 (zu a-moll) auftaucht, ebenfalls in der Courante in Takt 25 (zu e-moll). Aber zunächst ist Zeit, das vorher beschriebene Phänomen dingfest zu machen: wo Bach also einen schon eingeführten Leiteton wieder zurücknimmt, um ihn nachher doch wieder und zwar richtig zu etablieren. Z.B. in der Allemande – Cis in Takt 10, C in Takt 11 und 12, Cis in Takt 13, C in Takt 14, Cis in Takt 15 und 16. Inkonsequent, nicht wahr? (Im Gegenteil: folgerichtig!)
Mir hilft es, wenn ich die Entfaltung der Bachschen Melodik, auch innerhalb eines scheinbar vorgegebenen Schemas, ganz ähnlich zu erfassen suche wie in einem arabischen Taqsim oder einem indischen Alap. Ausgehend von einem klaren tonalen Zentrum, lasse ich mich von jedem einzelnen Schritt überzeugen, durchwandere peripherisch angelegte Nachbarbereiche und spüre, wie sich ein Netz bildet, ein stetig wachsendes Kraftfeld, das den einzelnen sinnlichen Momenten eine übergreifende Bedeutung zu verleihen scheint.
Der Anfang ist ein deutlicher Impetus, das Auftaktsechzehntel mit nachfolgendem Grund-Akkord, dessen Anziehungskraft jeweils unterschwellig verstärkt wird, indem ein Anklang regelmäßig wiederkehrt: Takt 4, Takt 9 und Takt 15. Auch wenn das Tor nach D-dur geöffnet wurde, und die erste Hälfte des Satzes wiederholt wird, wieder mit den eingestreuten Zeichen Takt 4, Takt 9 und Takt 15. Und nach einer Weile dann aufs neue in der zweiten Hälfte des Satzes, – Vorankündigung in der Mitte des Taktes 29 und die Erfüllung bei der Ankunft im Takt 32, wo dieser G-dur-Akkord, auseinandergezogen über zwei Oktaven, den ganzen Takt füllt, nach dem Muster des D-dur-Taktes 16.
Unvergessen, wie schon vor Ende des ersten Teils der Horizont des ganzen tonalen Geländes ins Bewusstsein gerückt wird: mit der langen, den gesamten Raum aufwärts durchmessenden Linie des Taktes 13 und der allmählichen, zunächst auf die Wiederholung gerichteten Auflösung der Spannung. Doppelstrich. Später im zweiten Teil: die Emphase der hohen Töne ab Takt 25, die Sequenzenkette von Takt 26 bis 29, die einrahmenden Dominantseptakkorde mit G-Bordun am Anfang der Takte 25 und 29, die fast gewaltsame Sequenzenkette ab Mitte Takt 29 bis Mitte Takt 31.
Noch einmal von vorn: Was sind die Details dieser unaufhaltsamen Wanderfahrt?
Am Anfang war die Harmonie des Tones G, der einen Dreiklang in sich birgt, G-H-D, bzw. arpeggiert in der Reihenfolge G-D-H, so dass der letzte Ton durch den Auftakt und die Alleinstellung eine Initiative zugewiesen bekommt; es ist die Quelle, aus dem sich alles, was an melodischem Fluss entsteht, erklären lassen wird. Der Anfangsimpuls betrifft also die Terz.
Da werden nun als erstes die nächsten Verwandten erscheinen, unter denen das nahgelegene G sich dank des weiter nachtönenden tiefen Basstones anbietet, und so wird es durch Umspielung einbezogen. Und da auch das D sozusagen noch in der Luft liegt, bildet es den Anfang einer in Gegenrichtung verlaufenden Linie, die erst eine Oktave höher einen logischen Wendepunkt sieht, das hohe D. Ein abfallender Dreiklang D-H-G folgt, samt einer Schleife, die auf das erste Motiv nach dem Anfangsakkord antwortet und eine (fast) neue Fortspinnung nach demselben Muster präsentiert: E – D – C – H. Dieser letzte Ton wird zum Anfang einer aufsteigenden Linie, die jener in Takt 1 nachgebildet ist, jedoch einen Ton tiefer (auf dem C) landet und wiederum die gleiche Schleife anhängt, die sich auf den ersten Urheber der Bewegung in Takt 1 bezieht: A – G – Fis – G, jedoch auch noch eine unscheinbare Variante der Fortspinnung anhängt, um dann aus dem Tonleitermodus auszubrechen durch den Sprung abwärts zum A. Dieser Ton signalisiert zum ersten Mal einen Basiswechsel, indem er dem Basston des Anfangsakkordes G ein A entgegensetzt, dem wiederum Töne folgen, die unschwer als Bestandteile eines Dominantseptakkordes zu erkennen sind, schöne Konsequenz: sie lösen sich fast scherzhaft leichtfüßig in die Zweiergruppen des absteigenden Tonika-Dreiklangs Takt 4 auf. Deren G-Charakteristik findet zwei Takte später eine singuläre, wundersame Bestätigung in ihrem Moll-Echo auf E. Und eine neue Ära hebt an…
Unterbrechung: Takt 4, Takt 6 – wie wäre es, die üblichen Taktmengen auf ihre „formbildenden Tendenzen“ abzuklopfen? Ich erinnere mich an das rätselhaft-schöne Buch, das Berthold mir zum Geburtstag geschenkt hat und das mich weiter begleiten wird. Und höre Musik. (Allemande ab 2:10).
Pieter Wispelwey Im folgenden Video direjt auf die Allemande gehen, ab 2:10
Oder Sie wählen zunächst das folgende Video:
Wir dagegen, als nicht nur hörende, sondern auch allzeit studierende Menschen, werden mit einiger Sicherheit nicht bereit sein, eine solche Interpretation als einzig mögliche anzusehen: Einstweilen befinden wir uns immer noch in Takt 6, wo wir zunächst den motivischen Neu-Ansatz wahrgenommen haben, der deutlich das neue Zentrum E markiert. Er kommt nicht unvorbereitet, ja letzlich stammt er aus dem primären Impuls:
Es ist leicht gesagt: E-moll gehört halt in die Nähe von G-dur, und das Dis in Takt 5 war das sicherste Signal, dass es in diese Richtung geht, und es wird ja geflissentlich in Takt 6 („parallel“ zu Takt 4) bestätigt. Aber ich möchte lieber melodisch als harmonisch argumentieren. Wir befinden uns also ab Takt 6 auf dem gesicherten Boden von E und seinen nächsthöheren Nachbarn im Raum der kleinen Terz.
Die Dauerpräsenz dieser Töne entgeht einem leicht, weil das eingestreute Cis die Aufmerksamkeit auf sich zieht, zumal es vorläufig zu – keinem Ergebnis führt. Natürlich liegt das hohe D in der Luft, aber es kommt nicht; wir werden auf das Fis am Taktanfang 8 gelenkt, das zudem einen Praller erhält; ein hier direkt im Terzabstand nachfolgendes, unbetontes D bietet keinen Ersatz für den vorenthaltenen Zielton, wesentlicher ist seine beiläufige Funktion innerhalb der neuen Startfigur, die das Motiv aus Mitte Takt 6 aufgreift bzw. abwandelt und weiterführt, zunächst jedoch das „erfolglose“ Cis zurücknimmt: am Ende des Taktes 8 haben wir ein C, das tatsächlich zurück will. Aber wohin? Wir sehen doch schon am Ende des nächsten Taktes wieder das Cis winken, nachdem der Akkord des Taktes 1 beschworen wurde, und selbst der Anfang des Taktes 10, der das Cis als Fanal des Kommenden verwendet, hält das tiefe G in Hörweite, da sind unsere Orientierungsmarken allenthalben sichtbar aufgestellt. In die Höhe wie in die Tiefe weisend. Dieser Vorgang ist so wichtig, dass wir ihn en passant ab Mitte Takt 6 überfliegen wollen. Es geht taktweise in figuralen Seqenzen aufwärts von E nach Fis, G, A (Takt 8), nach H (Takt 9), Cis, D, E (Takt 10), und dann abwärts in figuralen Sequenzen von Fis, E, D, C ! (Takt 11), weiter nach H, A, G, Fis (Takt 13) und E (Takt 13), ab hier lang durchgezogene Aufwärtslinie über 2 ½ Oktaven mit Cis ! im A7 und (Takt 14) einem mittleren D incl. C ! im D7, dann Grundakkord G wie allererster Takt hier in Takt 15 und die abschließende Kadenz D-dur im großen Zick-Zack-Kurs (Takt 15 und 16). DOPPELSTRICH // WIEDERHOLUNG.
Ist dieser Text als Verbalisierung der musikalischen Vorgänge erträglich? Er soll nicht bilderreich und schön sein, sondern nachhelfen, die Tonabläufe bewusster nachzuvollziehen oder (wenn man sie nur innerlich hört) klarer zu vergegenwärtigen. Und nichts für Zufall oder gar Verlegenheit zu halten.
Zum Beispiel: dass der zweite Teil mit einer leeren Quinte beginnt (die Terz wird sofort nachgeliefert), versteht sich von selbst, denn der vorausgehende Takt war zutiefst dreiklangsgesättigt. Aus dem ersten Teil haben wir auch das Wechselspiel zwischen C und Cis in Erinnerung, und so begegnet uns das C nach dem D-dur-Schluss als alte Bekannte. Am Ende des Taktes. Neu ist, dass in diesem Zusammenhang – am Ende des nächsten Taktes – wiederum als alterierter Ton das F auftaucht, und zwar mit dem Ziel des nächsten Taktbeginns: E – C , dem wiederum der übernächste Taktbeginn Gis – E nachgebildet ist, was jeweils durch tr-Zeichen markiert ist. Vielleicht ist dadurch die Erwartung geweckt, alsbald einen dritten, ähnlichen Vorgang zu erleben, stattdessen „enttäuscht“ uns zu Anfang des folgenden Taktes 21 ein Hochton, den wir bereits für erledigt gehalten haben, das hohe D, das wir aus den letzen Vierergruppen der Takte 18 und 19 im Ohr haben. Eine zweite „Enttäuschung“ folgt, denn das mit tr-Zeichen hervorgehobene Gis in der Mitte des Taktes 21 ist dem Taktanfang 20 „zu“ ähnlich, – es sei denn, damit wäre eine Überbietung verbunden, und in der Tat: die Auflösung zu Anfang des Taktes 22 im A-moll-Akkord überwältigt das Ohr als Akkord, der dem G.dur-Akkord des allerersten Taktes ähnlich ist und doch eine völlig neue Qualität realisiert. Das wird 2 Takte lang gefeiert und durch den Einsatz des „Neapolitaners“ in der Kadenz verherrlicht. Wir haben den Ort der größten Grundtonart-Ferne erreicht! Und dessen Wiedergewinnung ist ein hymnischer Vorgang, der nicht weniger als 5 Takte währt, von Takt 24 bis zur Mitte des Taktes 29, wo sich genau der oft erwähnte Akkord befindet, mit dem die Allemande begonnen hat. Grund genug, eine großartige Kadenz anzuhängen, in der die Modulationstöne Cis, F, C, Fis eine pathetische Geste signalisieren, die in der Grundton-Protuberanz des Schlusstaktes ihr Ziel findet, als sei es schon immer dagewesen.
Bevor ich fortfahre, könnte man sich anhand von Wikipedia intensiver mit dem „Neapolitaner“ befassen, lesen Sie bitte hier, – das erste Beispiel steht sogar in der gleichen Tonart wie in Bachs Allemande, Takt 22. Es ist ja die harmonische Wendung, die am ehesten inhaltliche Assoziationen weckt. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn es dem bedeutungsvollen Vortrag zugute kommt. Wie überhaupt unsere ganze verbale Interpretation kein anderes Ziel hat als ein sprechendes, in keinem Punkt gleichgültiges Klangergebnis. Und es wäre durchaus angebracht, dem Musiker Hans Vogt, der oft gute Hinweise gibt, in diesem Fall heftig zu widersprechen:
Es folgt eine Allemande, die durch Ebenmaß der Proportionen besticht; alles barocke Ausufern, das gelegentlich Bachs Allemanden kennzeichnet, ist zurückgenommen. Gleiches gilt für die Courante; unbekümmert, gerade präsentiert sich ihr Haupteinfall. Beide Sätze, Allemande und Courante, können solcher Klarheit wegen ziemlich scharf im Tempo gespielt werden.
Quelle Hans Vogt: Johann Sebastian Bachs Kammermusik / Reclam Stuttgart 1981, Seite 191 f
Morgens ist das VAN-Magazin in der Mailbox, ich schlage es auf, mich interessiert als erstes das Gespräch mit Graham Johnson über Schubert-Lieder (ich erinnere mich an ein Zusammentreffen mit Freund Hans Winking im Funkhaus-Foyer, er hat Produktion und ist schlecht gelaunt: „Graham Johnson hat nicht geübt!“). Ach, lieber fange ich an mit Volker Hagedorn, ich lese alles von ihm, seit ich sein Buch „Bachs Welt“ studiert habe, immer dankbar. Hier und hier. Er schreibt manchmal in der ZEIT, immer gut, heute in VAN über seine Beethoven-Pflicht, die in der Mozart-Kür gipfelt, und dann noch etwas, das folgt gleich! Schauen Sie doch zunächst in den Artikel: Hier. Funktioniert’s? Oder zunächst hier? VAN-Magazin!
Screenshots VAN
Ja, und? Wie geht’s weiter? Friday Night in… mit… ? Bitte erst lesen, die Links sind gesetzt, vor wenigen Zeilen; es geht um Beethoven und Mozart!
Während ich zuhöre – es geht auch im externen Fenster: hier – schaue ich mal eben in die Mailbox, aha! Freund Wolfgang Hamm hat geschrieben, Corona-Depression? nein, im Gegenteil:
Eine herzerfrischende Dokumentarfilmserie „Pequeños universos“ – so wie der junge Musiker (und Filmemacher) wäre ich jetzt auch gerne unterwegs, egal ob in argentinischen Provinzen oder sonstwo!
Wenn Du mal Zeit hast oder Dich gerade langweilst oder „angeödet“ bist … auch ohne perfekte Spanischkenntnisse schön zu sehen! Rührend die Kinder …
Natürlich, sofort, und ich bin elektrisiert: ab 0:47 – den Mann kenne ich doch!!!?
Ich habe einige Ordner aus dem vorigen Leben (nein, aber ein Ordnungsmensch bin ich nicht, ich lebe halb nach Plan, halb nach Zufall), so wie man auch Geige und Klavier übt, man schafft Raum für die Intuition. Hier ist die konkrete Erinnerung: Freude oder Trauer? Damals war das Ende schon abzusehen. Haben wir das 30. Festival (seit 1976) eigentlich noch erleben dürfen? Ich verschließe den Aktenschrank, aber nicht den Schatz meiner Erinnerungen. (Vorsicht: Pathos!)
(Kleine Voraussetzung: Sie sollten schon Noten lesen können!) Ich gebe zu und bedauere, dass die alte „deutsche Schrift“ den Zugang zum wiedergegebenen Text erschwert. Zu „meiner“ Zeit (Kindheit vor 1950) las man selbst Grimms Märchen in dieser Schrift (ich verstand sie wie das Westfälische Platt meiner Großeltern, nämlich ohne recht zu merken, dass es anders war.)
Meine Vorgeschichte heute: Ich suchte den alten Tonsatz zu „Es ist ein Ros‘ entsprungen“ von Michael Praetorius: ich glaubte, beim Anhören der Heidelberger CD eine Zwischen-Dominante vermisst zu haben und wollte nachschauen, ob sie überhaupt original sei. (Ich irrte mich, hatte mich verhört, falsch fixiert.) Dann aber faszinierte mich das alte Liederbuch, das aus der Schulzeit meiner Mutter stammt. Also um 1925.
Der alte vierstimmige Satz von Praetorius ist reduziert auf drei Frauenstimmen, aber das, was ich meinte – der Akkord auf der zweiten Silbe des Wortes „Winter“ (drittletzter Takt) -, ist klar: diese Takte entsprechen denen des Anfangs – bis auf diesen Akkord: F-dur statt f-moll. Was bewirkt das? Über solche Varianten sollte man auch mit Laien reden können. Wer den letzten Teil dieses Liederbuches in der Schule durchgearbeitet hat, sollte das können. Meine Mutter hat es nicht gelernt. Wer weiß, ob der bemerkenswerte Anhang überhaupt zum Lernstoff gehörte. – Ich habe es, als ich es gebrauchen konnte, nicht ernst genommen; es war ja für Mädchen!
Der Satz vom Notenlesen am Anfang sollte eigentlich nur darauf hinweisen, dass das Zeit kostet. Es geht nicht einfach darum, die Buchstaben zu wissen, sondern sich auch die Töne vorstellen zu können. Die erste Hürde für das Gedächtnis: jeder Notenkopf ist gleich wichtig, ob er nun auf der Linie steht oder zwischen zwei Linien. Das sagt noch nichts aus über Halbtonschritte und Ganztonschritte. Der Schritt von der ersten Linie zum ersten Zwischenraum ist ein Halbton-, von diesem Zwischenraum zur zweiten Linie ein Ganztonschritt. Für mich als Kind war es ein Problem, das einzusehen. Unlogisch! Ebenso die Tonreihenfolge: A – H – C, oder aber: die Basistonreihe gerade mit C – D – E zu beginnen. Man kann das historisch begründen, – aber man hat nichts davon; einfach nur lernen. Sehr wichtig: die Versetzungszeichen Seite 203, und Seite 205 die gleich geformten „Tetrachorde“ der Tonleiter. Das muss man singen können, ohne die Tasten des Klaviers zuhilfe zu nehmen. Jedenfalls nach einer gewissen Einübung. Danach ist alles leicht. Man könnte sogar mit arabischer Musik beginnen (kleiner Scherz).
Eine rhythmische Tabelle wie die auf Seite 199 befand sich auch am Anfang meiner ersten Violinschule von Hohmann-Heim. Irgendetwas leuchtete mir da nicht ein, und ich fragte meinen Vater, dessen Erklärung ich aber nicht ganz einsah, so dass er in plötzlichem Wutausbruch den Bleistift griff und in Riesenlettern und schreiend drüberkritzelte: 1 2 3 4. Ich weiß nicht, was ich da nicht kapierte, abgesehen von seinem Jähzorn wahrscheinlich die Tatsache, dass die sehr schnellen Noten soviel gewichtiger aussahen als die eine ganze Note, die bescheiden am Anfang der ersten Zeile stand. Mein Vater war aus einem Kapellmeister ein Studienrat geworden, und diesen Beruf hätte ich auch Dr. Hugo Löbmann zugeschrieben, wenn er nicht sogar zum Oberschulrat aufgestiegen ist. Aus den Lexika ist er verschwunden, nur in dem von Moser (1935) und dem alten sowie dem neuen von Hugo Riemann habe ich ihn gefunden, vielleicht weil er dessen Schüler war. Der letzte Titel „Fröhlicher Kontrapunkt“ stimmt mich nicht erwartungsfroh. Dass er für das anfangs zitierte Kirchenlied das Wort Reis statt Ros wählt, hat sicher eine lokale Geschichte; in dem wichtigsten katholischen Liederbuch, dem Speyerer Gesangbuch von 1599, steht jedenfalls schwarz auf weiß „Ros“. Siehe auch hier. Außerdem bei Wikipedia noch der Satz:
Das Buch zeichnet sich gegenüber den gleichzeitig erschienenen Gesangbüchern dadurch aus, dass auf jede anti-protestantische Polemik verzichtet wurde. Auch Martin Luthers Vom Himmel hoch ist hier enthalten.
* * *
Sie müssen keine Noten lesen!
Liebe Leserinnen und Leser,
wenn Sie bis hierher durchgehalten und vielleicht schon gute Vorsätze für das Neue Jahr und den Rest der Corona-Zeit gefasst haben, möchte ich Ihnen doch noch etwas irgendwie Weihnachtlicheres bieten, was auch geistig-seelische Nahrung für die Zukunft verspricht: eine schöne SWR-Sendung meines Freundes Wolfgang Hamm. Sie brauchen dafür eine ungestörte Mußezeit von etwa einer Stunde. Sie ist zwar schon gestern Nacht ausgestrahlt worden, aber – wie schon im Blog-Artikel angekündigt: Es ist nie zu spät!
Soweit der Ernst des Lebens und des lebenslangen Lernens, dann die Schönheit und das Wunder, – höchste Zeit also, uns gegenseitig auch noch eine fröhliche Weichnacht zu wünschen! Sic! Ich tue es in Gestalt der Erinnerung an eine Konzertreise des Collegium Aureum mit dem Tölzer Knabenchor durch Norditalien. Hier ein Ausschnitt des Plakates, das uns in Venedig erfreute:
So könnte ein Roman beginnen: „Nie werde ich die weichen Nächte von Venedig vergessen!“ In Wahrheit denke ich an eine frühe Lektüre zurück, ich glaube, von Dostojewski: „Weiße Nächte“ (es ging um erste Liebe, der Vater spielte eine Rolle, ich finde das Buch schnell wieder, meine ganze „russische Zeit“ nach 1957, es begann mit dem Film „Krieg und Frieden“, mit Tolstoj, aber auch mit dem Taschenbuch „Der Tod des Iwan Iljitsch“, denn genau so starb mein Vater, beim Lesen hatte er gesagt: „das bin doch ich!“). Vor allem Turgenjew! Bald darauf entdeckten wir – so hochgestochen das klingt – Goethes Faust, konnten vieles auswendig mitsprechen. Mein älterer Bruder und seine Freunde standen vor dem Abitur, einer hatte ein großes Grundiggerät und den „Faust“ unter Gründgens darauf überspielt. Und das wirkte auf alle beflügelnd. Mich befremdete und faszinierte die Musik von Mark Lothar. So dachte ich beim „Weichnachts-Oratorium“ in Venedig unversehens an die große Oster-Szene, an die „weichen Menschen“, an die Glocken und Engelschöre, die den lebensmüden Faust in die Wirklichkeit zurückrufen :
Was sucht ihr, mächtig und gelind,
Ihr Himmelstöne mich am Staube?
Klingt dort umher, wo weiche Menschen sind.
Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube
Und was jetzt von den Feiertagen Dezember 2020 zurückbleibt, wird der Film über die Kathedralen und insbesondere den Bau des Strassburger Münsters sein, nein mehr: siehe bei ARTE hier. Also wieder einmal etwas über das Wunder der Gotik? (S.a. hier oder hier). Und über einen Höhepunkt der – Technik. Vielleicht auch, aber vor allem eine aufrührerische Geschichte vom Kampf um die Macht zwischen Kirche und Bürgertum. Andererseits – war es nicht die ganz große Epoche des Christentums? Es war eine schlimme Zeit. Und so ist uns bei allem Erinnern und Staunen leider doch noch das Lachen vergangen. Wie auch hier:
1958
Die Turgenjew-Geschichte war es, die lange nachklang. Später noch „Väter und Söhne“. Soll ich alles noch einmal lesen? Es ist wie neu – und doch nicht ganz. Ich stecke unweigerlich drin. Wie auch mein Vater.
Wie auch die Schülerin, die damals um 1925 die Musiklehre im letzten Teil des Liederbuchs für Lyceen und Höhere Mädchenschulen nicht ernst genommen hat. Sie wurde Kinderkrankenschwester und hat 1938 trotz mangelnder Kenntnisse diesen Musiker geheiratet:
Es ist immer interessant, an sich selbst zu beobachten, wieviele Stimmen man gleichzeitig im Auge (im Ohr) halten kann. Meine These: es gibt Leute, die immer nur auf die Oberstimme hören: sie achten auf die Melodie – so es eine gibt – und nehmen ansonsten etwas Ungewisses im Untergrund wahr, wenn überhaupt. Bei einer Mitschülerin, die einst (vor Äonen!) in der Cellogruppe eines Laienorchester mitgespielt hatte, fiel mir beim gemeinsamen Konzertbesuch auf, dass sie fortwährend den Bassverlauf beobachtete, jedenfalls bei Stücken, die sie früher einmal mit einstudiert hatte. Sie wusste wenig über die Geigen zu sagen, während ich sozusagen die Celli kaum gehört hatte. Dieses selektive Hören ist leicht erklärbar, obwohl man doch immer schon wusste, dass die ganze Musik aus dem Zusammenwirken von Unterbau und Oberstimmen besteht. Es entwickelt sich eine erstaunlich unterschiedliche Perspektive, je nachdem wo und wie und als wer man im Konzert sitzt, und man muss sich erst motivieren, alle Schichten wahrzunehmen, die ein Werk wirklich aus der Sicht des Komponisten ausmachen sollen. Daher hat es mich auch kürzlich so verwundert, beim Studium einer Bartók-Analyse festzustellen, dass mir die Bedeutung der „Parallelen Stimmführung“ bei diesem Komponisten bisher entgangen war. Ich hatte das Wort nicht! Wenn man das Phänomen aber erst einmal erfasst und benannt hat, folgt man der Musik mit einer erneuten Wachsamkeit. – Das ist der Hintergrund der Akzentuierung des heutigen Blogbeitrags. Das folgende Orgelstück von Bach fesselt mich zunächst einmal durch das Thema, das man auch in der Handschrift verfolgen kann: es ist die Umkehrung des Finale-Themas des dritten Brandenburgischen, dort in G-dur, mit Kanon-Technik, auf der Orgel nach Fugen-Art:
Hier die Orgel-Version (extern hier) als 4. Satz der Pastorella BWV 590, und die Fangfrage: wieviel Stimmen sind das? (Achtung: Musik beginnt erst bei 0:15, also Geduld!)
Sie werden vielleicht schnell herausbekommen, dass es sich um eine dreistimmige Fuge handelt, zumal die Einsätze sehr deutlich kommen, deutlich auch, wenn man die Hände genau beobachtet. Nun macht der Orgelspieler obendrein eine kleine, aber doch auffällige Luftpause bei jedem neuen Einsatz, eine Abphrasierung. Aber da gibt es auch eine irritierende Erscheinung: es läuft noch eine weitere Stimme mit, eine hohe, flötenartige, und zwar in einer anderen Tonart, statt in F-dur in hoch C-dur. Das liegt am Register, – ich habe es neulich schon zu beschreiben versucht (siehe hier am Ende des Artikels). Da ist also die Stimme gekoppelt „mit sich selbst im Abstand einer Duodezime (Oktave plus Quint), und zwar mittels eines Registers, das Aliquotregister genannt wird. Eigentlich sehr merkwürdig, dass man diese dissonant wirkende Extrastimme überhaupt duldet (trotz der Verteufelung der Quintparallelen im strengen Satz). Man geht offenbar davon aus, dass man sie „zurechthört“ und als Oberton(schatten)linie der auffälligeren Hauptstimme subsumiert. Man höre nur mehrfach ab 2:20, dann wird man begreifen, dass der flötenartige hohe Melodieverlauf absolut synchron der linken Hand des Organisten entsprechend verläuft bzw. geschaltet ist.
Wenn wir als unsere Höraufgabe begreifen, die drei Hauptstimmen des Fugen-„Gewebes“ zu verfolgen, müssten wir also imstande sein, diesen automatisierten Parallelverlauf gedanklich wegzufiltern…
Falls aber Ihr Wissendurst damit noch nicht gestillt ist, sollten sie (im externen Fenster!) auch noch den Erläuterungstext unter dem Youtube-Video studieren. Oder später hierher zurückkehren: nur um zur Kenntnis nehmen, dass von „Dudelsack-Borduntönen“ die Rede ist. Wo befinden sie sich in diesem Satz? – – – Wirklich sehr zweifelhaft, was Peter Williams da dem Fugenthema selbst abgelauscht haben will. Aber gut zu wissen, was ein Bordunton (auch: „Orgelpunkt“) ist: hören Sie einfach vorweg den Anfang des letzten Orgel-Beispiels, den Beginn der Pastorella (die ja aus 4 Sätzen besteht), und beachten Sie nur den im Orgelpedal gehaltenen Basston. Ein Tonwechsel erfolgt erst nach 32 Sekunden, und der neu angeschlagene Basston dauert von 0:32 bis 1:07. Ein schönes Erlebnis, das dem vermuteten ewigen Frieden des Hirtenlebens entspricht. Die Harmonie der Welt.
Wenn es im christlichen Abendland um die pastorale (Unterschicht-)Musik geht, so ist sie immer friedlich gestimmt (siehe Bethlehem und die Hirten auf dem Felde), selbst der Bordun hat in der Kunstmusik meist ein absehbares Ende, die Fortbewegung der Hamonik und so auch vor allem des Basses, ist unabdingbar. Dafür hat die frühe Kirche gesorgt, indem sie alles Heidnische in ihrem Bannkreis unter Strafe stellte. „Wo die Auleten sind, da ist Christus nie und nimmer!“
In einer Welt der Götter und Dämonen war das ganz anders, die Basis lag nicht außerhalb, sondern überall gleichermaßen. Ich vereinfache sehr, aber von diesem Phänomen nicht zu wissen, ist ein massives Hindernis, die Differenziertheit der indischen Musik wahrzunehmen. Sie erscheint uns ohne Maß und Ziel, gerade weil sie die ewige Gegenwart des Grundtons braucht, um sich in 1000 Farben und Gestalten aufzufächern und in Erscheinung zu treten. Und für unsere bassfixierte Welt bedarf es zunächst nur dieses einen Schrittes: das Ohr für ein anderes Spektrum zu öffnen, als jenes aus Schwarz und Weiß, aus Dur und Moll, in einem quadratisch geordneten Zeitablauf, wie wir es gewohnt sind (ich vereinfache schon wieder). Aber hören Sie doch, was uns dieser Meister mit schönsten Linienspiel lehren und bescheren will. Einfach nur liebenswürdig. Mit ein paar Modernismen (Oktavspiel).
(Fortsetzung folgt)
Die Präsenz des einen Tons: SA (der Grundton) hierAchtung falls es mit Reklame beginnt, Ton weg und 27 Sekunden warten, dann steht dort: überspringen, fertig, nicht ärgern! im externen Fernster gibt es ansonsten nichts weiter zu sehen: Sie können die Augen schließen und dem Sänger Pandit Jasraj zuhören… oder den Grundton mitsummen, der am Anfang allein erklingt.
* * *
https://www.bachs-orgelwerke.de/index.php/werkverzeichnis/68-bwv590 HIER
HIER um die Ton- und Bild-Aufnahme digital abzurufen
hier um das Programmheft während des Konzertes oder vorher zu lesen / darin gibt es auch Zeitangaben, wann was im Gesamtablauf zu finden ist, also z.B. Johann Hermann Schein „Wie lieblich sind deine Wohnungen“ ab 27:55
Hören Sie doch bitte das berühmte Vivaldi-Konzert so, wie es im Original geklungen haben könnte: HIER
Oder springen Sie in den rasanten letzten Satz und achten Sie dort ab 8:25 auf die Melodie der zweiten Solo-Geige. Wie deutlich soll sie sein? Und wie expressiv?
Und versenken Sie sich dann in Bachs Orgelfassung desselben Werkes:
Das Werk in der Orgelfassung hören Sie extern z.B. HIER
Oder wie folgt, – falls Sie lieber die schönen Bilder sehen und auch den Künstler bei der Arbeit beobachten wollen:
Mir geht es gleich um den Anfang, siehe oben in den Noten, in der zweiten Zeile im drittletzten Takt: nach den Sechzehnteln die Achtel in der Oberstimme, die lang gehaltenen Töne im „Unterbau“, – kann das denn so von Bach gemeint sein, dass man nur noch den Unterbau hört, aber kaum noch die einzig bewegte Oberstimme? Muss man sie nicht auf einem eigenen Manual / Register, wie auch immer, um jeden Preis herausheben? Hier und bei anderen Stellen.
Oder auch im letzten Satz ab etwa 9:40, wo uns im Original der Klangzauber der Violinen erfasste: die starke Melodie der zweiten Geige, eingewebt ins Tongeschwirre der ersten, aber doch durch legato gut hervortretend. Wo bleibt sie auf der Orgel?
Solche Probleme können einen durchs ganze Leben begleiten. Ich habe das Vivaldi-Konzert kennengelernt durch eine Aufführung, in der ich die zweite Sologeige spielte, vielleicht 1956 oder 57, bei Bielefeld, (jawohl!) in Jöllenbeck, die Leitung hatte ein netter Kantor namens Vollmer. Ich begriff, dass man in der Begeisterung für das schöne Thema höllisch aufpassen muss, es nicht expressiv zu dehnen, sondern haarscharf im Takt zu bleiben. Es war ein tüchtiges Laienensemble, aber vermutlich spielte man damals Barockmusik grundsätzlich etwas ruhig, und ganz besonders in Jöllenbeck. Als ich es Jahrzehnte später in Solingen an der Orgel hörte – von Konrad Burr, dem ich umblätterte – fand ich es viel zu langsam und war der Ansicht, dass man bei der oben wiedergegebenen Stelle den „Unterbau“ einfach nicht durchhalten dürfe, sondern in wenige Akzente auflösen müsse, um die Oberstimme hören zu lassen usw., ich hatte ein unbehagliches Gefühl, und habe es bis heute, wenn ich Bachs Orgelfassung höre. Kann man ihn denn kritisieren? Völlig klar war, dass es mindestens zwei Tempi für dieses Werk gab. Selbst sehr bedächtige Ostwestfalen würden als Streicher niemals ein auf der Orgel durchaus vernünftiges Tempo wählen. Und heute auch dynamisch flexibler spielen, in den 50er Jahren untergrub das Diktum der „barocken Terrassendynamik“ und die Vorstellung vom richtigen „Bachstrich“ so manche inspirierte Interpretation.
1975, JR 1985
Das ist grundlegend, lässt aber meinen recht neuen Scanner etwas alt aussehen. Einen deutlich neueren Stand haben wir, wenn wir ins MGG (neu) Personenteil BACH (1999 Werner Breig) schauen:
Jetzt würde ich mich noch im Internet kundig machen, was es über Vivaldis op.3 mitzuteilen gibt, etwa hier, merken wir uns also: Konzert Nr.8 a-moll, RV 522, es war die Vorlage für Bachs BWV 593. Und diesen hochbegabten Prinzen Johann Ernst sollte man gesondert zur Kenntnis nehmen: vielleicht erst einmal in lexikalischer Kürze hier, dann in netter journalistischer Form hier.
Da ich immer mal wieder von einem Bach-Fieber erfasst werde, und zusätzlich zu meinen Cis-Werken des Wohltemperierten Claviers, die ich seit Monaten übe, kamen heute von RG Vorlesungsunterlagen zu den Brandenburgischen Konzerten, und ohne direkten Zusammenhang fiel mir das Wort „Vivaldi-Fieber“ ein, das ich irgendwo gelesen hatte. Was bedeutete Vivaldi denn genau für Bach, was hat er da gelernt? Das war auch ausschlaggebend für die Brandenburgischen Konzerte! Und ich erinnerte mich an die eigene Dummheit, dass ich Vivaldi nicht begriffen habe, wann war das etwas? vielleicht 1965, als Franzjosef seine vier besten Schüler das Vivaldi-Konzert für 4 Geigen aufführen lassen wollte, an vielleicht 2 Proben erinnere ich mich: und ich habe mich unglaublich gesträubt, nicht recht geübt usw. weil ich die Musik so unbedeutend fand. Dieser dümmliche Umgang mit Vivaldi war damals noch weitverbreitet („V. hat nur 1 Konzert geschrieben und das 100mal!“). Damals hatte der Hype um die „Vier Jahreszeiten“ noch nicht eingesetzt (das begann erst mit Nigel Kennedy). Gut, ein massenpsychologisches Seminarthema. Also: jetzt kam ich auf das Buch von Geck, darin musste etwas stehen, was mir im Augenblick – auch „psychologisch“ – auf die Beine hilft. Auch: das aktuelle Bach-Fieber auszunutzen, und da sehe ich: die entscheidenden Stellen habe ich schon vor 15 Jahren bei Martin Geck rot vorgemerkt. Manche Wege muss man mehrmals im Leben entdecken.
Und genau dank des soeben genannten Namens „Ahnsehl“ bin ich per Internet überhaupt darauf gekommen, in den analogen eigenen Bücherschrank zugreifen. Was mich ermächtigt, Martin Geck weiter zu zitieren:
Peter Ahnsehl äußert dementsprechend die Vermutung, Bach müsse das „etwa 1712 oder früher einsetzende Vivaldi-Fieber“ aus einem „so weltoffenen Hof wie dem Weimarer unbedingt [von Anfang an] zur Kenntnis genommen haben“. Was die genannten Vivaldi-Übertragungen angeht, so ist deren hohes Maß an Souveränität für Klaus Hofmann Anlaß zu der Vermutung gewesen, Bach habe damals „wohl selbst bereits über kompositorische Erfahrungen auf diesem Gebiet verfügt oder sich zumindest mit der Gattung nicht zum ersten Mal auseinander[ge]setzt.“ Da diese Bearbeitungen augenscheinlich Auftragsarbeiten für einen der beiden Weimarer Dienstherren darstellen, sagt ihre Entstehungsgeschichte jedenfalls nichts über ihren inneren Stellenwert innerhalb des Bachschen Konzertschaffens aus.
Quelle Martin Geck: »Denn alles findet bei Bach statt« Erforschtes und Erfahrenes Metzler Musik Stuttgart Weimar 2000 (Anmerkungsziffern in meinem Zitat weggelassen)
Man darf es sich also nicht zu einfach machen und sagen, das Vivaldi-Fieber habe Bach auf einen neuen Weg gebracht, und das Datum 1713/14 sei als Wegscheide eines neuen Formgefühls anzusetzen. Ich will mich auch hüten, den anfangs hervorgehobenen starren Klang des „Unterbaus“ aufheben zu wollen, indem die bewegte Oberstimme registermäßig stärker beleuchtet wird. Ist nicht gerade dieser „fast“ ereignislos durchgehaltene Klang das Charakteristikum eines emphatisch betonten Formwillens, ein offensives „Stop and go“, das seine Antwort in der absteigenden Basschromatik und dem parallelen Oberstimmengang der nächsten Zeile bekommt?
Hinzu kommt, dass man in der Orgel kein unbeholfenes Orchester sehen sollte, dem dennoch nachzueifern sei. „Organum Plenum“ ist ein gutes Ideal und spielt im Barock eine Rolle, die einer späten Klangfarben-Ästhetik unbehaglich sein mag.
Noch etwas fiel mir heute morgen auf, als ich den neuen Beitrag der Orgelserie zum Advent aus der Ohligser Kirche St. Joseph (Sebastian) abrief. In unserm Laptop ergab der zweite Satz der Orgelsonate in G-dur eine unsäglich dissonante Kontrapunktik, die mich vermuten ließ, dass man den wirklichen Bass gar nicht hört, obwohl man die Fußarbeit des Organisten visuell deutlich erkennen konnte. Das Phänomen veranlasste mich, eilends zum Computer in meinem Zimmer hinaufzulaufen, der mit einem besseren Lautsprecher-Ensemble ausgestattet ist. Und meine Ahnung bestätigte sich. Das Pedal war mit einem Aliquot-Register gekoppelt, was besagt, dass parallel zu der tiefen Bass-Stimme eine Verdopplung im Abstand Oktav+Quint mitläuft, reine Quint-Parallelen, die also im Obertonbereich der tiefen Basstöne angesiedelt sind und normalerweise schwach wahrgenommen werden, als seien sie deren reale Bestandteile. In Wirklichkeit sind sie durch echte Pfeifen extern „angekoppelt“. In diesem Fall (den ich nicht vorführen kann, zumal ich auch nicht den Organisten denunzieren will, der es garantiert richtig hört) muss man sagen: vom Hörer aus misslingt es, denn er hört die Obertonlinie viel zu stark, zudem („natürlich“) in der falschen Tonart (nämlich in h-moll statt in e-moll), so dass sie mit einigen Tönen der Melodiestimme regelrecht kollidiert. Der reale Bass aber (in der richtigen Tonart) erscheint nur als dumpfes Stör- oder Brumm-Element. Sobald nun die wirkliche 2. Stimme erscheint, ist das tonale Chaos perfekt. In den folgenden Notenzeilen sehen Sie diese parallel zum Bass verlaufende „falsche Stimme“ in roter Farbe notiert und zwar bis genau zum Einsatz der 2. Stimme:
Sonate G-Dur BWV 530 2. Satz
Dies hat nicht mit unserm Thema zu tun, zeigt allerdings die Tücken des Orgelklangs, der im Raum (draußen) leicht etwas andere Wirkungen zeitigt als am Spieltisch, wo die wirklich mit den Füßen gespielte Basslinie auch psychologisch eine so dominierende Rolle spielt, dass man ihr Aliquotregister vollkommen wegblendet.
Am frühen Montagmorgen nach meinem Geburtstag, einem angeblich recht hohen, – der Tag danach war zugleich der Geburtstag meines Vaters (1901-1959) -, las ich zum Trost in der Sonderausgabe der ZEIT einen schönen Leitartikel von Giovanni di Lorenzo: Kann Vergangenheit trösten? Daraus die folgenden Zeilen, die mich an unsere Truhe, ein Erbstück aus dem Besitz der Schwester meines Vaters (Tante Ruth), denken ließ:
Als Kind hatte ich im Haus meiner Großeltern und in der Wohnung meiner Eltern oft Angst, wenn ich allein war. An beiden Orten standen antike Möbel. Einmal nahm ich aus meinem Kinderarztkoffer das Stethoskop heraus, dockte mich an eine uralte Truhe an und stellte mir vor, sie würde mir aus ihrem Leben erzählen, aus allem, was sie über Jahrhunderte beobachtet und erlebt hatte. Ich weiß nicht mehr genau, was sie mir damals verraten hat, aber die Angst war wie weggeblasen.
Quelle DIE ZEIT 7. Dezember 2020: 2020 Was für ein Jahr! Der große literarische Jahresrückblick der ZEIT. Titelseite rechts: Kann Vergangenheit trösten? (Von Giovanni die Lorenzo, 2020) Titelseite links: Ein neuer Weltgeist entsteht (Von Alexandre Dumas, um 1860)
Ich bewege mich in Richtung Keller. Von wegen Angst, ja oder nein?
Ist sie zu erkennen? Bitte anklicken, etwas rustikal, das Teil! Aber mit einer merkwürdigen Aura.
Vielleicht beherbergte die Truhe die Aussteuer einer Vorfahrin, die 1813 heiratete. Genau 100 Jahre später wurde mein Mutter auf der Lohe bei Bad Oeynhausen geboren. Und zufällig auch die besagte Tante. In Roggow oder schon in Belgard a.d.Persante? Man wird alte Choräle gesungen haben. Zur gleichen Zeit wurde in Wien Beethovens siebte Sinfonie uraufgeführt.
Es war auch Zufall, dass ich mir „Das Treffen in Telgte“ wieder vornahm. Noch einmal fast 200 Jahre zurück, Deutschland war verwüstet worden. Ich hatte aber lediglich nachlesen wollen, wie man sich die alten Singer-Songwriter zur Zeit Grimmelshausens vorstellen könnte. Zudem erinnerte ich mich, dass der Geiger Werner Ehrhardt mich einmal darauf aufmerksam gemacht hat, mit welcher Hochachtung man in der Grass-Erzählung dem Komponisten Heinrich Schütz begegnete. Und ich fand u.a. dies:
[Ein Text über das Choralsingen]
Heinrich Schütz‘ Vorwurf, es fehle der deutschen Poeterey an Atem, vollgestopft mit Wortmüll sei sie, keine Musik könne sich in ihrem Gedränge mit sanfter oder erregter Geste entfalten: Diese schlechte Zensur, der als Fußnote unterstellt war, es habe wohl der Krieg das Gärtlein der Dichtkunst verdorren lassen, blieb als These haften, denn, von Dach aufgerufen, redete Gerhardt nur allgemein hin. Es habe der Gast einzig seine hohe Kunst im Auge. Bei so kühnem Überblick werde ihm das schlichte Wort entgangen sein. Das wollte zuerst Gott dienen, bevor es sich der Kunst beuge. Weshalb der wahre Glaube nach Liedern verlange, die als Wehr gegen jegliche Anfechtung stünden. Solche Lieder seien dem einfachen Gemüte gewidmet, so daß die Kirchengemeinde sie ohne Mühe singen könne. Und zwar vielstrophig, damit der singende Christ von Strophe zu Strophe seiner Schwäche entkomme, Glaubensstärke gewinne und ihm Trost zuteil werde in schlimmer Zeit. Das zu tun, dem armen Sünder zu ihm gemäßen Gesang zu verhelfen, habe Schütz verschmäht. Selbst der Beckersche Psalter sei, wie er vielenorts hören müsse, den Kirchengemeinden zu vertrackt. Da baue er, Gerhardt, besser auf seinen Freund Johann Crüger, der sich als Kantor aufs strophische Lied verstehe. Dem rage nicht die Kunst vor allem. Dem seien nicht der Fürsten glänzende Hofkapellen teuer, sondern des gewöhnlichen Mannes Nöte wichtig. Dem wolle es mit anderen, wenn auch nicht weitberühmten Komponisten nie zu gering sein, der täglich bedürftigen Christgemeinde zu dienen und strophigen Liedern Noten zu setzen. Er nenne: des so früh zu Gott gegangenen Fleming ›In allen meinen Taten…‹ oder des ehrbaren Johann Rist ›O Ewigkeit, du Donnerwort‹ oder unseres freundlichen Simon Dach ›O wie selig seid ihr doch, ihr Frommen…‹ oder des grad noch geschmähten, nun wahrlich wortmächtigen Gryphius ›Die Herrlichkeit der Erden muß Rauch und Aschen werden…‹, oder auch seine, des ganz dem Herrn ergebenen Gerhardt Strophen: ›Wach auf, mein hertz, und singe…‹ oder was er jüngst geschrieben ›O Welt, sieh hier dein Leben am Stamm des Kreuzes schweben…‹ oder ›Nun danket all und bringet Ehr…‹ oder was er hierorts, in seiner Kammer geschrieben, weil doch der Friede bald komme und dann von den Kirchengemeinden gelobpreiset sein wolle: »Gott lob, nun ist erschollen das edle Fried- und Freudenwort, daß nunmehr ruhen sollen die Spieß und Schwerter und ihr Mord…«
Dieses sechsstrophige Lied, in dessen vierter Strophe – »… ihr vormals schönen Felder, mit frischer Saat bestreut, jetzt aber lauter Wälder und dürre, wüste Heid…« – des Vaterlandes Zustand zu einfachen Wörtern gefunden hatte, trug Gerhardt auf sächsische Weise in ganzer Länge vor. Die Versammlung war ihm dankbar. Rist grüßte ergeben. Schon wieder in Tränen: der junge Scheffler. Gryphius stand auf, ging auf Gerhardt zu und umarmte ihn mit großer Gebärde. Danach wollte sich Nachdenklichkeit breitmachen. Schütz saß wie unter eine Glasglocke gestellt. Albert voll innerer Not. Dach schneuzte sich laut, mehrmals.
Da sagte Logau in die abermals ausbrechende Stille: Er wolle nur bemerken, daß das fromme Kirchenlied, wie es von vielen, die anwesend seien, fleißig für den Gemeindegebrauch hergestellt werde, eine Sache sei, die zum literarischen Streit nicht tauge; eine andere Sache jedoch nenne er des Herrn Schütz hohe Kunst, die sich um das alltägliche Strophenlied nicht kümmern könne, weil sie auf vielstufigem Podest dem beliebigen Gebrauch entrückt stehe, doch gleichwohl, wenn zwar über die Gemeinde hinweg, einzig dem Lobe Gottes erschalle. Außerdem wolle, was Herr Schütz kritisch zum atemlosen Sprachgebrauch der deutschen Poeten angemerkt habe, gründlich bedacht sein. Er jedenfalls danke für die Lektion.
Quelle Günther Grass: Das Treffen in Telgte dtv Deutscher Taschenbuch Verlag München 1994 (Seite 89f)
Wiki: Auch Heinrich Schütz veröffentlichte 1628 92 Tonsätze, denn er hatte in den Gedichten Trost gefunden, nachdem seine Frau verstorben war. / Mehr darüber in MGG (neu) Personenteil Art. Schütz Sp.398
ZITAT
Der Leipziger Theologieprofessor C.Becker hatte mit seinem deutschen Reimpsalter (1602) das Ziel verfolgt, der weitverbreiteten Versverdeutschung des Hugenottenpsalters durch A.Lobwasser (1573) einen lutherischen Liedpsalter entgegenzustellen. Die Versmaße seiner Dichtungen hatte er so gewählt, daß sie sich auf bekannte Melodien des lutherischen Kirchenliedrepertoires des 16. Jahrhunders singen ließen. Schütz hielt dieses Verfahren für unangemessen und verwendete traditionelle Melodien nur dort, wo schon Becker auf bereits vorhandene Psalmnlieder zurückgegriffen hatte. Die Beckerschen Dichtungen vertonte er zunächst in Auswahl für seine »HaußMusic« und die Morgen- und Abendandachten der Kapellknaben, ohne auf eine selbständige Komposition und eine Publikation abzuzielen. Den Ausschlag für die Vollendung des Werkes gab der frühe Tod von Schütz‘ Frau Magdalene am 6. September 1625, in dessen Folge er sich für längere Zeit zu größeren Kompositionen unfähig fühlte und aus der Vertonung des Becker-Psalters in seiner »Betrübnüß […] Trost schöpffen« konnte. Die Texte sind laut Titel »Nach gemeiner Contrapuncts art« (also im Note-gegen-Note-Satz] vertont. Dennoch sind sie nicht eigentlich als Kantionalsätze anzusprechen, da sie keine Harmonisierungen präexistenter Melodien darstellen, sondern von vornherein als vierstimmige Sätze konzipiert sind. In ihrer oftmals individuellen und expressiven Gestaltung stellen sie einen Typus sui generis dar.
Quelle MGG (neu) Personenteil Band 15 / Bärenreiter Kassel 2006 / Sp. 398 Heinrich Schütz (Autor: Werner Breig)
Meine Suche hatte ursprünglich einem anderen Faktum gegolten: wie es eigentlich dazu gekommen ist, die einfachen Melodien für den Gemeindegesang zu erschaffen. Genau die, die mich in den Bachschen Kantaten und Passionen so früh ergriffen haben. Auch vom Turm der Pauluskirche in Bielefeld, auf den unser Kinderzimmer in den frühen 50er Jahren ausgerichtet war, wurde eine Choralmelodie jeden Samstagnachmittag (?) von einem einzelnen Trompeter in alle 4 Richtungen geblasen. Wochenende!
Diese Suche hatte ich vor vielen Jahren schon einmal durchgeführt und war im alten MGG fündig geworden. Die damals rot unterstrichenen Abschnitte möchte ich noch scannen, Stichwort Gemeindegesang, Autor Walter Blankenburg, mir seit 1982 bekannt durch das dtv-Büchlein über das Weihnachts-Oratorium.
[Zur frühen Praxis des Choralsingens MGG (alt) „Gemeindegesang“]
Am besten zeigen wohl die kaum noch homophon zu nennenden, figurierten Eccardschen Sätze [1597] , daß ihr Zweck keinesfalls die harmonische Stützung des Gemeindegesangs, sondern ein Nebeneinanderwirken von Chor und Gemeinde sein sollte. Durch die Kantionalien erfährt man nun erstmals etwas Gewisseres über das Zeitmaß des Gemeindegesangs im Reformations-Jahrhundert. Während Osiander allgemein forderte, daß „die Schüler sich in der Mensur oder Takt nach der Gemein allerdings richten und in keiner Noten schneller oder langsamer singen, denn eine christliche Gemeine sebigen Orts zu singen pflegt, damit der Choral und figurata musicafein beinander bleiben nund beide einen lieblichen Concentum geben“, lautet es in Eccards Vorwort: „Endlich vnd zum Beschluß / wil ich einen jeglichen Cantorem hiemit obiter gantz freundlich erinnert haben / das er im singen der Kirchen Lieder / sich einen feinen langsamen Tacts befleissigen vnd gebrauchen wolle / da durch wird er zu wege bringen / das der gemeine Man die gewöhnliche Melodiam desto eigentlicher hören / vnd mit seiner Cantorey vmb so viel leichter vnd besser wird fortkommen können.“
Daraus ist zu entnehmen, daß die Gemeinde langsamer als die Chöre zu singen pflegten. wenn für diese der integer valor des menschlichen Pulsschlags maßgebend war, so wird im allgemeinen für den Gemeindegesang ein etwas ruhigeres Zeitmaß angenommen werden müssen. –
Das Generalbass-Zeitalter brachte im 17. Jahrhundert infolge des barocken Bedürfnisses nach der Darstellung von Affekten allmählich das Verlangen von Harmonisierungen der Gemeindeliedweisen mit sich. In dieser Zeit begegnen die Anfänge des durch die Orgel begleiteten Gemeindegesangs. […] Freilich lassen solche Gesangbücher nicht schon auf Gemeindegesang-Begleitung durch die Orgel in ihren Entstehungsorten schließen, denn sie waren ja mindestens ebensosehr für die Hausandacht wie für den öffentlichen Gottesdienst bestimmt. Es zeigt sich hier nur das jetzt allgemein werdende Bestreben zur gesangbuchmäßigen Behandlung des Kirchenliedgesangs, die u.a. eben auch zur Orgelbegleitung geführt hat. Daß der natürliche Anknüpfungspunkt für den Begleitsatz der Kantionalsatz war, obwohl dieser, wie gesagt, einen anderen Zweck verfolgte, versteht sich von selbst. Die Orgel ist als Begleitinstrument für den Gemeindegesang diesem im Laufe der Geschichte nun freilich wenig förderlich gewesen; das wurde früh erkannt. So hat sie fraglos einen besonderen Anteil an einer allgemeinen Verlangsamung des Gemeindegesangs, die noch im Laufe des 17. Jahrhunderts wiederum um des affekthaften Ausdrucks beim Singen willen einsetzte und sich vom integer valor immer weiter entfernte. Nicht eigentlich durch die Orgelbegleitung hervorgerufen, aber mit ihr im Bunde ging die Tendenz zur totalen Isorhythmisierung des Gemeindegesangs von etwa nach der Jahrhundert-Mitte ab, eine der folgenschwersten Wandlungen während seiner Geschichte, nachdem im frühen 17. Jahrhundert unter dem Einfluß weltlicher Geselligkeitslieder, vor allem der Kanzonette und des Balletto, noch einmal besonders ausgeprägte rhythmische Melodietypen durch Männer wie J.H.Schein, M.Vulpius, M.Franck, J.Crüger, J.Ebeling u.a. in den Gemeindegesang gekommen waren. In der Folgezeit herrschte aber nun nicht nur in den Neuschöpfungen die Isorhythmik vor, es sei denn, daß vom weltlichen Solo-Arienstil der Krieger, Ahle usw. diesem besonders eigene rhythmische Schlußwendungen oder daktylischer Dreiertakt übernommen wurden, sondern man nahm nun auch die rhythmische Planierung aller älteren Kirchenweisen vor und versah zudem vielfach die Weisen mit dehnenden Zwischennoten. In dieser Zeit, der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, sind wahrscheinlich auch die Fermatensetzungen zwischen den einzelnen Melodiezeilen aufgekommen, was im Zeitalter von Kanzonette und Balletto höchstens vereinzelt schon vorstellbar ist. Es gibt einen untrüglichen Beweis dafür, daß gegen Ende des 17. Jahrhunderts allenthalben Zeileneinschnitte beachtet wurden, nämlich die um diese Zeit aufgekommenen Zeilenzwischenspiele (sog. Passagen) der Orgel, die für ca. anderthalb Jahrhunderte dem Gemeindegesang sein Gepräge geben sollten. Daß nach heutiger Vorstellung dieser dadurch nicht gefördert, sondern wesentlich gehemmt wurde, bedarf keiner besonderen Begründung.
Quelle MGG (alt) Band 4 Artikel „Gemeindegesang, B. Evangelisch“ / Autor: Walter Blankenburg / Bärenreiter Verlag Kassel und Basel 1955 /
Erinnern Sie sich, was mich neuerdings wieder auf den Choral-Trip gebracht hat? Nein, müssen Sie nicht, vielleicht sind Sie neu hier!!! Es war diese einzigartige Weihnachts-CD, die man – wie ich finde – zu jeder Jahreszeit hören kann; sie ist ja auch im Sommer entstanden, wie man erfährt. Und sie trifft einen Nerv unserer Zeit, – nicht nur meiner Lebenszeit. Und bei mir nicht nur, weil mein Sohn im Hintergrund bei der Redaktion dieser CD beteiligt ist, und nicht nur, weil ein Freund hinter der ganzen Produktion steht, Walter Nußbaum mit seiner Schola Heidelberg. Es kommt vieles zusammen, kein Wunder, dass die erste Auflage der CD nach zwei Wochen ausverkauft war, – ich muss nicht die Werbetrommel rühren. Ich sehe auch das Titelbild sehr gern und die weiße Fermate, die im Hintergrund schwebt, wie der Heilige Geist, denke ich, – auch wenn ich ihn mir lieber bei Hegel als in der Bibel vorstelle. Aber auch die Texte, die ich höre, rühren mich an, sowohl die gesungenen als auch die von Bodo Primus gesprochenen des Philosophen Enno Rudolph. Für mich die Krönung der Corona-Zeit. Um noch einmal Giovanni di Lorenzo zu zitieren: „… die Angst war wie weggeblasen…“.
Oder im externen Fenster hier. Oder auch über jpc, wenn es um das physische Original geht.
Ich habe eben den Philosophen (und Theologen) Enno Rudolph erwähnt; vielleicht glauben Sie, dass hier durch die Hintertür doch wieder ein „harmloser Brauch“ beschworen werden soll, der gedanklich nichts kostet. Mitnichten. Die Zeit ist anders. Das spürt man auch, wenn derselbe Autor ein Riesenwerk behandelt, das die gesamte philosophische Vergangenheit des Abendlandes auf 1000 Seiten vorüberziehen lässt. Und darin gebe es kein einziges überflüssiges Wort, meint unser Autor. Mehr davon: Hier. (Enno Rudolph über Jürgen Habermas)
Hier fehlt noch ein besonderer Choral. Ich weiß zwar schon welcher, aber ich muss ihn noch etwas schöner abschreiben – für Klavierspieler – und eine Aufnahme des Orchesterstücks suchen. Ich vermute, dass der Komponist bei dem Entwurf eines seiner letzten Werke 1943 an die verlorene Heimat gedacht hat, vor allem an seine Mutter. Während mir plötzlich ein anderes Kind (mit Oma) in den Sinn kam, – in der Zeit vor rund 20 Jahren. Zugleich denke ich an den kleinen Bartók mit seiner Trommel, und die Mutter, die ihn ermutigte. Sehe das seltsam erwachsene Kind auf dem Bild von Hieronymus Bosch. Wir sind von Vergangenheit eingehüllt. Und wo bleibt der gesuchte Choral?
Musik Landschaft Bücher – und was es für mich bedeutet
Solingen 28. November 2020
1997 bis heute
Dieses Filmchen gibt nur eine winzige Andeutung dessen, was das Buch bietet. Vor allem die lebendig stille Landschaft und die Musik selbst, die dem Buch in Gestalt der CD und der DVD beigegeben ist, eröffnen die weiten Perspektiven. Niemand, der dem Obertonsänger bei der Produktion seiner Töne auf den Mund geschaut hat, wird der Versuchung entgehen, dergleichen immer wieder selbst auszuprobieren, dem physisch-physikalischen Urgrund der Musik nahezukommen, auch wenn er noch keine Melodien zu produzieren lernt. Man spürt, dass hinter dieser DVD ein Musiker steckt.
Wieso bin ich im JF Club? Das ist eine kurze Geschichte. VAN ist schuld. ⇒ Hier. Hochinteressant und sympathisch. Aber ich verhehle nicht, dass es auch befremdende Momente gibt, wenn ich etwa von maßgeblichen Vorbildern der jungen Musikerin höre, die schon früh auch das Wohltemperierte Klavier in den (Pianisten!-) Fingern hatte. (Wie konnte da Glenn Gould eine positive Rolle spielen?) Und bei aller Verehrung, – braucht man denn wirklich vier Portraits der Interpretin (Fotos: Dirk-Jan van Dijk), – wenn man sie mit Bachs Solissimo-Werken für Violine hören will? Aber das war ja damals…
Und schon damals so vollkommen in Ausdruck, Intonation und Dynamik, dass man es kaum in Worte fassen kann. Jede Idee, dass man es hier oder da anders machen könnte, ist nach wie vor möglich, aber genau genommen doch überflüssig. Abgesehen von wenigen strittigen Lesarten (s.a. hier). Gerade die empfindlichsten Stücke gelingen überwältigend schön und zart, ich warte z.B. auf die Siciliana in der G-moll-Sonata, auf die Loure in der E-dur-Partita, auf die Sarabanden in der h-moll- und d-moll-Partita, traumentrückt die einen, graziös-engelgleich die anderen. Aus irrationalen Gründen hat mich die Ciaccona mit der holländischen Geigerin Janine Jansen mehr erschüttert, und ich könnte dingfest machen, an welcher Stelle, an welchem Übergang (nicht etwa beim Eintritt des pp-Dur-Themas, wo es „fällig“ wäre) das Herz gewissermaßen zerspringen wollte, es ist egal, und überhaupt sind diese Detail-Vergleiche großer Interpretationen absolut sinnlos. Man soll sich der Feinfühligkeit, Anfälligkeit der eigenen Innerlichkeit nicht rühmen, mal ist es hier, mal dort, so ist Musik, so wirkt sie, und vor allem ist sie soviel größer als man wirklich als kleiner Mensch fassen kann…
von etwa 1000 bis heute
Musik und Gesellschaft / Marktplätze – Kampfzonen -Elysium / Band 1 1000-1839 Von den Kreuzzügen bis zur Romantik / Frieder Reininghaus, Judith Kemp, Alexandra Ziane (Hg.) Königshausen & Neumann Würzburg 2020
Musik und Gesellschaft / Marktplätze – Kampfzonen – Elysium / Band 2 / Vom Vormärz bis zur Gegenwart 1840-2020
Vieles darin von Frieder Reininghaus, der in den 90er Jahren (Bertini!) aus dem WDR-Programm verschwand und (für mich) nun wieder neu zu entdecken ist. Er hat seine Zeit genutzt. Was ich hier zitiere, hätte ich z.B. gern schon früher gekannt (etwa hier).
über Beethovens Neunte
Ein großes Werk, auch diese beiden Bände, es sind zwei Mal 700 Seiten, und ich erhoffe mir eine Steigerung dessen, was einst von Hans Mersmann, Jacques Handschin, Georg Knepler und Wilfrid Mellers avisiert worden ist. Peter Schleuning nicht zu vergessen. Und – nebenbei – von Leuten wie John Blacking, Mantle Hood und Bruno Nettl ins Universale gewendet wurde. Hier nun sieht man immerhin Japan mit Gagaku, Musik der Sinti und Roma, den Flamenco und die Beatles berücksichtigt, na ja, auch Volksliedsammlungen des Balkan. Man kann nicht alles wollen, muss auch nicht das Lexikon MGG ersetzen wollen.
Fehlt mir noch was? Weiter mit Bach, ebenso mit Indien! Notfalls weiter im Homeoffice. Und hoffentlich eines Tages wieder im wirklichen Leben. ABER: mit dem gleichen Maß an Vorbereitung, nicht vergessen!
Die aktuelle Solinger Initiative HIER (29.11.20) Bach Orgelwerke online mit Wolfgang Kläsener: Sonate I Es-dur BWV 525, Info dazu bei Wiki 2. Satz c-moll Adagio (30.11.20), und so geht es mit Bach bis Weihnachten weiter, ein schöner Adventskalender. Weitere Beispiele sind hier allerdings nicht aufzurufen, sie erreichen die kleinere Gemeinde derer, die es gratis „abonniert“ haben. Bei mir tut es die erhoffte Zusatzwirkung: ich studiere die Werke aufs neue, z.B. auch anhand greifbarer Youtube-Aufnahmen, in diesem Fall für einige Tage mit Wolfgang Zerer, der hier eine Einführung gibt, und dann die drei Sätze der Sonate spielt, extern hier abzurufen. Im folgenden Link – weils so schön aussieht – auch direkt:
Johann Sebastian Bach: Choralbearbeitung „Nun komm, der Heiden Heiland“ BWV 659
Erste Adventswoche – Freitag 4.12.2020
Johann Sebastian Bach: Choralbearbeitung „Nun komm, der Heiden Heiland“ BWV 660
Erste Adventswoche – Samstag 5.12.2020
Johann Sebastian Bach: Choralbearbeitung „Nun komm, der Heiden Heiland“ BWV 661
Es ist nicht so einfach, wie es scheint, – ein bearbeiteter Choral. Und ich kann gar nicht anders: ich muss Bach ernster nehmen, als es vielleicht einem Gemeindemitglied in den Sinn käme. Natürlich: man muss den Choral schon kennen (liebe Katholiken: auch Ihr!), er ist die Hauptsache, ist es aber wieder auch nicht: er hat seinen Auftritt, zweifellos; aber das, was ihn jetzt und hier groß macht, ist das „Beiwerk“, das Bach liefert ; denn dieser inszeniert ihn, unverwechselbar. Ein großes Wort, – wenn man im Schmieder (dem Bach-Werke-Verzeichnis 1950) nachschaut:
Es ist vielleicht nicht einmal der Forschung letzter Stand. Und ich habe sogar noch eine berühmte Fassung übersehen, hier ist sie:
An eine unvergessene Kölner Initiative sei HIER erinnert, – einzigartig schöne Indische WDR-Konzerte, auch in Bielefeld und Bonn. Bleibendes Echo in Holland. If you happen to like ragamusic the WDR-radiotransmission is not-to-be-missed!Vielleicht sogar dokumentiert wie hier, oder im WDR Hörfunkarchiv wie hier ? Also: WDR 3 in alten Zeiten, die Entdeckung der Sängerin Kaushiki und des Sitarmeisters Purbayan Chatterjee, verfügbar bis zum 30.12. 2099 (!).
Ich habe aus der Überschrift das Wörtchen „mich“ entfernt, denn sie wird wohl für alle gelten. Für alle, die diese Fuge am Klavier geübt haben oder sie auch nur sehr oft mit Verstand gehört haben. Es ist zunächst einmal die Kürze des Themas, man wird sich bald hüten, es zu unterschätzen. Wenn es auch vielleicht gar kein „Thema“ ist, sondern nur ein Motiv, der Beginn einer Bewegung, die sich durch Repetition, Abwandlung, Perpetuierung ins Unendliche fortsetzen könnte. Die folgende Kopie zeigt nur die zweite Hälfte des Praeludiums, die ganze Fuge und den Beginn des nachfolgenden Praeludiums cis-moll, das ich ja schon hier behandelt habe.
Im folgenden Beispiel ab 1:28 (nach dem ersten Teil des Praeludiums) Fuge ab 1:50 hier
In meiner Kroll-Ausgabe (Edition Peters) – an der ich hänge, weil ich die alte Czerny-Ausgabe meines Vaters nicht nach Berlin mitnehmen wollte und dann über diese nicht ganz so alte, gratis erworbene, die jetzt fast in ihre Bestandteile zerfällt, sehr glücklich war – also darin steht dieses Werk in Des-dur (aus praktischen Gründen: 5 Vorzeichen statt 7, das lohnt sich doch?)
Das Original steht in Cis-dur, wie man im Londoner Faksimile sieht: ein Wald von Kreuzen am Anfang jeder Zeile! Sind es 9 oder gar 11? fis, cis, gis, dis, ais, eis, his – plus einige Oktav-Verdopplungen. Die Oberstimme samt Vorzeichen ist in der Handschrift dank des Sopranschlüssels eine Terz tiefer zu lesen, die ersten Töne der rechten Hand heißen also gis – his – gis. (Der Schlüssel auf dieser Linie wurde in Chorpartituren der Zeit üblicherweise für den Sopran gebraucht.)
Handschrift JSB
Abschrift Altnikol
Von diesem Original und der Abschrift (Altnikol) her kann man leicht verstehen, dass es eine Frühfassung dieser Fuge gibt, die in C-dur stand, wesentlich kürzer war, sich aber gut eignete, durch bloße Vorzeichensetzung nach Cis-dur transponiert zu werden. Warum? Weil Bach für seinen zweiten Band des Wohltemperierten Claviers ein Werk in dieser schwierigen Tonart brauchte. Auch vom Praeludium gab es eine Frühfassung in C-dur, und da es bereits in eine kleine Fuge mündete (s.o. Notenblatt ganz links, Takt 25), wäre es möglich, dass es noch nicht im Blick auf eine separate Fuge hin konzipiert war. Wie dem auch sei, wir gehen von dem letztgültig Gegebenen aus, das – wie Alfred Dürr meint – wohl kurz vor 1740 vollendet war. Man kann allerdings reflektieren, wie das Werk ausgesehen hat, wie es seine Form verändert hat – sagen wir: von 1710 bis 1740 – , wie es wunderbarerweise allmählich bedeutend geworden ist, was ja auch verwirrend ist. Man kann sich auch diesen gedanklich-fiktiven Problemen entziehen, indem man sich rigoros auf das beschränkt, was am Ende auf dem Papier stand und von Bach abgesegnet wurde, – als habe es in ihm geschlummert, bis es endlich zu einer Form gefunden hat, die wir nun analysieren können, als sei sie von Gott selbst geschaffen. Was wir natürlich auch könnten, – wenn sie ganz anders aussähe. Wenn das Praeludium aus zwei Teilen besteht, einem Klangflächenabschnitt von 25 Takten und einem „Fugato“ von wiederum 25 Takten, dann ist das vielleicht nur eine glückliche Taktzahlenfügung, die man aber nicht hört und fühlt, zumal der zweite Teil mit Allegro bezeichnet ist und rational in kleine Einheiten („Durchführungen“) gegliedert ist, während der erste bereits ein „Klangflächenpraeludium“ für sich ist, dessen Taktgliederung bewusst in Dunkel gehüllt bleibt. Paradox: Es ist willkürlich, ja sinnlos, die zuletzt gegebene Form als eine besonders sinnvolle zu beschreiben, sie ist wie sie ist; und könnte von Andras Schiff garantiert als eine sinnvolle vorgetragen werden. Und wie schön, dass die nach dem Fugato folgende Fuge in Takt 25 einen Höhepunkt erreicht, bei dem das Thema in einfachen und in doppelten Notenwerten gleichzeitig erscheint, außerdem ein Orgelpunkt auf Gis und endlich Kaskaden von Zweiunddreißigstel-Folgen – – – ein böser Geist aber flüstert mir ein: Bach hätte die Form an jedem Punkt ihres Verlaufes d e h n e n können, wenn er es gewollt hätte, und wir wären nachträglich mit allem einverstanden gewesen. Und ein anderer böser Geist flüstert mir ein: Bach hat seine Werke nie gekürzt, wenn er sie überarbeitet hat, sie sind „grundsätzlich“ länger geworden. Manchmal wie hier um das doppelte, und genau so im WTK I die Fuge in As-Dur, die am Ende von Chromatik überquillt. Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt, Und viel zu grauenvoll, als daß man klage: Daß alles gleitet und vorüberrinnt. Sagt Hugo von Hofmannsthal in seinen Terzinen über Vergänglichkeit. Bach hätte ihn trösten können. Aber der verfügte ja auch über die Stützen der (end)gültigen Kadenz.
Aber warum endet er beim letzten Akkord mit einer Terz in der Oberstimme, was lässt er offen? Und warum braucht die Hand des Pianisten so lange, um auf diesem Klang zur Ruhe zu kommen? (Unschön, dass Technik den Ton abstellt, ehe der Pianist die Hände von den Tasten genommen hat.)
Sagen Sie selbst, liebe Leserin, lieber Leser, die Sie hörende Menschen sind, – stammt diese Darbietung aus einer Gesamtaufführung des Wohltemperierten Klaviers? Wird der Pianist gleich aufstehen und sich verbeugen? Oder wird er sich in das Mysterium des Cis-moll-Praeludiums versenken? Während wir husten und uns räuspern?
Die Hörsituation kann nicht vollkommen sein, da wir am Computer sitzen. Oder gar das Smartphone betätigen. Und wir befinden uns indiskret nah am Pianistengesicht.
Exkurs zu Beethoven op.110
Vorweg die Seite 1 der Bach-Fuge in der Des-dur-Notation:
Man weiß, wie gründlich Beethoven seit früher Jugend Bachs Wohltemperiertes Klavier studiert hat. (Ich wüsste gern, ob in seinem Druck bereits dieses Cis-Werk in Des notiert war!) Jürgen Uhde hat bereits in seinem großen Analysen-Buch über Beethovens Klavierwerke III, sich auf Karl Michael Komma berufend, die Fuge aus op.110 auf Bach bezogen, allerdings auf dessen Gis-moll-Fuge BWV 887. Mir scheint es dagegen auffällig, dass ein Zusammenhang mit der Fuge WTKII in Cis- bzw. Des-dur besteht, deshalb habe ich eben auch die Seite 1 von Bach noch einmal wiedergegeben und lasse hier die Zeilen von Beethoven folgen, in denen mir der Bezug evident erscheint:
Zwischen diesen beiden Abschnitten liegen 150 Takte, darin die Wiederkehr des „Klagenden Gesangs“, dem vorher das Fugenthema geantwortet hatte, und danach wiederum folgt die Fuge II mit dem Thema in der Umkehrung. Aber genau im dritten Takt des hier wiedergegebenen Abschnitts erkennen wir auch die Originalgestalt des Themas, allerdings fast unkenntlich in beschleunigter Form im Bass und zugleich (nach dem Doppelstrich) in verlangsamter Form im Diskant. Es ist diese Prozedur, an die man sich auch in Bachs Fuge erinnert fühlen könnte, und zwar in Durchführung II, wo zum erstenmal Sechzehntelketten mit einem eingestreuten Zweiunddreißigstel-Motiv erkennt, zugleich in Takt 9 die „Versuche“, mit einer Umkehrung des Themas zu arbeiten, eine Aktion, die ins nachfolgende Zwischenspiel (T. 11 bis 14) übergreift. Was nunmehr die ganze Fuge über virulent bleibt, incl. einer Verlangsamung (Augmentation) des Themenkopfes ab Durchführung V (Takt 25 Mittelstimme).
Die „Prozedur“ klingt in Worten viel komplizierter als in Tönen am Klavier: für den Musiker ist es leicht vorstellbar, dass Beethoven sich während seiner Fugen-Arbeit aufs neue mit Bachs Techniken beschäftigt hat, und die Verbindungslinien von hier nach dort sind unschwer zu ziehen. Um so deutlicher aber die unterschiedlichen Zielvorstellungen: bei Bach am Ende die virtuose Verdichtung in der Tiefe, bei Beethoven der ekstatische Aufbruch in die höchsten Sphären.
Zwischenbilanz
Bach Frühfassung
Beethoven Verkleinerung
Beethoven Fragmentierung
Ich gebe zu: dieser Exkurs zu Beethoven bringt wenig für das Verständnis der Bach-Fuge, aber einiges für das Beethoven-Verständnis (und im Blog muss ich nicht unbedingt bei der Sache bleiben, sonst müsste ich für jeden „Gedankenblitz“ einen neuen Beitrag eröffnen, unter dem nachher „Fortsetzung folgt“ steht, – bis ich einige Tage später vergessen habe, dass ich da noch eine Abrundung hätte finden sollen). Denn beim Beethoven-Üben war mir das kleine Motiv, das scheinbar abbricht, lange Zeit rätselhaft bzw. ein Zeichen seiner Vorliebe fürs leicht Bizarre geblieben: ich hatte nicht erkannt, dass er in der zweiten („inverso“-) Fuge das „recte“-Thema der ersten Fuge im Zeitraffer zitiert, und dann – letzte Zeile der Wiedergabe oben („Meno allegro“) – noch einmal aufs Doppelte beschleunigt, so das es wie ein Fragment erscheint, und erst dort kam ich eher durch optische (!) Assoziation auf die Bachsche Kontrapunkt-Idee, die eben nicht fragmentarisch gehandhabt wird, sondern ihre Wurzel hat im Kontrasubjekt des zweiten Taktes (Bass), und dieses existierte noch gar nicht in der frühen C-dur-Fassung!!! (s.o. drittletztes Notenbeispiel „Bach früh“). Das ist hochspannend, denn genau daraus entwickeln sich bei Bach ab Takt 28 (in der Durchführung V, also der letzten) die virtuosen Katarakte. Hier könnte niemand einwenden: „aber das hört man doch gar nicht!“: doch, man hört es, wenn man’s weiß. Und so ist es auch bei Beethoven: sobald ich weiß, dass dieses Kurzmotiv kein „Willkürprodukt“, sondern eine Kurzformel der 9 Töne des Fugenthemas ist, in den beiden Takten vor und nach dem Doppelstrich noch vollzählig (Bass g-c-a-d-h-es-d-c-h), jetzt statt 123456789 nur noch 3456789. Und bis zum nächsten Doppelstrich entwickelt sich daraus die Sechzehntelfigur, die als „Begleitfigur“ des Originalthemas von der rechten Hand in die linke wandert, maßgeblich für die gigantische Steigerung sorgt, sich mit beiden Händen in den letzten Takten sogar dergestalt über die ganze Tastatur ausbreitet, dass man unweigerlich an den Anfang der Sonate zurückdenkt (Takt 12ff).
Trotzdem bleibt die Frage: soll ich eigentlich — alles hören — was ich analysiert habe???
Antwort: das kann ich weder fordern noch voraussagen! Manchmal hört man die Besonderheit eher als man sie analysieren kann. Und wenn sich dann ein „Erkenntnismehrwert“ ergibt, bin ich glücklich. So gestern im folgenden Fall.
Ich spiele wieder einmal die Fuge in Des BWV 872 und stutze in der letzten Durchführung (V), genau gesagt in Takt 30 (s.u. nach der rot durchgezogenen Linie, die den Orgelpunkt auf As nebst dreitönigem motivischen Vorspann bezeichnet). Eine dunkle Erinnerung sagt mir, dass ich etwas entfernt Ähnliches gut kenne. Ich schaue in die Cis-dur-Notation… keine weitere Idee. Ich spiele nur die rechte Hand – und allmählich kommt es: ich kenne das aus der Solosonate BWV 1005!!! Natürlich, woher sonst? Die Stelle, an der ich in der Analyse steckengeblieben bin. Denken Sie sich in der 4-zeiligen Violinstimme die entsprechende rote Linie unter den Orgelpunkt, also ab Takt 31 mit dem Ton G, der leeren Saite, bis zum G-dur-Akkord am Ende der Zeile. Und genau von dort an können Sie dann vergleichen und grübeln…
Des-dur Cis-dur
C-dur Sonata BWV 1005
Und jetzt käme die Arbeit, das „Beiwerk“ zu reduzieren, die Tonarten um einen halben Ton zu transponieren und die Stellen untereinanderzuschreiben, bis Sie das, was Sie hören – auch sehen… vielleicht sogar auf der Violine andeuten können, etwa so:
BWV 872 Takt 30ff im Blick auf BWV 1005 Takt 34ff vereinfacht + transponiert.
Das Geheimnis des Taktes 36 (bzw. des Übergangs 36/37) bleibt. Ich glaube, es gibt keinen Geiger, der sich traut, mehr als die „eigentlichen“ Noten zu spielen, Gottseidank, -schon das Crescendo, das Hilary Hahn auf das Viertel mit Punkt (g/h) setzt, scheint mir etwas zuviel, zu deutlich, ich würde hineinschreiben: „semplice“.
Exkurs zu melodischen Intervallen
Da wir gerade beim „Beiwerk“ sind: seit ich mich einmal an einem einzigen fehlenden Vorzeichen in Bachs Sonata I in dorisch G abgearbeitet habe (wo die untadelige Geigerin Isabelle Faust im Adagio Takt 3 auf Zählzeit 3 im Bass partout kein es‘ spielen will, weil dies in Bachs Faksimile fehlt, sondern ein e‘, – und zahllose junge Geiger spielen es ihr nach, obwohl sie sich eigentlich in der Parallelstelle Takt 25 eines besseren belehren könnten – , so wollen wir auch im Adagio der Sonata III Takt 42 auf einen vergleichbar kleinen Dissens aufmerksam machen: Julia Fischer (2005) spielt in der absteigenden Passage kein a‘, wie es in allen (?) gedruckten Noten steht, sondern ein as‘; wahrscheinlich weil in dem Akkord am Anfang des Taktes ein as‘ eingezeichnet ist, – das hier noch gültig sein könnte. Siehe im folgenden Faksimile: es geht um die 2. Zeile, den Lauf genau in der Mitte, in dem es ein einziges Vorzeichen von Bachs Hand gibt, das es‘ an drittletzter Stelle; allerdings gibt es auch keinen Zweifel, dass im Akkord am Anfang des Taktes ein as‘ angegeben ist – und ein h im Bass – zur Sicherheit, denn es gibt weit und breit kein b, das aufgelöst werden müsste:
Nun ist eine Tonleiterpassage etwas anderes als ein Akkord, sie gehorcht horizontalen Prinzipien, und z.B. kann es keinen Zweifel geben, dass am Anfang der Bachschen Zeile der Ton a‘ kein Auflösungszeichen bekommen muss, weil das as‘ im Akkord stand und zudem 1 Oktave tiefer. In der absteigenden Moll-Tonleiter jedoch muss es a‘ heißen, weil eine übermäßige Sekunde nicht akzeptabel ist (ich persönlich hätte diesen Hauch arabischer oder türkischer Intonation ganz gern, aber kann man es Bach unterstellen? Nein!). – Parallelstellen können textkritisch nicht unbedingt als schlagendes Argument gelten, und deshalb füge ich das folgende Beispiel aus meinem uralten Matthäuspassion-Klavierauszug auch nur zur Unterhaltung bei: Bach wählt für die absteigenden Sechzehntel in Takt 3 nicht das Material der harmonischen sondern der melodischen Molltonleiter, wenn er sie auch nicht so genannt hätte:
Lassen Sie uns nur nicht über die Tonfolge gis“-f“ im letzten Takt des Beispiels streiten…
Aber schauen Sie doch auch ins folgende Beispiel, BWV 1003, Grave, vorletzte Zeile:
Die Töne der absteigenden Tonleiter heißen – wie? Sie heißen a-gis-fis-e usw. in Bachs Handschrift. Ist das ein Beweis?
Und noch eins, da ich bei Julia Fischer, – so schön sie spielt -, vor dem Schlusston dieses Grave-Satzes auf der chromatischen Sexten-Folge eine etwas ratlose Behandlung der Wellenlinien erkenne! Auffälligerweise sind es ja sogar zwei! Damit kann doch bei dieser Grifffolge kein Triller gemeint sein!? Hätte die Interpretin Reinhard Goebel gefragt, hätte sie einen wunderbaren Tipp bekommen: Bogenvibrato. Dergleichen haben wir zuerst staunend bei Monteverdi-Aufführungen von Sängern gehört, ohne zu wissen, dass man es auch auf anderen Instrumenten imitiert. Als „Geigentremulant“ zum Beispiel. In Frankreich hieß es Balancement, und in der Dissertation „Das Vibrato in der Musik des Barock“ von Greta Moens-Haenen (Akademische Druck- u. Verlagsanstalt Graz/Austria 1988) findet man viele Beispiele. Ich erwarb das Werk im Erscheinungsjahr für 150.- DM, um dann allerdings nur wenig darin zu arbeiten: Goebel hatte ein Verdammungsurteil gesprochen, wenn ich mich recht entsinne… das Bogenvibrato allerdings ist ein Faktum!