Kurze Musiklehre für Anfänger
(Kleine Voraussetzung: Sie sollten schon Noten lesen können!) Ich gebe zu und bedauere, dass die alte „deutsche Schrift“ den Zugang zum wiedergegebenen Text erschwert. Zu „meiner“ Zeit (Kindheit vor 1950) las man selbst Grimms Märchen in dieser Schrift (ich verstand sie wie das Westfälische Platt meiner Großeltern, nämlich ohne recht zu merken, dass es anders war.)
Meine Vorgeschichte heute: Ich suchte den alten Tonsatz zu „Es ist ein Ros‘ entsprungen“ von Michael Praetorius: ich glaubte, beim Anhören der Heidelberger CD eine Zwischen-Dominante vermisst zu haben und wollte nachschauen, ob sie überhaupt original sei. (Ich irrte mich, hatte mich verhört, falsch fixiert.) Dann aber faszinierte mich das alte Liederbuch, das aus der Schulzeit meiner Mutter stammt. Also um 1925.
Der alte vierstimmige Satz von Praetorius ist reduziert auf drei Frauenstimmen, aber das, was ich meinte – der Akkord auf der zweiten Silbe des Wortes „Winter“ (drittletzter Takt) -, ist klar: diese Takte entsprechen denen des Anfangs – bis auf diesen Akkord: F-dur statt f-moll. Was bewirkt das? Über solche Varianten sollte man auch mit Laien reden können. Wer den letzten Teil dieses Liederbuches in der Schule durchgearbeitet hat, sollte das können. Meine Mutter hat es nicht gelernt. Wer weiß, ob der bemerkenswerte Anhang überhaupt zum Lernstoff gehörte. – Ich habe es, als ich es gebrauchen konnte, nicht ernst genommen; es war ja für Mädchen!
Der Satz vom Notenlesen am Anfang sollte eigentlich nur darauf hinweisen, dass das Zeit kostet. Es geht nicht einfach darum, die Buchstaben zu wissen, sondern sich auch die Töne vorstellen zu können. Die erste Hürde für das Gedächtnis: jeder Notenkopf ist gleich wichtig, ob er nun auf der Linie steht oder zwischen zwei Linien. Das sagt noch nichts aus über Halbtonschritte und Ganztonschritte. Der Schritt von der ersten Linie zum ersten Zwischenraum ist ein Halbton-, von diesem Zwischenraum zur zweiten Linie ein Ganztonschritt. Für mich als Kind war es ein Problem, das einzusehen. Unlogisch! Ebenso die Tonreihenfolge: A – H – C, oder aber: die Basistonreihe gerade mit C – D – E zu beginnen. Man kann das historisch begründen, – aber man hat nichts davon; einfach nur lernen. Sehr wichtig: die Versetzungszeichen Seite 203, und Seite 205 die gleich geformten „Tetrachorde“ der Tonleiter. Das muss man singen können, ohne die Tasten des Klaviers zuhilfe zu nehmen. Jedenfalls nach einer gewissen Einübung. Danach ist alles leicht. Man könnte sogar mit arabischer Musik beginnen (kleiner Scherz).
Eine rhythmische Tabelle wie die auf Seite 199 befand sich auch am Anfang meiner ersten Violinschule von Hohmann-Heim. Irgendetwas leuchtete mir da nicht ein, und ich fragte meinen Vater, dessen Erklärung ich aber nicht ganz einsah, so dass er in plötzlichem Wutausbruch den Bleistift griff und in Riesenlettern und schreiend drüberkritzelte: 1 2 3 4. Ich weiß nicht, was ich da nicht kapierte, abgesehen von seinem Jähzorn wahrscheinlich die Tatsache, dass die sehr schnellen Noten soviel gewichtiger aussahen als die eine ganze Note, die bescheiden am Anfang der ersten Zeile stand. Mein Vater war aus einem Kapellmeister ein Studienrat geworden, und diesen Beruf hätte ich auch Dr. Hugo Löbmann zugeschrieben, wenn er nicht sogar zum Oberschulrat aufgestiegen ist. Aus den Lexika ist er verschwunden, nur in dem von Moser (1935) und dem alten sowie dem neuen von Hugo Riemann habe ich ihn gefunden, vielleicht weil er dessen Schüler war. Der letzte Titel „Fröhlicher Kontrapunkt“ stimmt mich nicht erwartungsfroh. Dass er für das anfangs zitierte Kirchenlied das Wort Reis statt Ros wählt, hat sicher eine lokale Geschichte; in dem wichtigsten katholischen Liederbuch, dem Speyerer Gesangbuch von 1599, steht jedenfalls schwarz auf weiß „Ros“. Siehe auch hier. Außerdem bei Wikipedia noch der Satz:
Das Buch zeichnet sich gegenüber den gleichzeitig erschienenen Gesangbüchern dadurch aus, dass auf jede anti-protestantische Polemik verzichtet wurde. Auch Martin Luthers Vom Himmel hoch ist hier enthalten.
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Sie müssen keine Noten lesen!
Liebe Leserinnen und Leser,
wenn Sie bis hierher durchgehalten und vielleicht schon gute Vorsätze für das Neue Jahr und den Rest der Corona-Zeit gefasst haben, möchte ich Ihnen doch noch etwas irgendwie Weihnachtlicheres bieten, was auch geistig-seelische Nahrung für die Zukunft verspricht: eine schöne SWR-Sendung meines Freundes Wolfgang Hamm. Sie brauchen dafür eine ungestörte Mußezeit von etwa einer Stunde. Sie ist zwar schon gestern Nacht ausgestrahlt worden, aber – wie schon im Blog-Artikel angekündigt: Es ist nie zu spät!
Zum Hören klicken Sie bitte HIER
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Soweit der Ernst des Lebens und des lebenslangen Lernens, dann die Schönheit und das Wunder, – höchste Zeit also, uns gegenseitig auch noch eine fröhliche Weichnacht zu wünschen! Sic! Ich tue es in Gestalt der Erinnerung an eine Konzertreise des Collegium Aureum mit dem Tölzer Knabenchor durch Norditalien. Hier ein Ausschnitt des Plakates, das uns in Venedig erfreute:
So könnte ein Roman beginnen: „Nie werde ich die weichen Nächte von Venedig vergessen!“ In Wahrheit denke ich an eine frühe Lektüre zurück, ich glaube, von Dostojewski: „Weiße Nächte“ (es ging um erste Liebe, der Vater spielte eine Rolle, ich finde das Buch schnell wieder, meine ganze „russische Zeit“ nach 1957, es begann mit dem Film „Krieg und Frieden“, mit Tolstoj, aber auch mit dem Taschenbuch „Der Tod des Iwan Iljitsch“, denn genau so starb mein Vater, beim Lesen hatte er gesagt: „das bin doch ich!“). Vor allem Turgenjew! Bald darauf entdeckten wir – so hochgestochen das klingt – Goethes Faust, konnten vieles auswendig mitsprechen. Mein älterer Bruder und seine Freunde standen vor dem Abitur, einer hatte ein großes Grundiggerät und den „Faust“ unter Gründgens darauf überspielt. Und das wirkte auf alle beflügelnd. Mich befremdete und faszinierte die Musik von Mark Lothar. So dachte ich beim „Weichnachts-Oratorium“ in Venedig unversehens an die große Oster-Szene, an die „weichen Menschen“, an die Glocken und Engelschöre, die den lebensmüden Faust in die Wirklichkeit zurückrufen :
Was sucht ihr, mächtig und gelind,
Ihr Himmelstöne mich am Staube?
Klingt dort umher, wo weiche Menschen sind.
Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube
Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.
Zu jenen Sphären wag’ ich nicht zu streben,
Woher die holde Nachricht tönt;
Und doch, an diesen Klang von Jugend auf gewöhnt,
Ruft er auch jetzt zurück mich in das Leben.
(Siehe hier bei V.762)
Blick in die Hörzu (auch schon seit 1954)
Und was jetzt von den Feiertagen Dezember 2020 zurückbleibt, wird der Film über die Kathedralen und insbesondere den Bau des Strassburger Münsters sein, nein mehr: siehe bei ARTE hier. Also wieder einmal etwas über das Wunder der Gotik? (S.a. hier oder hier). Und über einen Höhepunkt der – Technik. Vielleicht auch, aber vor allem eine aufrührerische Geschichte vom Kampf um die Macht zwischen Kirche und Bürgertum. Andererseits – war es nicht die ganz große Epoche des Christentums? Es war eine schlimme Zeit. Und so ist uns bei allem Erinnern und Staunen leider doch noch das Lachen vergangen. Wie auch hier:
Die Turgenjew-Geschichte war es, die lange nachklang. Später noch „Väter und Söhne“. Soll ich alles noch einmal lesen? Es ist wie neu – und doch nicht ganz. Ich stecke unweigerlich drin. Wie auch mein Vater.
Wie auch die Schülerin, die damals um 1925 die Musiklehre im letzten Teil des Liederbuchs für Lyceen und Höhere Mädchenschulen nicht ernst genommen hat. Sie wurde Kinderkrankenschwester und hat 1938 trotz mangelnder Kenntnisse diesen Musiker geheiratet:
Und das war gut so!