Anbetung
Ich habe Pech: meine Seele entwickelt fortwährend Widerstände. Zumal wenn ich zur Weihnachtszeit die ZEIT lese, die mich ganz offensichtlich auf den Weg der freien Entscheidung führen will. Aber doch die Suggestiv-Frage stellt (als gehe es nur um den Wohnsitz der Seele):
Und gleich darunter: „Muss die Kirche immer voll sein?“ Ein Pro und Contra zu einer nicht nur spirituellen Frage. – Ein Satz von Evelyn Finger (contra) bleibt mir in Erinnerung: „Alle, die je aus Glaubensgründen gehasst wurden, wissen, dass sie mit weniger Frömmigkeit sicherer leben. Das belegt auch eine aktuelle Studie der deutschen Kirchen zur Religionsfreiheit: Diese ist ein rares Gut – und in frommeren Regionen unbekannt.“
Und dann hake ich mich fest auf der Seite „Glauben & Zweifeln“, einer Rubrik, die selber die Dichotomie festschreibt. Nein, das gilt wiederum nicht für mich, wenn das Zeichen & besagt, dass beide Begriffe zusammengehören. Es ist das Gemälde, das mich innehalten lässt, nicht nur das farbige Bild vielleicht, sondern auch die Idee, es mit Einzel-Stichworten zu umrahmen: Der Monfort-Altar – Der Maler – Die Details – Die Szene – Die Hände – Die Augen – Die Gaben – Die Farben.
Zu allererst die Bemerkung, dass auf der ZEIT im Querformat das Gemälde von Hugo van der Goes sich tatsächlich im ORIGINALformat wiedergeben lässt. Dann die Sache mit den Farben:
Als van der Goes lebte, konnte man noch keine Farben künstlich herstellen. Rot wurde aus einer Art Schildlaus gewonnen, Blau aus zerriebenem Lapislazuli. Die hier verwendeten Farben kosteten ein Vermögen. Hinter Josef erhebt sich eine seltene blaue Schwertlilie. Sie ist ein Sinnbild der Reinheit Marias.
Seltsam, ich dachte – die Lilie! Aber schon vorher las ich: „Die Akelei ist Symbol der Jungfrau Maria und der Anbetung Gottes.“ Gleich beides? Und dann: die AUGEN!
Alle Blicke treffen das Jesuskind. Trotz seiner Nacktheit und des nur zarten Strahlenkranzes [Ich sehe ihn ausschließlich bei Maria!] herrscht es über die mit Tuch und Pelzmützen, also mit den Zeichen von Macht und Reichtum ausgestatteten Männer. Der Blick des Kindes richtet sich auf uns, die Betrachter.
Stimmt das denn? Es schaut neben mich, weiter unten, ich könnte auch behaupten: weiter vorn, auf das glänzende Goldgefäß. Und schaut etwa Josef auf das Jesuskind? Nein, er schaut nach rechts, an dem dunkelhäutigen König vorbei, als nahe aus dem Hintergrund ein vierter König, dem er das Gefäß zeigen möchte, auf das seine linke Hand weist. Und auf ihn, nicht auf das Jesuskind, schauen auch die anderen zwei Könige. Ich verstehe: Offenbar gehöre ich nicht zu den Menschen guten Willens, den wahrhaft gläubigen Bildbetrachtern. Aber ich kann nicht davon ablassen, es zu betrachten. Ich lade mir die Wikipedia-Wiedergabe hier in den Beitrag (bitte zum Vergrößern anklicken):
Hugo van der Goes (um 1470)
Wohnt hier vielleicht die Seele? Ich liebe die kleinen Darstellungen des Lebens im Hintergrund, auch die Schwertlilie und die Akelei. Und vieles andere. Oder wohnt sie eher auf dem Titelbild der ZEIT, das mir kitschig erscheint (aber auch von einem alten Meister stammt). Ich soll ins ZEITMAGAZIN schauen. Wenn es von Sabine Rückert geschrieben ist, lese ich es sehr gern:
Die Seele ist der letzte unverwechselbare und unverfügbare Kern eines Menschen. Die Wissenschaft versucht die Seele als biochemischen Vorgang im Gehirn und Körper (weg-) zu definieren. Google und Facebook bemühen sich, die Seele des Einzelnen durch Dauerbeobachtung all seiner Regungen zu durchschauen und zu erfassen. Damit wird aber nicht klar, was die Seele ist. Jeder Mensch trägt von seinem innersten Wesen nur einen Bruchteil nach außen. Wir zeigen unsere Individualität, unsere Unteilbarkeit, besonders dort, wo wie sie (mit)teilen: in der Liebe. In ihr äußert sich die Seele. In Beziehungen, lebendigen, guten, starken, ehrlichen Beziehungen, wird die Seele erkennbar. Anderen helfen, anderen etwas bringen, nicht nur für sich selbst da sein, das ist nach christlicher Vorstellung der Sinn des Lebens und gut für die Seele. Denn sie ist etwas, das von sich selbst weiter aufs Ganze verweist und das ein Zeichen der Dankbarkeit ist für den geschenkten Lebenshauch.
Und wo wohnt die Seele? An vielen Orten. „Es waren die Augen“, beschreibt der Schriftsteller Jack London einen Mann, „die die Seele unter tausend Verhüllungen verbargen und die sich mitunter, bei seltenen Gelegenheiten, öffneten und ihr erlaubten, hervorzustürzen, als wolle sie sich nackt und bloß auf ein wundervolles Abenteuer in die Welt begeben.“
Quelle: ZEIT MAGAZIN 20. Dezember 2017 Was ist die Seele? / Seite 20 „Vom Wesen der Seele“ (Sabine Rückert)
Das ist wunderschön gesagt, aber dann wird es weiter und weiter gefasst: im Gesicht, wie du lachst, wie du redest oder schaust, wie jemand geht oder die Brille hochschiebt. Vergangenheit, Kindheit, Eltern usw. usw.
Dann glaube ich am Ende doch lieber gar nichts mehr, und kehre glücklich zur Philosophie zurück, bzw. glaube lieber mit Immanuel Kant, dass wir über die Seele keine sichere Erkenntnis gewinnen können, weil wir aus der Tatsache, dass wir denken, nicht auf ein „denkendes Ding“ schließen können, also auf eine eigenständige Substanz.
Der traditionelle Seelenbegriff verlor seine Bedeutung, und an seine Stelle traten schließlich Bewusstsein und Selbst. Zugleich hat die moderne Philosophie den Dualismus von Descartes [Körper und Seele] grundlegend erschüttert. Nur noch wenige Denker glauben heute, dass Geist und Körper wesensverschiedene Substanzen sind, die unabhängig voneinander existieren können. Damit ist aber der Vorstellung einer immateriellen Seele der Boden entzogen. Die moderne Neurobiologie schließlich hat unsere Seelenvorstellungen ein weiteres Mal grundlegend verändert. Aus ihrer Sicht brauchen wir die Vorstellung einer immateriellen Seele schlicht nicht, um geistige und psychische Vorgänge zu erklären. Wir sind demnach nichts anderes als unser Gehirn.
Quelle Thomas Vašek: Philosophie! die 101 wichtigsten Fragen / Theiss/ Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2017 / Artikel SEELE Seite 53
Der Körper ist das beste Bild der Seele.
Ludwig Wittgenstein / Philosophische Untersuchungen, 1953