Archiv für den Monat: April 2024

Was ist ein „golden moment“ des Musizierens?

Glatteis Musikpädagogik

Nicht jeder Beitrag in „Musik & Ästhetik“ muss mir gefallen; es genügt, wenn er unverhoffte Anregungen bietet. Das geschieht selbst dann, wenn der Titel eher entmutigt wie dieser: „Hegel, Plessner und die dispositionale Realität musikalischer Bewegung“ und der Autor mir völlig unbekannt ist: Markos Tsetsos.  Während es mich elektrisiert, wenn ich in Anmerkung 2 einen (aus meiner Sicht unbegreiflich) vernachlässigten Namen der Musikästhetik sehe, der das Problem erstmalig angegangen ist: Victor Zuckerkandl. Für mich Anlass nachzusehen, was der denn am Begriff musikalischer Bewegung aufgezeigt hat. Aber noch ehe ich es realisiere (ich komme an anderer Stelle darauf zurück), hat mich dieser neue Autor gefesselt, der immerhin schon 2007 eine Arbeit im Hegel-Jahrbuch veröffentlichen konnte, die sich durch besondere Klarheit auszeichnete: „Über den Lebensbegriff in der Ästhetik Hegels“ .

Inzwischen bin ich allerdings ausgewichen auf einen anderen Beitrag des oben genannten Ästhetik-Heftes, weil er erlaubte, eine Youtube-Aufnahme dingfest zu machen, die mich an viele Diskussionen vergangener Zeiten erinnerte, über die Vermittlung musikalischer und technischer Erfahrung im Lehrer-Schüler-Verhältnis, z.B. im regelmäßigen Unterricht oder in konzentrierten Meisterkursen, die extern stattfanden. (Flagrante Erfahrungen der Freunde, die den gemeinsamen Lehrer in Frage zu stellen schienen, wenn sie von Wunderbegegnungen mit Wolfgang Schneiderhan oder George Neikrug berichteten.)

Mir scheint, die Zeiten haben sich grundlegend geändert, ich habe damals Interessantes aus Sebök-Kursen gehört, z.B. dass die Geschichte der gültigen Klaviermusik mit Bach beginnt oder allerhand weise Sätze von der Art, dass alle Musik „romantisch“ sei. Keine Differenzierung zwischen barocken Affekten, klassischem Ausdruck, Expressivität, Identifizierung und Objektivierung, oder den zahlreichen Schattierungen, wie man sie schon damals in dem Buch „Denken und Spielen“ (1988) von Jürgen Uhde und Renate Wieland nachvollziehen konnte.

Nun also eine Wiederauferstehung: „Masterclass-Lesson“ von 1987 mit György Sebök, die eigentlich nur als zentrales Beispiel eines eher negativ besprochenen Werkes von Nicole Besse mit dem Titel „Musik als Kunst der Begegnung“ dienen soll. Dabei ist allerdings zu bemerken, dass die sich heute aufdrängende Kritik an dieser pädagogischen Begegnung der freundlich-autoritären Art völlig ausgespart ist. Ist es womöglich nur dem Zeitgeist geschuldet, wenn man sich auf das latente Genderproblem konzentriert? Es ist nicht die Länge der Vorrede (bei minimalem Sinn), die lähmend wirkt, in der sich aber schon das Machtgefälle manifestiert, sondern das begleitende Dauerlächeln des Masters und sein auf die junge Pianistin fixierter Blick. Sie hat nichts zu sagen, ja, sie hat nicht mal einen Namen.

Später wird sich zeigen, dass sie glänzend Klavier spielt, wenn man sie lässt, und dies ist überhaupt die Grundlage der scheinbar magisch gelingenden Unterweisung. Das nichtsahnende Publikum darf annehmen, dass die Fähigkeiten erst hier unter dem Zuspruch des väterlichen Magiers aufgeblüht sind.

Natürlich geht es um diese Musik (Haydn C-dur-Klaviersonate 2. Satz). Er ist bewundernswert, wie die Pianistin auf Störungen reagiert, Ab-lenkungen wegsteckt, z.B. bezüglich der Kopfdrehung in die Richtung dessen, der sie korrigieren wird, – wäre die Spiegel-Frage auch gekommen, wenn ein männlicher Könner den lernenden Part innegehabt hätte? – wäre auch dann der Lehrer hinter ihn getreten und hätte ihm überraschend den Kopf „verdreht“?

Reise in die Weisse Wüste

„Eine Heimat, die an die Ewigkeit reicht“

Hans Mauritz berichtet aus Ägypten

Im Ramadan 2024 reiste ich mit einer Freundin in die Weisse Wüste, die etwa 420 km südöstlich von Kairo und 130 km von der Oase al-Bahariya entfernt ist. Dieses Gebiet ist bei Touristen beliebt wegen seiner Kalksteinfelsen und Steinformationen, ein riesiger Skulpturenpark, wie von einem übermenschlichen Künstler aufgebaut. Weite Flächen glänzen weiss in der Sonne und lassen an Schneefelder, an Seen und an Eisschollen denken. In der Ferne glaubt man Städte mit Kuppeln und Moscheen zu sehen und hoch auf den Felsen Ruinen von Burgen und Gehöften. Auf einem Hügel tront eine Madonna, anderswo hocken dunkle Gestalten auf hellen Klippen. Kolossale Menschenköpfe ragen aus dem Sand heraus, bedrohliche Gesichter mit Fratzen und aufgerissenen Mäulern. Überall riesige Tiere mit ausgestreckten Hälsen, Pferde und Kühe, Elefanten und Nashörner, Vögel, Enten und Schildkröten. Wenn unser Jeep näher kommt, verschwinden diese Trugbilder und verwandeln sich in Geröll, in Steine und Felsen in bizarren Formen . Wir fahren durch eine tote, versteinerte Welt, eine Welt der Illusionen, eine Fata Morgana, die nur in unseren Augen und Köpfen existiert. Menschen, Tiere, Häuser, Städte sind ein Nichts, das uns durch seine Täuschungen zu necken scheint.

Die Weite und das Schweigen sind sogar in dem Zeltlager präsent, in dem wir dreimal übernachten. Zwei Abende und Nächte waren wir ganz allein und liessen die Einsamkeit zu unserer Seele sprechen. An einem dritten Abend tauchten dann Gruppen von Touristen auf und brachten Betriebsamkeit und Geschwätz.

Ein Blick in die Semantik (1) zeigt, dass das deutsche Substantiv „Wüste“ und das Adjektiv „wüst“ negative und bedrohliche Assoziationen hervorrufen. Synonyme von „Wüste“ sind „Unfruchtbarkeit, Wildnis, Unwirtlichkeit, Verlassenheit und Öde“. Das Adjektiv „wüst“ meint „unbewohnt, öde und verlassen, ausgestorben, wirr und chaotisch, abscheulich, widerwärtig, grässlich und vulgär“. Das Verb „verwüsten“ bedeutet „zerstören, beschädigen, ausplündern und brandschatzen“. Ein „Wüstling“ ist ein zügelloser, lasterhafter Mensch, rücksichtslos, zu Gewalt neigend und mit einem sexuell ausschweifenden Lebenswandel. Aber Zusammensetzungen wie „Wüstenheiliger“, „Wüsteneremit“ und „Wüstenpilger“ weisen darauf hin, dass dieser endlose, leere Raum auch eine ganz andere Dimension erahnen lässt.

Die Unendlichkeit lässt an grenzenlose Freiheit denken , und die Stille redet von Gott. Nicht umsonst sind alle grossen monotheistischen Religionen in der Wüste entstanden. Die Wüste war Heimat von Propheten, von Einsiedlern und Mystikern. „Wenn ich einen Gottlosen bekehren wollte, würde ich ihn in eine Wüste verbannen„, sagte der französische Philosoph Théodore Jouffroy. (2) „Die Welt tötet uns durch Betriebsamkeit, die Wüste belebt uns durch Stille. Die Wüste ist das Erwachen der Seele, die Heimat Gottes, ein Paradies aus Nichts, eine Heimat, die an die Ewigkeit reicht. Wir gehen in die Wüste, um unseren Durst nach Freiheit zu stillen„. Dies sind Zitate aus einer Aphorismen-Sammlung von Ibrahim al-Koni (3). Dieser Schriftsteller ist nicht Ägypter, sondern Libyer. Er wurde 1948 in der Region von Ghadames, im Nordwesten der Sahara nahe der algerischen Grenze, geboren. Er entstammt einem Tuareg-Stamm, seine Muttersprache ist Tamasheq, ein Berberdialekt, und er hat erst mit zwölf Jahren Arabisch gelernt, die Sprache, in welcher er dann mehr als achtzig Bücher geschrieben hat (4). Dass wir ihn zum Kronzeugen für unseren Bericht heranziehen, ist nicht unberechtigt. Dieses Wüstengebiet ist, über alle nationalen Grenzen hinweg, eine geographische Einheit. Die Weisse Wüste liegt zwar im ägyptischen Sprachgebrauch in der „Westlichen Wüste“, aber der offizielle Name, den die Geografen verwenden, lautet „Libysche Wüste“.

            

Die Oasen, die wir vor und nach unserem Ausflug in die Wüste besuchen, bilden einen starken Kontrast zu dieser Welt aus Sand und Steinen. In unseren Augen, an Weiss und Grau gewöhnt, an das Nichts, die Leere und Unendlichkeit, erscheinen die Oasen wie eine andere Welt. Die Dattelplantagen, die Olivenhaine und der Klee erstrahlen in saftigem Grün. Gut genährte Kühe und elegante Pferde weiden auf den Wiesen. Stille herrscht freilich auch hier. Nur wenige Bauern fahren auf Eselskarren und Motorrädern vorbei, um auf den Feldern zu arbeiten, Viehfutter zu transportieren und ihre Tiere zu versorgen. Obwohl in diesem Grün Ställe und z.T. stattliche Häuser versteckt sind, wohnt hier niemand. Die Fellachen ziehen es vor, in den Dörfern entlang der Strasse zu leben, die in pharaonischer, griechisch-römischer und koptischer Zeit blühende Kulturzentren waren, deren Tempel, Friedhöfe und Gräber heute von den Touristen besucht werden. Aber die Dörfer wirken unspektakulär und schäbig. Wichtiger als Einsamkeit und Nähe zur Natur sind diesen Menschen wohl dörfliche Gemeinschaft und Geselligkeit. Manche ihrer Söhne arbeiten im Tourismus und fahren stattliche Autos, auch wenn dieser Sektor immer mal in der Krise steckt. In den Nächten, in denen wir in den Oasen übernachteten, waren wir stets die einzigen Gäste in den prächtigen Hotels.

In der Oase al-Bahariya besuchten wir den Landwirtschaftsbetrieb, den unser Reiseführer Montasser Farag und seine Schweizer Gemahlin Juliette Kaltenrieder betreiben (5). Die beiden haben sich 2008 auf einer Wüstenreise kennen gelernt, drei Jahre später geheiratet und sich in al-Bahariya niedergelassen. Weil Montassers Reiseunternehmen in Schwierigkeiten gerät, als 2015 bei al-Bahariya mexikanische Touristen von Soldaten getötet werden, die sie für Terroristen hielten, und die Wüste danach jahrelang für den Tourismus gesperrt wird, beschliesst das Paar, auf Landwirtschaft umzusatteln.

Juliette und Montasser erwerben drei Hektar Land, auf denen 70 bis 80 Palmen wachsen, und bauen das Unternehmen „Oasen-Delikatessen“ auf, das vor allem Datteln und Oliven produziert. Die Schweizer Geografin und Dozentin eignet sich das Wissen über traditionelle Anbaumethoden und moderne Techniken an, mit dem Ziel, Bio-Produkte von höchster Qualität zu erzeugen. Die Arbeitsvorgänge sind sehr aufwendig und erfordern Konzentration und ein gut geschultes Team. Die Datteln müssen sortiert, getrocknet und gewaschen werden. Jede Dattel wird mit Stirnlampe einzeln begutachtet, um Schädlingsbefall zu erkennen. (6)

Juliette arbeitet mit einer Gruppe von Frauen zusammen, die so zu einer bezahlten Arbeit kommen, was in der Oase ganz ungewöhnlich ist. Auf diese Weise erwerben sie Wissen und Erfahrung, ihr Selbstvertrauen wird gestärkt, und sie sind stolz auf ihre Arbeit und die Qualität der Erzeugnisse. „Juliette hat mir mehr geholfen als meine Mutter“, sagt eine junge Mitarbeiterin.

Der Schweizerin gelingt es, sich in diese fremde Welt zu integrieren, weil sie deren Traditionen und Denkweisen respektiert, ohne sich selbst aufzugeben. Ihre Arbeit gibt ihr Erfüllung. „Nach Ägypten auszuwandern, ist das Beste, was ich je getan habe.“ (7) Dennoch bleiben Misserfolge nicht aus. Der Betrieb erweist sich als zu klein, um mit den grossen, industriell arbeitenden Firmen zu konkurrieren. Der Export ihrer Produkte in die Schweiz wird erschwert durch hohe Zollgebühren, und der Bio- und Fairtradehandel bringt nicht, was er verspricht. Juliette greift zu ungewöhnlichen Lösungen. Sie verteilt einen Grossteil der Datteln an Menschen in den Armenvierteln von Kairo und in der Oase selbst. Und sie startet eine Patenschaftaktion: Interessierte können eine Palme adoptieren und werden dafür mit Datteln belohnt.

Wüste und Oase, Leere und üppige Vegetation, Leben und Tod, Jenseits und Wirklichkeit, Physik und Metaphysik, Glaube an Gott und Arbeit im Dienst von Anderen: Unsere Reise schenkt uns einen Erlebnisschatz, wie er vielfältiger nicht sein könnte.


Fotos (mit Menschen und grüner Vegetation): ©Juliette Kaltenrieder / Alle Wüstenfotos: ©Hans Mauritz

(1) „Wüste“ s. „Uni Leipzig: Wortschatzportal“ und „Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm“

(2) Wikiquote, „Wüste“

(3) „Schlafloses Auge. Aphorismen aus der Sahara“,2001, Lenos, Basel

(4) Wikipedia, Ibrahim_al-Koni

(5) Neue Zürcher Zeitung, 27.1.2022

(6) Bericht von Christina Suter, Newsletter von „Oasen-Delikatessen“,15.3.2024, https:// www.oasen-delikatessen.com

(7) Der Bund, 7.9.2020

Hans Mauritz, März 2024