Wie man Klanggestalten erleben kann
In den 80 Jahren gab es im WDR eine Sendereihe, wo man am helllichten Tage Gespräche über Neue Musik hören konnte: unbescholtene Zuhörer befragten auskunftswillige Komponisten. Manches war wohl interessanter als die Stücke selbst, aber ich erinnere mich an einen dieser „Workshops“, in dem ein Stück gespielt (?) wurde, worin der Komponist eindrucksvoll einen gesprochenen Satz behandelte, der in einem Gespräch live vorgekommen war: „Das ist doch keine Musik mehr!“ Er benutzte ihn, zerlegte ihn, re-kom-ponierte seine phonetischen Details, – es war einfach spannend mitzuerleben, wie eine sehr äußerliche Kritik verinnerlicht und konstruktiv entwickelt wurde. Zugleich war es ein leicht ironisches Spiel, das den Zuhörer und wohl auch Fragesteller zum Schmunzeln brachte. Zum Vorschein kam, dass schon in seiner verbalen Distanzierung genug Musik steckte.
Ich habe mir angewöhnt, – vielleicht seit ich Stockhausen, den ich aus der leichtfertig bevorzugten Perspektive des Hochschulorchesters kannte, auf nächtlichen Autofahrten im Radio reden hörte – , mein Urteil zurückzustellen oder vielmehr angemessen anders als vorher zu reagieren. Statt zum Beispiel über fehlende Melodik oder Harmonik zu lamentieren, einfach zu fragen: sind es Klanggestalten, denen ich etwas abgewinnen kann? Etwas „Gestalthaftes“? Oder interessant Gestaltloses? Dergleichen gelingt ja fast immer, wenn ich Klänge des Alltags höre und – zugegeben – schon mit dem Vorsatz, sie als bedeutungsvoll zu betrachten, allen voran: Vogelstimmen (nach dem Vorbilde Messiaens: mit Empathie), ebenso Babygeschrei (natürlich: mit Empathie), Meeresrauschen, komplexe Maschinengeräusche oder was auch immer. Wieso sollte ich mich über elektronisch erzeugte Klänge aufregen, wenn ich weiß, dass andere Menschen von ihnen fasziniert sind? Es genügt vorauszusetzen, dass sie den von ihnen selbst erzeugten oder vollendeten Klanggestalten Bedeutung beimessen. Ich muss ihnen nicht gleich triumphierend Beethovens letzte Streichquartette entgegenschleudern.
Allerdings scheint es mir sehr hilfreich zu sein, wenn man im Fall Neuer Musik Äußerungen des Komponisten oder der Komponistin kennt, an denen ablesbar oder wahrnehmbar ist, dass er/sie es ernst meint und nicht ein belangloses Spiel treibt. Zum Beispiel hat mich im unten zitierten Text positiv überrascht, dass Martin Tchiba von seiner „Auseinandersetzung mit Popmusik“ spricht. Darauf kommt man beim Zuhören nicht ohne weiteres, zumal Tr. 1 zunächst an Steve Reich denken lässt. Empfehlenswert: auf die eigene Position vor den Lautsprechern zu achten , so dass man auch „wandernde“ Impulse lokalisieren kann.
Web-Seite Martin Tchiba https://www.tchiba.com/923 hier
Zitat:
Von Komposition zu Komposition entstand in dieser Zeit eine eigene Ästhetik, die evident auch von meiner Auseinandersetzung mit Popmusik beeinflusst ist; hier geht es vor allem um ein Klangideal, das von einer gewissen „Glattheit“ geprägt ist, die in einem dialektischen Spannungsverhältnis zu den dezidiert „unperfekten“ – bisweilen auch trashigen – elektronischen Artefakten und Field Recordings steht: Während bei Studioaufnahmen sogenannter E-Musik in der Regel ein „natürliches“, auch räumlich dem Konzerterlebnis nachempfundenes Klangbild präferiert wird, herrscht in der Popmusik unserer Tage meist eine „nahe“, (im nicht negativen Sinne) eher sterile Studio-Klangästhetik vor. Ich finde dieses Pop-Klangideal zumindest für manchen musikalischen Content absolut reizvoll und auch konsequent: Eine „genuin elektronische“ (oder: akusmatische) Musik darf und soll durchaus nach Studio klingen …
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Ich habe mich frühzeitig – auch dank der Sendungen meines Kollegen Harry Vogt, die er mich moderieren ließ, obwohl ich für eine andere Musik im WDR „zuständig“ war – mit Komponisten wie Giacinto Scelsi oder Salvatore Sciarrino beschäftigt. Zwar setze ich mich nicht pausenlos mit ihnen auseinander, – es gibt vielzuviel, was mir näherliegt -, aber ich weiche ihnen nicht aus, im Gegenteil. Es genügt die kleinste zusätzliche Anregung. Wieder ist der Auslöser ein Text, der mir seltsamerweise erst neuerdings begegnet, obwohl er einen Doppel-Aspekt behandelt, der mich jederzeit fesselt: dem des Physischen und des Geistigen, so wie es tagtäglich präsent ist, wenn man als Instrumentalist mit den eigenen physiologischen Grenzen ebenso wie mit dem extern darzubietenden geistigen Gehalt konfrontiert ist.
Stefan Drees
Orientierung an der »Logik des Körpers«
Zu einem zentralen Aspekt von Salvatore Sciarrinos Sei Capricci
per violino (1975/76)
aus: Stefan Drees / Titel s.o.
Zitat Drees a.a.O. Seite 101
Sciarrinos Aussage aus einem Werkkommentar von 1988, die Musik der
Sei Capricci entspringe einer »Logik des Körpers«, weshalb die Stücke »sich
wirkungsvoll jeder abstrakten Kompositionstechnik«, das heißt »jeder Methode, die über den Klang und den Akt seiner Hervorbringung hinausgeht«, widersetzen, lässt sich auf diesen Zusammenhang beziehen: Gemeint ist damit, dass die Musik weniger auf strukturellen Erwägungen basiert, als durch den Einsatz gestischer Momente bestimmt wird, wobei sich jedes einzelne Capriccio anderer Bewegungsformen bedient: Verteilung der Klangfarben, Entwicklung der musikalischen Verläufe und Form der einzelnen Capricci
werden daher von den Beschränkungen und Möglichkeiten des Instruments
und der vom Körper vorgegeben Grenzen, also von der Wechselbeziehung
zwischen dem Ausführenden und seinem Klangerzeuger, diktiert; nimmt man
jedoch die hohen Tempi der Musik ernst, wird deutlich, dass Sciarrino über
diesen Rahmen hinaus zielt, weil er den Interpreten zugleich mit den Grenzen
des körperlichen Bewegungsvermögens konfrontiert und sein Agieren unverkennbar in die Nähe des Scheiterns rückt.
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(Fortsetzung folgt)