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Irritation durch Bach

Was mich „am Laufen “ hält

Sonate für Violine solo, letzter Satz, BWV 1001 Presto

Vorher: Anleitung für Geigenschüler*innen [mich selbst] zum Üben mit Motiven!

Die unten im Notentext eingetragenen Bindungen habe ich von Dadelsen BJB 78 S.108

Beschreibung des Problems (Einwand: genügt es nicht, einfach nur zu spielen?)

Wozu also überhaupt diese – nicht einmal vollständige – Abschrift? (z.B. fehlende Takte Blatt II, rechter Rand +4). Das Prinzip war schlicht, Parallelbildungen leichter aufzuspüren; sie liegen ja auf der Hand, aber man sollte sie sozusagen räumlich erfassen können, wie ein Lego-Gebilde. Nur eins sehe ich nicht als Weg zur Lösung: Noten und Takte zählen. Obwohl 4-Takt-Gruppen natürlich eine Rolle spielen. Kontinuierliche Sechzehntel von Anfang bis Ende in beiden Teilen, und durchaus gegliedert, denn auch in solchen „Laufsätzen“ gilt: nicht 16tel = 16tel, sondern was Clemens Kühn schreibt (vgl. ihn auch hier):

Aus rhythmischen Kräften gewinnt Bachs Musik ihre Motorik. Motivische Kräfte bestimmen ihre Linearität. Beide Momente, das Motorische und das Lineare, treffen sich im Formprinzip der barocken Fortspinnung: der – eher lockeren, forttreibenden – Anknüpfung von Motiven und Teilen.

Im Fall einer Arie (»Bereite dich, Zion«) schreibt derselbe Autor:

Die Ausdehnung der drei Formglieder gehorcht keiner Norm (…). Ihre Proportion ist also nicht dem Prinzip des Gleichgewichts verpflichtet. Zwar zeigt das Bach-Ritornell ein ausbalanciertes Verhältnis von 8 (=4+4)+4+4 Takten. Doch ist dies kein wesenhaftes Merkmal des Fortspinnungstypus. Zum Vergleich studiere man das Ritornell der Arie »Ach, mein Sinn« (Nr.19 aus Bachs ›Johannes-Passion‹: 8 Takte Vordersatz, 5 (2+2+1= abgespaltener Takt) Takte Fortspinnung, 3 Takte Epilog; oder aus der ›Matthäus-Passion‹ »Aus Liebe will mein Heiland sterben« (Nr. 58): Hier ist das Verhältnis 4+7+2 Takte.

Quelle Clemens Kühn: Formenlehre der Musik /dtv/Bärenreiter 1987 Seite 42 u 45

Ich hebe das hervor, weil man beim Violin-Presto leicht auf die Idee kommt, nach einem Symmetrie-Prinzip zu suchen, da es sich beim Üben geradezu aufdrängt, – allerdings nur sporadisch, am Anfang und am Ende der Teile.

Am Anfang: den Takten 1-8 entspricht deren Umkehrung in den Takten 55-62 , jedoch den Takten 9-16 entspricht erst der Achttakter ab Takt 67, deshalb steht am Ende der ersten Zeile Blatt II der Hinweis +4.

Am Ende: der letzten Zeile auf Blatt I entspricht ziemlich genau die letzte Zeile auf Blatt II, aber im Zwischenbereich wird die Zuordnung schwierig. Es geht offensichtlich nicht um berechenbare, voraussehbare Symmetriebildungen.

Inhaltlich geht man nie fehl, sich von den Kantaten und Passionen inspirieren zu lassen, in unserm Fall etwa auf die folgenden Arien des Laufens, Nachfolgens, Eilens zu schauen, zumal sie auch motivisch und in der Tonart nahe liegen:

„Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten“

„Eilt, ihr angefocht’nen Seelen“

Übung: Spiele die 16tel-Linien, – aber auch mit „geigerisch“ angepassten Phrasierungen.

Es scheint mir kein Zufall, dass die Sechzehntel-Finalsätze der Bach-Solosonaten und insbesondere der hier vorliegende, von einem Geiger ganz anders charakterisiert wird als von einem Komponisten:

Die Sätze leben von der rastlosen Bewegung, vom Reichtum an verschiedensten Figuren, ihrer auf weite Strecken wellenförmigen Bewegungsart und den aus der differenzierten Faktur der Figuration und unterschiedlicher Bogensetzung resultierenden vielgestaltigen Artikulationsweisen. Sie sind gleichsam Gegenbild und Ergänzung zu ihren Vorgängersätzen in ruhigerem Zeitmaß.

Das Presto der ersten Sonate tendiert durch seine ungerade, auf dem Achtelwert als Grundeinheit beruhende Taktart (3/8) ins Tanzartige, nähert sich italienischer Giga und Corrente an.

Quelle Bernhard Moosbauer Bärenreiter Werkeinführungen S.72

Der Komponist Hans Vogt:

Es ist ein Unterschied, ob man die Varianten quasi buchhalterisch zur Kenntnis nimmt, oder ob man die musikalische Wirkung einer Steigerung wahrnimmt, die durch die Inszenierung der Varianten entsteht. Die Dramatik der Artikulation, die sich glücklicherweise in Bachs originaler Bogensetzung ablesen lässt: die doppelten Zweier-Bindungen, die Dreier-, Vierer- und Fünfer-Bindungen (ab Takt 32), die synkopische Schwerpunkte hineinzaubern (ab Takt 117) , Siebener-Bindungen (Takt 59 und 63), „reguläre“ Sechserbindungen (Takt 75 ff) wie in der Arie „Ich folge dir gleichfalls“. Die schöne Motivtafel bei Vogt lässt das schon ahnen. Es ist eigentlich eine typisch geigerische Dramatik, aber keine Tanzmeister-Agogik:

Quelle Hans Vogt: Bachs Kammermusik Reclam S.166

Um an dieser Stelle einen Schritt weiterzugehen, vergleiche man das weiterführende Sept-Akkord-Motiv im Teil I mit der Variante im Teil II, deren Einsatz ich vorläufig als „Reprise“ bezeichnen möchte (obwohl das Sept-Akkord-Motiv in Teil II ab Takt 67 bereits wörtlich wiederaufgenommen worden ist):

Es ist deutlich komplexer geworden und dabei auch längenmäßig gewachsen. Der neu „gefaltete“ g-moll-Dreiklang hat zudem mit dem erstmalig prominent wieder eingesetzten hohen b“  einen Wiederkehr-Charakter von Teil I mit den Takten 1-9f… Es ist aber mehr als eine Reprise, es ist eine Überbietung! Was sich auch in dem zeigt, was ihm kontrastmäßig vorangestellt wird und noch mehr in dem, was ihm nachfolgt.

Der „verkehrte“ (umgekehrte) Anfang von Teil II (gegenüber dem „Original“ von Teil I) wird wieder aufgegriffen mit der aufsteigenden Form des F-dur-Dreiklangs in Takt 83, dessen Beantwortung ab Takt 87 mit Weichenstellung in Richtung g-moll gegeben wird. Zugleich sei bedacht, dass der F-dur-Ansatz  mit dem aufsteigenden Es-dur-Ansatz in Teil I Takt 17 korrespondiert. (So neu war also die Umkehrung zu Beginn des Teils II gar nicht!)

Es kann nicht schaden, zwischendurch ohne alle Vorbelastung das Werk zu hören. Nocheinmal… nichtsalsdas…: Hören! Hören! Hören!

Nun könnte jemand sagen: für eine Reprise ist mir der Beginn dieses neuen Teils zu wenig „spektakulär“, – obwohl er diesen „versteckten“ Reprisenbeginn aus dem einleitenden Adagio derselben Sonate kennen müsste: anstelle des vierstimmigen Akkordes am Anfang des Taktes 14 mit dem c“ und der absteigenden melodischen Molltonleiter.

Man bedenke nur die Formenvielfalt der Präludien, die Christoph Bergner in seinen Studien zum Wohltemperierten Klavier so übersichtlich dargestellt hat; man kann es sozusagen als „Mustersammlung“ von Bachschen Formen überhaupt betrachten:

auf der nächsten Seite folgt noch 2.3. Die Spielpräludien: Cis-Dur, g-Moll, C-Dur, d-Moll, G-Dur

Ich denke bei unserm Presto am ehesten an das Präludium D-dur BWV 850 und sehe es unter 1.5. eingeordnet = „die periodisch freien Präludien“. Was natürlich nicht bedeutet, dass da periodisch sich gar nichts abspielt. Im Gegenteil, man erkennt die Reprise auf Anhieb, sie steht in der Subdominante: siehe hier, Noten Blatt II ab Takt 20. Interessanterweise bestand eine frühe Fassung dieses Präludiums (im Klavierbüchlein für Wilhelm Friedemann Bach) nur aus 20 Takten. Alfred Dürr beschreibt den möglichen Ablauf des weiteren Komponiervorgangs, und alles entwickelt sich aus den ersten – 2 mal 4 – Tönen des ersten Taktes.

Quelle Alfred Dürr: J.S.B. Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter Kassel etc 1998 / S. 124

1. Assoziation: Man scheue sich nicht zu akzeptieren, dass Bach zuweilen „stückchenweise“ komponierte, – er wusste natürlich, wie sich auf diese Weise mehr daraus machen ließ,  er hat auf diese Weise ja sogar Fugen verdoppelt (Beispiel BWV 886), und es lässt sich nicht leugnen, dass das Wesentliche erst in der neuen Hälfte, also der erst später konzipierten, zum Vorschein kam.

2. Assoziation: Da ich mir gerade die rechte Hand dieses Klavier-Praeludium als Übe-Material für die rechte und die linke Hand zurechtgelegt habe, bin ich gewohnt, es ausdauernd ohne Bass-Stimme zu spielen – und habe festgestellt: es fehlt mir (fast) nichts. Alle Modulationen sind auch ohne Bass völlig einleuchtend. Insofern kam mir Nadja Zwieners Bemerkung zu Corellis Solissimo-Violin-Präludium zupass, die Sie im Artikel hier gegen Ende finden (rot markierter Satz).

(Fortsetzung folgt)