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Plan und Zufall

Beispiel HEUTE

Morgens ist das VAN-Magazin in der Mailbox, ich schlage es auf, mich interessiert als erstes das Gespräch mit Graham Johnson über Schubert-Lieder (ich erinnere mich an ein Zusammentreffen mit Freund Hans Winking im Funkhaus-Foyer, er hat Produktion und ist schlecht gelaunt: „Graham Johnson hat nicht geübt!“). Ach, lieber fange ich an mit Volker Hagedorn, ich lese alles von ihm, seit ich sein Buch „Bachs Welt“ studiert habe, immer dankbar. Hier und hier. Er schreibt manchmal in der ZEIT, immer gut, heute in VAN über seine Beethoven-Pflicht, die in der Mozart-Kür gipfelt, und dann noch etwas, das folgt gleich! Schauen Sie doch zunächst in den Artikel: Hier. Funktioniert’s? Oder zunächst hier? VAN-Magazin!

Screenshots VAN

Ja, und? Wie geht’s weiter? Friday Night in… mit… ? Bitte erst lesen, die Links sind gesetzt, vor wenigen Zeilen; es geht um Beethoven und Mozart!

Während ich zuhöre – es geht auch im externen Fenster: hier – schaue ich mal eben in die Mailbox, aha! Freund Wolfgang Hamm hat geschrieben, Corona-Depression? nein, im Gegenteil:

Eine herzerfrischende Dokumentarfilmserie „Pequeños universos“ – so wie der junge Musiker (und Filmemacher) wäre ich jetzt auch gerne unterwegs, egal ob in argentinischen Provinzen oder sonstwo!

Wenn Du mal Zeit hast oder Dich gerade langweilst oder „angeödet“ bist … auch ohne perfekte Spanischkenntnisse schön zu sehen! Rührend die Kinder …

 
Viel Vergnügen!
 
Dein Wolfgang

 

Natürlich, sofort, und ich bin elektrisiert: ab 0:47 – den Mann kenne ich doch!!!?

Ich habe einige Ordner aus dem vorigen Leben (nein, aber ein Ordnungsmensch bin ich nicht, ich lebe halb nach Plan, halb nach Zufall), so wie man auch Geige und Klavier übt, man schafft Raum für die Intuition. Hier ist die konkrete Erinnerung: Freude oder Trauer? Damals war das Ende schon abzusehen. Haben wir das 30. Festival (seit 1976) eigentlich noch erleben dürfen? Ich verschließe den Aktenschrank, aber nicht den Schatz meiner Erinnerungen. (Vorsicht: Pathos!)

Chango Spasiuk – von ihm stammt der Film (2009).

In „Bachs Welt“ hinein per Internet

Endlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen (oder was hat man auf den Ohren?): Ich muss dieses Buch vor dem Computer lesen, um mit gleichbleibendem Interesse dabeizubleiben, – das läuft nur über die Musik, nicht über die endlose Schilderung zahlloser Schlachten, Gräuel und Gemetzel. Ab sofort versehe ich jeden Bach mit seiner Ordnungszahl, und jedes genannte Musikstück versehe ich mit einem youtube-Hinweis. Ich vermute, dass der Autor keine Musik beschreibt, die nicht als Aufnahme vorliegt (absurd wäre, wenn er sich nur an Notenleser wendete).

Also, der erste Schritt ist der, die im Buch genannten Bache mit den Zahlen der im Anhang des Buches gegebenen Ahnentafel zu versehen. Ich befinde mich am Ende des Kapitels zwei, Suhl interessiert mich von vornherein weniger, vielleicht deshalb, weil ich den Städtenamen nur von Hinweisschildern auf der Autobahn kenne und von einem unsäglichen Schlager („ja die Ober-suhler Blasmusik“). Als ob Hagedorn es geahnt habe, beginnt er sein Kapitel mit der Frühgeschichte des Planeten Erde. Das scheint so grotesk, dass ich länger dabei verharren musste, nicht ohne zu lächeln. Aber ja doch! Es ist richtig, unseren Jahrtausend-Bach in diesen großen Kontext zu stellen, und nochmals: JA. Unseren Bach Nr. 24.

Hagedorn Stammbaum

ZITAT

Die Kontinentalplatten haben sich ineinander verkeilt, gequetscht, aufgestaucht zu Fünftausendern im äquatornahen Thüringen. 360 Millionen Jahre ist das her. Neunzig Millionen Jahre später senkt sich das Gelände. Vulkane brodeln, ein tropisches Meer dringt herein, in das Magma quillt, Metalle werden ausgefällt, Eisen, Kupfer, Silber, Mangan, Gold, in weiteren Millionen Jahren von Ablagerungen bedeckt. Wieder hebt sich die Erdkruste, noch 65 Millionen Jahre bis heute, der Thüringer Wald wird erkennbar, aber noch lange kein Mensch, während die Saurier längst verrottet sind. Was Europa wird, ist vom Äquator nach Norden gewandert. Die Zeit rast, nur noch viertausend Jahre bis heute (…).

Meine Güte, wann wird er auf Bach kommen, wie der Pastor in der volksnahen Predigt endlich auf Gott? Sein Ziel aber ist Suhl! Waffen aus dem Eisen der Bergwerke dieser Stadt! Und dann der ganze 30jährige Krieg und die Pest. Und vor allem Bach 4 und Bach 5, und mit dem letzteren werden wir bald bei den Zwillingen 11 und 12 sein, von denen der erstere Johann Sebastian Bachs Vater werden sollte. Doch gemach!

Ich warte noch auf die andere Linie, aus der Bach 13 hervorgehen soll, der genau 300 Jahre vor meiner Generation geboren wurde (1642) und fast am selben Tag wie ich: Johann Christoph, dessen Lamento ich nie ohne Erschütterung hören werde. Als sei es gestern geschrieben worden: wer es nicht kennt, muss es hören und jetzt jede Lektüre unterbrechen. (Für später: Das Lamento wird bei Hagedorn auf den Seiten 125 bis 127 behandelt.)

ZITAT

Johann steht auf. „Ich zeig dir was.“ [Nr. 4 wird seinem Bruder Nr. 5 eine selbstgeschriebene Partitur zeigen]

Mit einigen Notenblättern kehrt er zurück, frisch liniert und beschrieben. Christoph liest. Sechs Stimmen. „Unser Leben“. Zweimal werden die Worte zu Anfang gesungen, in großen Akkorden. Zuerst c-Moll, mit kleiner Bewegung der Mittelstimmen zu G-Dur erleichtert, von dort in einem großen Schritt zu Es-Dur, ein Schritt, der von alten italienischen Quellen dieser Musik kündet und von einem ganzen Leben.

Spätestens hier ist man begierig, die Musik zu hören, nicht wahr? Es geht über diesen Link. Fortsetzung des Zitates zur gleichzeitigen Lektüre:

Unser Leben, sagt Johann in diesen ersten Takten, ist groß, schwer, reich. Aber es ist auch so leicht, dass es verweht. Aus dem B-Dur lösen sich eilige Noten. „Unser Leben ist ein Schatten.“ Der Schatten verflüchtigt sich nach oben in Sechzehnteln des Soprans, dann des Alts, dann beginnen die Schatten, in Terzen geführt wie Flatterbänder, sogar miteinander zu spielen.

Christoph kennt die Worte, sie stehen im Buch Hiob. „Und was du zu erst zu wenig gehabt hast“, übersetzt Luther, „wird hernach fast zunemen. Denn frage die vorigen Geschlechte / vnd nim dir fur zu forschen ire Veter. Denn wir sind von gestern her vnd wissen nichts / Unser Leben ist ein Schatten auff Erden. Sie werden dichs leren vnd dir sagen / vnd ire rede aus irem hertzen erfur bringen.“ Das alles hört er lesend mit in dem Satz, den Johann in Töne gebracht hat. Aber die folgenden Worte kennt er nicht.

Ich weiß wohl, daß unser Leben

oft nur als ein Nebel ist,

denn wir hier zu jeder Frist

mit dem Tode seind umgeben,

drum ob’s heute nicht geschicht

meinen Jesum laß ich nicht!

Drei Stimmen singen das, die zuvor nicht da waren, „Chorus latens“ hat Johann darüber geschrieben, „versteckt“, Alto, Tenore, Basso. Die andern sechs lösen sie lauter ab, sie wiederholen: „zu jeder Frist“. Und so tun sie es wieder mit der sechsten Zeile. Es sind die Lebenden, die von den Toten lernen, vom kleinen Chor aus dem jenseits, ohne den Glanz des Soprans, des Knabenalters, ein Chor der Väter, der den Söhnen das vorspricht, was sie dann in Zuversicht wenden.

Quelle Volker Hagedorn: Bachs Welt Die Familiengeschichte eines Genies / Rowohlt 2016 / S.95f

Hinzuzufügen wäre vielleicht, dass die zitierten Lutherworte nicht gesungen, sondern von Christoph mitgedacht  werden. Bei dem Liedvers handelt es sich um die 4. Strophe des Chorals von Johann Flittner („Ach, was soll ich Sünder machen“), auf den Hagedorn zu Ende des Kapitels näher eingeht.

***

Ein anderes Werk von dem oben genannten Christoph Bach (13), das Hagedorn im gleichen Kapitel ab Seite 132 behandelt, ist hier zu hören:

Von Johann Christoph Bachs (13) Bruder Johann Michael Bach (14) stammt die Komposition mit dem ostinato-ähnlichen „Halt was du hast“ zu dem Choral „Jesu meine Freude“. Er habe damit „die Höhe seiner Kunst erreicht“, schreibt Hagedorn Seite 135 und referiert ausführlich über die Rolle des Chorals im allgemeinen und insbesondere in diesem Werk:

Nun setzt Johann Michael [14] fort, was bei Johann Bach [4] begonnen hat und bei Johann Sebastian [24] die letzte Höhe erleben wird. Er steigert die Kraft des Chorals, indem er ihn zerlegt. Die Choralmelodie, von anderer Musik unterbrochen, beweist gerade dadurch ihre Bindungskraft, dass die Hörer sie weiterdenken und wieder aufnehmen können, zugleich wirkt sie wie etwas immer Vorhand[en]es, Ewiges, das wie durch Fenster zu erblicken ist. Michael stellt den Zeilen von „Jesu meine Freude“ die von „Halt, was du hast“ gegenüber. Während im Choral auf Ehren und Schätze verzichtet wird, glänzen dort die „Krone“ und das „herrliche Reich“, von dem die Offenbarung des Johannes spricht: „Ich komme bald, halt, was du hast, dass niemand deine Krone nehme!“ Die Krone steht für das Gottvertrauen.

Mit Bach in Arnstadt und Wechmar

Man könnte argwöhnen, dass es bloße Bildungsbeflissenheit sei, wenn jemand von Bach oder Goethe im wörtlichsten Sinne bewegt wird und ausgetüftelte Autostrecken zurücklegt, in bestimmten Städten endlos hin und her läuft, Berge hinauf, in Landschaften schaut und versucht, all dies zu lesen, wie ein vor 200 oder 300 Jahren geschriebenes Buch: wie hat er das gesehen, wie ist er vorangekommen, zu Fuß, zu Pferd oder mit der Postkutsche? Hat er stark übertrieben, als er schrieb, er sei in in 4 Stunden von Weimar bis (Groß-)Kochberg gelaufen. Wieviel Km sind das??? (Es sind 28! durch Vollersroda, Saalborn, Schwarza, Neckaroda.) Im Fall Goethe – ganz krass – will man aber vielleicht einfach wissen: Hat er nun mit Frau von Stein geschlafen oder nicht? In diesem goldenen Haus oder Käfig, – wenn der Hausherr unterwegs war oder mit seiner stillschweigenden Duldung? Nein, es ist keine Bildungsbeflissenheit: es sind bestimmte Zeilen von Goethe, der „Faust“ in der Tonaufnahme unter Gründgens (1957?) – wir kannten vieles auswendig, freiwillig lernend, auch Gedichte, „Urworte.Orphisch.“ Darunter tat ichs nicht. Oder: Sagt es niemand nur dem (oder den?) Weisen, weil die Menge gleicht verhöhnet, das Lebend’ge will ich preisen, das nach Flammentod sich sehnet. Oder alles, was Schubert vertont hat. Ich denke dein! Von Bach gehen mir durchaus nicht täglich die Kontrapunkte der Kunst der Fuge durch den Kopf, aber jederzeit die unglaublichsten Melodien, z.B. „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ oder der Mittelteil des ersten Satzes der Klavier-Partita in c-moll, – wer außer Bach konnte eine so anmutige und schmerzliche Girlande in die Luft zeichnen? Man höre hier, ich meine ab 1:00, aber bitte nicht ohne den pathetischen Anfang…

Und In diesem Saal des Gasthauses Goldene Henne könnte sich die Familie Bach um 1705 getroffen haben… Oder gegenüber in der Goldenen Sonne…

Arnstadt Thüringer Arnstadt Goldene Henne

Und so soll er damals, als junger Mann, ausgesehen haben? (Nein! ich meine natürlich unten!) –  Der Beschreibung nach könnte er z.B. lässig im Orgelspiel innegehalten und sich zurückgelehnt haben. Vielleicht einer göttlichen Eingebung nachlauschend? Aber ich vermute, zugleich soll betont werden soll, – wieviel Kinder er gezeugt hat. Schweigen wir von Jungfer Barbara. Es ist Markttag. Wir dürfen schwätzen.

Arnstadt Denkmal Arnstadt Denkmal b

Arnstadt Marktstand Arnstadt Markt JR1 Arnstadt Markt JR2  Arnstadt Kneipe Kirche Arnstadt Bach-Kirche JR 1  Arnstadt Bach-Kirche JR 2

Arnstadt Bach-Kirche Altar  Arnstadt Bach-Kirche Leuchter JR

Arnstadt Bach-Kirche Orgel   Arnstadt Bach-Orgel allein

Arnstadt Bach-Kirche Crucifixus 2

In Arnstadt gekauft: das soeben erschienene Buch eines Autors, den ich aufgrund seiner Musik-Artikel in der ZEIT schon lange schätze: Volker Hagedorn. „Bachs Welt / Die Familiengeschichte eines Genies“ Rowohlt Reinbek bei Hamburg Mai 2016. ISBN 978 3 498 02817 8 Preis: rund 25 Euro.

Es geht um die Bachs vor Bach bzw. bis in J.S. Bachs frühe Zeit bei seinem Bruder in Ohrdruf, dazu ein „Krimi-Kapitel“ über die Wiederauffindung des Altbachischen Archivs. Ein künftig für jeden Bach-Verehrer unentbehrliches Buch, fabelhaft kenntnis- und materialreich. Trotzdem oder gerade deswegen muss ich hinzufügen: es ist 400 Seiten lang, und man kann es unmöglich in schnellem Tempo lesen. Immer wieder muss man unterbrechen, zurückblättern, Abschnitte und ganze Kapitel zum zweiten Mal lesen. Der Stil – ich schreibe das schweren Herzens – ist eher gelehrt als journalistisch, obwohl es ja von einem Journalisten stammt, der auch noch ein gefragter Musiker ist. Es liest sich etwas schwierig, ist aber keineswegs schwerfällig geschrieben. Vielleicht müsste man es als Lob fassen: der Mann weiß (zu) viel, er verfügt über eine unendliche Stoffmenge, und man könnte nicht sagen, dass irgendetwas daran überflüssig ist. Mein erster Impuls war: dieses Buch möchte ich diesem oder jenem interessierten Freund schenken, – aber ich würde ihm  gleichzeitig einschärfen: es ist eine Zumutung! Du musst es wirklich lesen wollen. Und möglichst in Eisenach, Arnstadt, Wechmar und Ohrdruf gewesen sein.

Das Buch ist unglaublich sorgfältig geschrieben und lektoriert, trotzdem habe ich innerhalb der ersten Viertelstunde einen Druckfehler korrigiert und gebe es weiter, damit der Fluss nicht durch Zweifel unterbrochen wird: auf Seite 19 Zeile 11 soll es nicht Jahrgang 1655 sondern 1555 heißen. Eine andere Stockung als Beispiel: Auf Seite 31 taucht das Wort Waid auf: da ist die Rede davon, dass die männlichen Reisenden am Stadttor von Gotha „in ein Fass urinieren müssen, ein Wegzoll, der von den Färbern der Stadt zur Fermentierung des Waid gebraucht wird“… Ich kenne das Wort Waid nur vom Waidwerk und mag auf Reisen nicht im Smartphone googeln. Aber auf Seite 47 erfahre ich, wie es am 29. Mai 1613 in Thüringen stundenlang hagelte, dass die Geschosse die Größe von Waidballen erreichten und wohl auch die Dächer in Wechmar durchschlugen. Jetzt ist es soweit, also bitte Wikipedia unter Waid. Nein, Färberwaid ist das richtige Wort. Und dort unter „Verwendung“: „Aus diesem Mus wurden faustgroße Bällchen geformt, die sogenannten Waidballen.“ Aha, nicht etwa Taubenei- oder Golfball- oder Kinderkopfgröße: faustdick kam es! Gut, dass wir mal darüber gesprochen haben. – Aber bei dieser wohlwollenden Mäkelei soll es nicht bleiben. Ich muss als Beispiel eine hochinformative Seite zitieren, die verdeutlicht, dass kein Wort überflüssig ist, wenn man einen komplizierten Sachverhalt prägnant und in aller Kürze darstellen will. Vielleicht wird man nur in eine etwas übertriebene Erwartungshaltung gelockt, wenn das Buch gleich mit einem Überfall von Wegelagerern auf den Stammvater Veit Bach und seine Söhne begonnen hat. So kann es unmöglich über 400 Seiten weitergehen, bei solch einem Stammbaum, – den man vor dem rückwärtigen Buchdeckel studieren kann. Man lese doch als erstes das Kapitel Nachbemerkung Seite 397 ff.

Bach Hagedorn a  Hagedorn Bach Inhalt 1  Hagedorn Inhalt 2

Wechmar Landschaft Überfall?

Bachhaus-Suche Wechmar St. Viti (Veit!) Kirche in Wechmar (s.a. hier)

Wechmar Bach-Haus Das Stamm-Nest „unserer“ Bachs in Wechmar

Wenn man das obige Foto anklickt, erkennt man auf dem zweiten Dach ein Storchennest. Es befindet sich in Wirklichkeit auf dem weiter entfernten Schornstein der „Alten Mälzerei“.

Wechmar Störche  Wechmar Bach-Haus Plakat

Der unter dem folgenden Link erreichbare Zeitungsnotiz über einen Storch mit dem Namen Sebastian stammt offenbar vom Mai 2011: hier.

Wechmar Bach-Haus ER

Wechmar Bach-Haus Landkarte

Wechmar Umgebung Überfall!

Das Wort Überfall bezieht sich auf den Anfang des Buches von Volker Hagedorn „Bachs Welt“: da erfindet der Autor tatsächlich einen Überfall auf den ins Heimatdorf zurückkehrenden Veit Bach mit seinen Söhnen. Die Szene hätte damals in einer extrem unsicheren Welt durchaus stattfinden können; ich stelle sie mir gern in dieser friedlichen Landschaft vor. Überhaupt lese ich alles noch einmal und bereue, was bisher an Mäkelei durchschien. Absurd und kleinkariert finde ich die Kritik, die sich ein Rezensent der Zeitung DIE WELT erlaubt, referiert bei Perlentaucher:

Martin Ebel gefällt, wie der Musikjournalist Volker Hagedorn den Alltag der Musikerfamilie Bach nacherzählt. Dass der Autor mitunter fremde Quellen einmontiert, um Lücken zu füllen und es ein wenig lebendiger werden zu lassen, kann Ebel ihm verzeihen, zumal der Autor den Leser ja nicht im Zweifel lässt über sein Vorgehen. Nicht immer interessiert Ebel, was Hagedorn auf seinen Recherchereisen so alles erlebt hat, aber das Musikleben in Arnstadt, Erfurt, oder Eisenach und die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, die Pest-Zeit auch, all das kann der Autor ihm farbig und alltagsnah kredenzen, sodass der Rezensent meint, dabei zu sein. Das tröstet ihn darüber hinweg, dass es für Experten nichts Neues in Sachen Bach nachzulesen gibt. Interessierte Laien kommen in jedem Fall auf ihre Kosten, versichert er.

Was für ein Experte hat denn hier den Experten gespielt??? „Nichts Neues in Sachen Bach“ für Experten, die sich die Wirklichkeit der Bach-Welt vergegenwärtigen wollen? Ist es denn nichts, wenn man „meint, dabei zu sein“??? Und welcher Experte weiß denn, in welcher Form die Realität damals von Musik durchdrungen war (Seite 23!) und wie sie sich in so einzigartiger Form kondensieren konnte? Schon nach den ersten beiden Kapiteln weiß man mehr, fühlt man mehr, als nach zwei Semestern Musikgeschichte, indem man nämlich das Kräftegemenge spürt, das damals in Thüringen und weit darüber hinaus wirkte. Oder wenn es um Italien geht:

Das alles sind nicht Taten einsamer Genies, sondern dicht vernetzter Geister, die auch Traktate schreiben, unzählige Briefe, über Grenzen und Konfessionen hinweg kommunizieren. Dass einer der größten Erneuerer Claudio Monteverdi ist, Kapellmeister am Markusdom im [sic] Venedig, stört die lutherischen Komponisten nicht. Sie begreifen Musik als gemeinsames Projekt gerade zu der Zeit, da in Deutschland die Heere ziehen und die Barbarei sich ausbreitet. (a.a.O. Seite 60)

Wie wunderbar und ideologisch mutig in einem Sachbuch, das Experten jede Menge an unbekannten oder nur zu wenig beleuchteten Fakten bietet!