Archiv für den Monat: Februar 2016

Wie ich das Balkan-Blech lieben lernte

Eine Rückblende von Jan Reichow

Blechmusik klang in meiner Kindheit vom Friedhof in Bethel herüber: der Posaunenchor spielte Bach-Choräle, die Essenz der westlichen Kirchenmusik, Musik der Trauer und des Trostes, letzte Botschaften. Später wurden mir die Trompeten und die Hörner des Weihnachtsoratoriums zum Inbegriff der Freude. Aber wenn mich jemand fragte, wie ich als klassisch ausgebildeter Geiger eigentlich zu den Blasorchestern des Balkan fand, müsste ich eine lange Geschichte erzählen, könnte aber auch mit der Gegenfrage kontern: Kennen Sie denn „Ciocârlia “ noch nicht? Und ihm eine bunte CD in die Hand drücken.

Wahrscheinlich käme dann allerdings doch noch meine Geschichte: wie jeder Geiger, der an eine virtuose Zukunft glaubt, hatte ich mich früh auf Sarasates „Zigeunerweisen“ gestürzt, hielt sie für ein glänzendes Phantasieprodukt, nicht ahnend, dass der Komponist das Notenbuch eines ungarischen Roma-Komponisten ausgeschlachtet hatte. Und einige Jahre später hatte ich fürs Examen u.a. „Tzigane“ von Ravel vorbereitet, ein Konzertstück, das in meiner Einschätzung wiederum den Sarasate auf eine neue Ebene hob, nach Ansicht des vorsitzenden Geigen-Gurus Max Rostal aber nichts als Blendwerk war, ein Verrat an der wahren Zigeunermusik, die nämlich improvisiert sei. Rostal war ein Schüler des großen Violinpädagogen Carl Flesch, der berichtete, Sarasate habe einmal bei der rumänischen Königin Gelegenheit bekommen, die beste Zigeunerkapelle des Landes zu hören, was er mit den Worten quittierte: „Mais, c’est mauvais ça!“ Allmählich wuchs die Empfindlichkeit, es gab jedoch auch ganz andere Maßstäbe als die des bürgerlichen Konzertsaals. Wer hat „Hora staccato“ komponiert? Oder improvisiert? Grigoraș Dinicu war es, der aus einer hochmusikalischen Roma-Familie stammte, am Konservatorium in Bukarest Geige studierte und zwar – bei Carl Flesch, dessen Professorenlaufbahn hier begonnen hatte. Dinicu bekam ein Stipendium für die Wiener Musikuniversität, durfte es aber nicht wahrnehmen, so hieß es, weil er ein Roma sei. Jascha Heifetz erklärte ihn später für den besten Geiger, den er kannte, und sorgte für die vielgespielte Bearbeitung des „Hora Staccato“.

Die andere weltweit berühmte Komposition „Ciocarlia“ (Die Lerche), mit deren „Vogelstimmen“-Imitation heute jeder Salongeiger zu brillieren versucht, stammt von Dinicus Großvater Angheluș, der sie allerdings für die rumänische Panflöte schrieb. Genauso habe ich das Stück 1972 erlebt: mit dem rumänischen Virtuosen Gheorghe Zamfir, am Anfang seiner Karriere Gast des WDR, unter einem steinernen Rundbogen im Römisch-Germanischen Museum Köln. War dies der Beginn meiner Liebe zur rumänischen Volksmusik? Sieben Jahre später reiste der inzwischen festangestellte Redakteur für den WDR in die entlegensten transylvanischen Dörfer bis hinauf nach Cornereva (dorthin allein wegen des legendären Dudelsackspielers Nicolae Nemes-Munteanu), hinüber nach Ost-Serbien, wo ihn die Geiger des Dorfes Jabukovac und im Nachbardorf ein Blech-Orchester elektrisierten. Als er dieses wenig später – wie auch die Geiger – nach Köln einladen wollte, hatten sie alle umgesattelt: vom Blech auf E-Gitarren. Die Faszination ließ ihn nicht los: 1984 besuchte er das Trompeten-Festival im serbischen Guča, unvergesslich, wenig später wurde das dort preisgekrönte Ensemble Bakija Bakić aus Vranje beim WDR-Folkfestival am Kölner Dom bejubelt. 10 Jahre später entfachte das Taraf de Haydouks aufs Neue die große Rumänien-Begeisterung, ach, den Purismus à la Bartók – bei aller Verehrung – habe ich nie teilen mögen, und wenn ich meine liebsten Musikstücke nennen sollte, dann wäre darunter ein bestimmtes Liebeslied von Romica Puceanu, aber auch, um wieder froh zu werden, ein paar „Reißer“ der Fanfare Ciocarlia, das eine zum Sterben schön, die anderen – wo auch immer – zur Wiederauferstehung. Vielleicht im Dorf Zece Prăjini? Oder – warum nicht – da oben auf dem Mars? Wenn nur auch die Fanfara sich dort einfindet, um mir ein paar der „Devil’s Tales“ vorzutragen.

Der Horizont hatte sich nicht erst 1997 nach allen Seiten geöffnet, aber das WDR Folkfestival, das damals seit über 20 Jahren existierte, hieß nun Weltmusikfestival, und wenn die finanzielle Frage immer wieder aufgerollt wird: es gab ja ein Gesamtbudget, inbegriffen vielleicht eine Stargage, aber die entscheidenden Entdeckungen lagen auf anderer Ebene und – in den besonderen Interessen der Redaktion. Ich erinnere nur an den bis dahin völlig unbekannten Zulu-Chor „Ladysmith Black Mambazo“, der aus Südafrika geholt werden musste. Es gibt übrigens nur eine einzige Begegnung, die ich missen möchte, die mit dem eiskalten Management eines sehr prominenten sozialistischen Sängers aus Griechenland. Was ich nie vergessen werde, ist ein Blick aus meinem Bürofenster auf den Kölner Domplatz, wo schon der Probenaufbau begonnen hatte: da schien sich eine etwas verstreute Besuchergruppe zu nähern, gleich lauter Spionen undercover, Herren mit Hut und dunklem Anzug, auf dem Weg zur Bühne, und plötzlich sah ich, dass sie Instrumente hielten, Klarinettentöne waren zu hören, und Sekunden später ein wildbewegter Ensembleklang, der mich vom Bürosessel hob: unglaublich, die Fanfara Ciocarlia war tatsächlich eingetroffen! Und übertraf alle Erwartungen! Es ist nicht selbstverständlich, dass das, was im Dorf aufregend klingt, auch im Herzen der Großstadt funktioniert. Die Begeisterung war groß.

Und nach 20 Jahren immer noch, und wenn heute jemand sagt, das ist aber keine echte Zigeunermusik mehr, die haben doch einen Komponisten: so benennt man letztlich die Weltoffenheit ihres Dorfes, das nur seinen Namen einer engen Grenzziehung verdankt: Zece Prăjini, d.h. Zehn Felder, – die ihnen einst ein rumänischer Fürst zugestand, als die Einwohner noch Leibeigene waren.
Der Komponist Koby Israelite hat sich dem „Blues from elsewhere“ verschrieben, man spricht auch gern vom „Balkan Blues“, um Außenstehenden die besondere Stimmung der „Zigeunermusik“ anzudeuten; von Komponisten wie Grigoraș Dinicu war schon die Rede. Jede gute Musik wurde ja von einem begabten Menschen erfunden, auch wenn er anonym bleibt und seine Stücke sich im Gebrauch verwandeln. Die Interpreten selbst sagen:

„Die Bauern, auf deren Festen wir gespielt haben, waren keine Zigeuner. Wir haben gespielt, was diese Leute hören wollten, ihre traditionelle Musik, Sirba und Hora, aber auch Manele, Stücke mit orientalischem Einschlag. Wir übernehmen diese Melodien, geben ihnen aber dann unsere ganz spezielle zigeunerische Note, d.h. mehr Wärme, mehr Farbe, mehr Glanz. Wir improvisieren, ändern den Rhythmus…“

So erzählte es Ion Ivancea, der 2006 verstorbene Chef des Ensembles, der Journalistin Regina Lessner, und der Tubaspieler fügte hinzu, mit ihrer Geschwindigkeit könne es ohnehin keiner aufnehmen, und Tubaspieler wie er, Monel, hätten sich am Ende eines Hochzeitsfestes, – 20 Stunden Blasmusik kämen da immer zustande -, hätten sich manchmal gefühlt, als ob sie von morgens um acht bis zum Morgen des nächsten Tages Luftmatratzen aufgeblasen hätten. Aber ich bin sicher: auch dann klang es immer noch hinreißend wie am frühen Morgen des ersten Tages. Und heute noch wie damals, auf dem Platz am Kölner Dom!

Ausblick März 2016

Ciocarlia Screenshot 2016-02-11 12.01.15 echter Link nur HIER

Tourneeübersicht und anderes HIER. (Terminauswahl: 1.3. Köln / 3.3. Ravensburg / 6.3. Karlsruhe / 8.3. Regensburg / 9.3. Hannover / 12.3. Worpswede / 13.3. Berlin)

Neu (26.02.2016)

Ciocarlia CD Mars Booklet

Ciocarlia CD Mars Titelseite

Ach, Europa!

Zur Orientierung 

Renaissance Bildband

Es erscheint weltfremd, wenn man zugunsten eines einigen Europas auf die gemeinsame Kultur in ihrer Vielfalt pocht, und wenn ich erzähle, was ich tue, wenn ich mich unserer Geschichte erinnern will, klingt das gewiss sinnlos elitär. Ich tue es trotzdem: ich greife nämlich nach einem opulenten Bildband, der da heißt RENAISSANCE. Ich besitze ihn seit Mitte der 80er Jahre. (Genauer: Die italienische Renaissance / in Bildern erzählt von Erich Lessing. Weiteres s.u.)

Wie gern höre ich zu, wenn mir nun, wie dieser Tage, ein Italiener von Europa erzählt:

(…) Ich glaube, die nackte und hässliche Wahrheit lautet: Das Projekt für den europäischen Kontinent ist zu einer Zeit entstanden, in der allgemeiner Wohlstand und überwiegend sozialer Frieden herrschten. Jetzt haben sich die Dinge verändert, zum einen durch die Krise eines Entwicklungsmodells, das die Wirtschaft den Finanzmärkten unterworfen hat und das die Mittelschicht schrumpfen lässt, zum anderen durch den Terror islamistischer Gruppen, die in den Peripherien Europas beinahe mehr Anhänger finden als in der arabischen Welt. Und nun offenbart sich erneut die Gemeinheit des menschlichen Herzens. Wir Schönwettereuropäer igeln uns in unseren mittelmäßigen nationalen Egoismen ein, unfähig, nicht nur mit anderen Kulturen, sondern auch und vor allem mit uns selbst, unseren Wurzeln, unserer Identität, ein Gespräch zu führen.

Die gute Nachricht: Nicht die Masse schreibt Geschichte. An der italienischen resistenza nahm anfangs nur eine Handvoll Menschen teil, nicht anders war es mit den Nazigegnern in Deutschland. Es sind Eliten, die Geschichte schreiben. Allerdings müssen diese Eliten, so sie ihren Namen verdienen, mehr als nur den passenden Slogan finden, um sich Rückhalt in der Bevölkerung zu sichern – sie sollten vorher auch Shakespeare und Goethe gelesen haben, vielleicht noch Ovid und ein bisschen Aristoteles und Freud, sie sollten Michelangelo, Masaccio, Gauguin, Francis Bacon und Goya kennen. Sie sollten das Bauhaus schätzen und den Barock, Gaudì und Alvar Aalto, Fellini und Jean Renoir, Ingmar Bergmann, Leopardi, Thomas Mann, Virginia Woolf, Doris Lessing, Milan Kundera und Wislawa Szymborska. Mit anderen Worten: Sie sollten sich selber kennen.

Dies scheint mir der entscheidende Punkt zu sein. Europa tut sich schwer damit, eine echte politische und wirtschaftliche Gemeinschaft zu werden, weil seiner führenden Klasse nicht bewusst ist, dass Europa das Produkt einer jahrhundertealten Zivilisation ist, in der die Kultur immer wichtiger war als es die Kriterien von Maastricht, die Börsen in Mailand und Frankfurt oder auch die EZB je sein können. Ich sage das ohne jede Polemik: Es sind nicht die abstrakten und farbigen Prägungen auf hässlichen Euro-Scheinen, die unsere gemeinsamen Wurzeln ausmachen, sondern jene Künstler, die, ohne es zu wissen, unsere Identität erst erschaffen haben. (…)

Quelle Süddeutsche Zeitung 9. Februar 2016 Seite 2 Lest Shakespeare und Goethe Das Unbehagen der Italiener an Europa und was daraus zu lernen ist / Von Mario Fortunato (Aus dem Italienischen von Jan Koneffke)

Und wenn man nun ernstlich von den Kosten reden würde? Jahrelang habe ich nicht hinterm Berge gehalten, wieviel ich von Philosophen wie Rüdiger Safranski gelernt habe, und nun lese ich mit großer Befriedigung eine Polemik gegen seine neuesten Auslassungen, und zwar in der neuen ZEIT. Herfried Münkler:

Es ist nicht auszuschließen, dass die EU unter dem Druck der Flüchtlingskrise zerbrechen wird, aber es ist ein Essential der deutschen Politik, dass dies erst eintrifft, nachdem man in Berlin alles versucht hat, das zu verhindern. Die Regierungen, die den deutschen Beitrag zur Rettung des Europaprojekts jetzt diskreditieren, verfolgen dabei nationale Interessen: Sie wollen hernach unschuldig dastehen. Einige deutsch Intellektuelle spielen ihnen dabei unbedacht in die Hände.

Deutschland hat wirtschaftlich von der Schaffung eines gemeinsamen Marktes in Europa ungemein profitiert, und es war und ist der Hauptnutznießer der Einigung des Kontinents. Erste Schätzungen besagen, dass die unmittelbaren Kosten nationaler Grenzregime für jedes größere EU-Land 10 Milliarden Euro pro Jahr betragen dürften. Das ist ein geringer Betrag mit den zu erwartenden Wohlstandseinbußen, die mittelfristig aus dem dann unvermeidlichen Wiederaufleben eines wirtschaftlichen Protektionismus erwachsen würden. Die Gesamtkosten, die jetzt für die Unterbringung, Versorgung und Ertüchtigung der ins Land gekommenen Migranten anfallen, dürften ein Bruchteil dessen sein, was der Zusammenbruch des europäischen Marktes kostet – zumal dann, wenn in den europäischen Polemiken Deutschland als „der Schuldige“ dafür dargestellt wird. Daran wird kein Essay von Sloterdijk etwas ändern.

Vor allem muss man sich vor Augen halten, welche Folgen ein Rückstau der Flüchtlinge auf der Balkanroute haben würde beziehungsweise im Herbst 2015 gehabt hätte. (…)

Quelle DIE ZEIT 11. Februar 2016 Seite 7 Wie ahnungslos kluge Leute doch sein können Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk kritisieren die Regierung und verlangen eine rigide Grenzsicherung – das zeigt, wie unbedarft die beiden sind. Von Herfried Münkler

Ich habe mit Bedacht nur den Abschnitt über die Kosten zitiert, gewissermaßen als Gegengewicht zur Hervorhebung der Kultur im vorhergehenden Zitat. Ich empfehle dringend die Lektüre des ganzen Artikels, der vermutlich in den nächsten Tagen online zu lesen sein wird. Der SZ-Artikel ist jetzt bereits vollständig im Internet zu finden. Zur weiteren Diskussion siehe auch im Deutschlandfunk hier. (JR)

Erich Lessing siehe hier / ISBN 3-570-02388-5 München 1983 / Das Internet sagt, dass dieser Band später vom Orbis-Verlag übernommen wurde, der aber inzwischen aufgelöst ist.

Renaissance Bildband b

Die Überschrift dieses Artikels bezieht sich auf Buch-Titel von Jürgen Habermas (1) und Hans Magnus Enzensberger (2). Dort anspielend auf Thomas Manns Aufsatz „Achtung Europa“ (1935).

(1) Jürgen Habermas entwickelt in einer Rede, die er aus Anlass einer Diskussion mit Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hielt, politische Alternativen für den Kontinent. Er plädiert für eine Politik der abgestuften Integration und für eine „bipolare Gemeinsamkeit“ des „alten Europa“ mit den USA.

(2) Die Einheit des Kontinents, so wie sie in der Logik der Konzerne, der Parteien, der Bürokratien verstanden wird, nämlich als Projekt der Homogenisierung, erweist sich als Chimäre. Europa ist als „Block“ undenkbar. Es ist kein Zufall, daß sich der Autor seinem Thema von der Peripherie her nähert. Die drei „Großen“, Frankreich, die Bundesrepublik und das Vereinigte Königreich, bleiben in seinem Buch ausgespart.

Das Titelbild des Bildbandes (ganz oben) stammt von Piero di Cosimo und zeigt Simonetta Vespucci, die man möglicherweise auch im Mittelpunkt des Gemäldes „Der Frühling“ von Sandro Botticelli wiederfindet. Wer weiß, ob es – global betrachtet – zu gewagt ist? Es könnte für europäische Werte stehen, die zuweilen – wie man kürzlich in Italien erlebt hat – für fremde Besucher verhüllt werden. Ach, Europa!

A propos Max Reger

Zu den Streichtrios

Anfang der Neunziger Jahre wurde ich – dank der Firma Intercord – für kurze Zeit zum „Reger-Spezialisten“. Wenn ich zurückdenke, fallen mir zuerst die Choralphantasien ein, dann aber genau dieses quasi mozartische Thema, das Sie hören, wenn Sie hier anklicken. Die CD ist mit der Firma vom Markt verschwunden, aber die Arbeit an dem Text und mit der Musik habe ich nie vergessen, und so soll das Ergebnis auch der Außenwelt dokumentiert bleiben. Vielleicht überträgt sich etwas von der Zuneigung, die Regers Musik nicht „automatisch“ auslöst? Bei mir begann es Ende der 50er Jahre mit den Mozart-Variationen, genau genommen mit einer einzigen daraus (Variation VIII), die ich unzählige Male wiederholt habe. Dann kam die Böcklin-Suite (vor allem „Der geigende Eremit“ & „Die Toteninsel“). Der Streichtrio-Text endet mit einer Verbeugung vor dem „Deutschen Streichtrio“, von dem allerdings nie die leiseste Reaktion kam. Was an meiner positiven Meinung natürlich nichts änderte, – aber die hier auf youtube auffindbare ist mir genauso lieb.

Reger Streichtrios Faksimile Reger Streichtrios 1 Reger Streichtrios 2 Reger Streichtrios 3Reger Streichtrios 4  Reger Streichtrios 5

Reger Streichtrios 6 Reger Streichtrios 7

Reger Streichtrios Sätze Trackliste der alten Intercord-Aufnahme

Hier jedoch die anderen Sätze (I-III) und noch einmal der oben bereits zitierte Satz IV der Youtube-Aufnahme mit Mitgliedern des Mannheimer Streichquartetts:

Sostenuto – Allegro agitato / Larghetto / Scherzo. Vivace / Allegro con moto

Bei Gelegenheit suche ich auch noch eine schöne Aufnahme des Trios op. 141 b …

Nachtrag 20.02.2016

Geschenk B.S. im Andenken an Richard

Reger Trio Faksimile

Kann man Kulturen vergleichen?

Ein Beispiel zur Musik in Indien und Europa

Ronald Kurt geht in seinem Buch (siehe hier) von Max Webers Entwurf aus  und schreibt:

Immerhin, mit der Trias ‚Schriftlichkeit, Mehrstimmigkeit, Komposition‘ hatte Weber einen kategorischen Bezugsrahmen bereitgestellt, mit dem sich die abendländische Kunstmusik kultursoziologisch in den Blick nehmen ließ. Durch die Brille dieser (aus der eigenen Kultur für die eigene Kultur entwickelten) Begriffe nach Indien zu blicken, würde aber bedeuten, das Fremde in der Optik des Eigenen zu sehen. Um nicht gezielt am Anderen der indischen Kunstmusik vorbeizusehen, mussten angemessenere Begriffe her. Einerseits; andererseits erforderte die Logik des Vergleichens, dass die Begriffe für die indische Musik zu den von Weber gewählten Begriffen passen mussten. Nach der Lektüre der einschlägigen Fachliteratur, insbesondere Daniélous Einführung in die indische Musik (1982), Bagchees Buch Nād. Understanding Rāga Music (1998) und dem Indienartikel in Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG 1996) kristallisierten sich die Begriffe ‚Mündlichkeit‘, ‚Improvisation‘ und ‚Einstimmigkeit‘ als Kernbegriffe für die Charakterisierung der klassischen indischen Musik heraus. In diesem Sinne fasst auch Ravi Shankar die Hauptmerkmae der klassischen indischen Musik zusammen. In einem Radiointerview mit Radio France Internationale vom 16.02.1998, auf das ich bei Recherchen im Archiv von All India Radio in New Delhi stieß, sagte er: „Our music has been always a oral tradition, it is not a written down music […] and the performance of a raga is all improvisation, nothing is fixed […] we don’t use harmona or structured composed music like in the west“. Der Stimme des weltweit wohl bekanntesten indischen Musikers folgend, entschied ich mich dann für die Konstruktion von Begriffsdichotomien und spannte den Vergleich der Musikkulturen Indiens und Europas in die folgenden Gegensatzpaare ein:

Indien - Europa

Ich weiß nicht, warum Ronald Kurt hier ein Interview bemüht, das Ravi Shankar für ein westliches Medium gegeben hat. Mir scheint, dass der indische Meister situationsbedingt oder aus rein pädagogischen Gründen die Sache absurd vereinfacht. In seinem 30 Jahre früher erschienenen Buch „My Music, My Life“ (New York 1968) gibt er jedenfalls eine weit differenziertere Darstellung, die zu anderen Folgerungen zwingen würde. Und auch Daniélou hat in seiner „Einführung in die indische Musik“ (1975) Formulierungen gewählt, die sich kaum in das obige Schema fügen:

Nicht die melodische Folge der Töne ist wichtig, sondern die Gesamtheit aller Töne. Dies erklärt, weshalb die modale Musik bei ihrer Ausführung improvisiert werden kann. Das Bewußtsein des Musikers ist auf das Gebäude als Ganzes gerichtet, auf eine vertikale Struktur. (S.17)

Einerseits wieder eine fragwürdige Aussage über das Improvisieren, andererseits der wichtige Hinweis auf die vertikale Komponente der indischen Musik.

Mit Blick auf das Schema könnte ich fragen, ob mit der Mündlichkeit in Indien nun grundsätzlich etwas Nicht-Fixiertes gemeint sein soll, und ob die Schriftlichkeit im Westen eigentlich einer abweichenden, improvisatorisch erweiterten Interpretation wirklich entgegensteht. In jeder mündlichen Überlieferung gibt es doch durchaus fixierte (unantastbare) Gebilde: in der südindischen Tradition kennt man eindeutig melodisch-rhythmische Kompositionen, deren tongenaue Wiedergabe von allen Kennern streng überwacht wird. Die Werke bestimmter Komponisten um 1800 gelten bis heute als sakrosankt. Es gibt in Süd und Nord zahllose Trommel-Kompositionen, die zwar nur im Gedächtnis der Interpreten „aufgezeichnet“ sind, jedoch dergestalt verfügbar, dass sie z.B. als Geschenk weitergegeben werden können. Auch jeder nordindische Künstler kennt eine riesige Anzahl eigener und fremder „Compositions“, Melodiegebilde, die refrainartig wiederkehrend das Rückgrat seiner Konzertvorträge bilden.

Wenn etwa Joh. Seb. Bachs zweistimmige Inventionen einen hohen Grad entwickelter „Mehrstimmigkeit“ realisieren, darf man ein raffiniertes Wechselspiel zwischen Sitar-Melismen und Tabla-Rhythmen keineswegs als Beispiel für „Einstimmigkeit“ subsumieren. Die indische Improvisation ist einerseits nicht zu leugnen, andererseits wieder in vielen Details so streng determiniert, dass man dafür einen neuen Ausdruck wählen müsste, um nicht eine Freiheit vorzugaukeln, die dort fast ebensowenig besteht wie in Europa beim Vortrag einer Beethoven-Sonate. (Übrigens soll diese klingen, als werde sie gerade geschaffen, – und nicht wie ein Schrift-Stück.)

Ein wichtiger Punkt wäre, dass die westliche Kunstmusik im künstlich eingehegten Raum entstand bzw. geschaffen wurde (Kloster und Kirche), während Volksmusik nicht etwa aufhörte zu existieren, soziologisch jedoch vollständig ausgegliedert wurde. Die indische Raga-Musik (zweifellos Kunst-Musik) kann von sich behaupten, dass sie zu 100 % auf Volksmusik basiere (Madhup Mudgal im Interview 15.04.1995); Wechselwirkungen sind also strukturell nicht ausgeschlossen.

Um es zuzuspitzen könnte man sagen: die westliche Musik ist der exotische Sonderfall, die indische Musik der Normalfall. Indische Musik kann man lernen, indem man bei Null anfängt, beim Grundton(-Klang); westliche Musik kann man nur lernen, indem man einen Teil der gesamten Musikgeschichte durchwandert, also wenigstens von 1600 bis 1900. (Man fängt nicht bei Null an, sondern mit der Kadenz, der Harmoniefolge I – IV – V – I.) Wer es kürzer haben will, halte sich an Max Regers Leitsatz „B-a-c h ist Anfang und Ende der Musik“ und beginne mit den ersten 4 Takten des Wohltemperierten Claviers.

Übrigens habe ich Bauchschmerzen bei allen allgemeinen Ausführungen zur Musik in Indien und Europa, würde aber selbst sogleich mit den Details beginnen: die Behandlung (Aussparung) des Grundtons im indischen Raga Marva und die Bedeutung des „Neapolitaners“ in der westlichen Harmonielehre. Und  so meldet sich Widerspruch, wenn ich bei Ronald Kurt auf Allgemeinheiten über Bach stoße, etwa Seite 36 – „Kunst der Fuge“ als Abschiedswerk (?), keinesfalls, man lese bei Peter Schleuning oder Christoph Wolff nach – , über Beethoven und das Subjektive als das „Allgemein-Menschliche“ (Seite 37). Oder bei dem Begriff der „Mimesis“, dessen Bedeutungsbreite auf das bloße Nachahmen im Schüler-Lehrer-Verhältnis reduziert wird, das in Indien extrem ausgeprägt sei.  „Die Bereitschaft zur Mimesis fungiert dabei als Bedingung für die Möglichkeit, dem Unterscheiden die Ich-Grundlage zu entziehen.“ (Seite 120) Und schon sind wir im Philosophisch-Allgemeinen. Hervorzuheben wäre dagegen, dass der Unterricht bei einem Meister auch im Westen unabdingbar ist und nicht halbherzig vonstatten geht. Schüler, die dem Lehrer ständig ihr unerfahrenes Ich und ihre eigene kleine Meinung entgegensetzen, sind auch im Westen hoffnungslose Fälle. Die Unterordnung unter den Komponisten ist ohnehin allererstes Gebot. Wer dagegenhält mit „Aber ich fühle es anders!“ ist auch bei uns ein Dummkopf. Der Geist des Werkes ist bei uns traditionellerweise genau so hoch angesiedelt wie in Indien der Geist des Ragas. (Ein Unterschied besteht in der religiösen Anbindung, die in Bachs Zeit allerdings noch betont wurde; wenn sie fehlte, hörte er nichts als  „ein teuflisch Geplärr und Geleyer“. In der Tat: das sieht man heute anders.)

Der Begriff der Mimesis (Ronald Kurt Seite 121) wird also als „nachahmende Handlung“ viel zu eng gesehen. Er wäre zu klären vor dem Hintergrund so heterogener Anwendungen wie in Berthold Auerbachs Buch zu Mimesis oder in der musikalischen Interpretationslehre von Adorno bis Jürgen Uhde und Renate Wieland:

Uhde Mimesis etc Uhde Mimesis b

Quelle Renate Wieland / Jürgen Uhde: Forschendes Üben. Wege instrumentalen Lernens. Über den Interpreten und den Körper als Instrument der Musik. / Bärenreiter Kassel etc. 2002

Man sage nicht: das sei ja der ganze Schrecken einer umfassenden Interpretationslehre. Die Übermittlung der Mimesis zwischen Lehrer und Schüler in diesem Sinn, die verbal ausformuliert unendlich viel Zeit in Anspruch nehmen würde, kann aber im direkten Unterricht durchaus wortlos geschehen. Das Stück liegt im Schriftbild vor ihnen auf dem Notenpult und wird in gemeinsamer Arbeit in Geste und Geist verwandelt. Fast wie in Indien – dort allerdings ohne Schriftbild.

P.S.

Übrigens ist meine Behandlung der Arbeit von Ronald Kurt nicht als grundsätzliche Kritik zu verstehen. Das Buch ist sehr aufschlussreich und in vieler Hinsicht empfehlenswert, es gibt nichts Vergleichbares! Und wenn ich einzelnes herausgreife, um es auf meine Weise zu untersuchen, so bin ich zugleich dankbar dafür, dass es mich aktiviert und herausfordert, – vielleicht vertraue ich zu sehr auf meine musikalische Intuition und misstraue unnötigerweise einem methodischen Ansatz, den ich nicht ganz angemessen finde. Wobei ich vor allem dann kritisch reagiere, wenn ich unsere eigene Musik allzu pauschal behandelt sehe. Das beginnt schon bei Max Weber, dessen Konzept der Rationalisierung letztlich auf einer Verabsolutierung und Idealisierung der abendländischen Harmonik beruht.

Soundscape

Was wir hören, wenn wir nur „lauschen“

 Kürzlich wurde ich wieder darauf verwiesen, aus dem Moment des Konzertes in die Jahrzehnte der regelmäßigen Begegnung mit den Ideen des kanadischen Komponisten und „Klangökologen“ Murray Schafer zurückzukehren. Und wie diese Ideen damals immer wieder erneuert wurden, was ich vor allem dem fortwährenden Austausch jener Jahre verdanke, als Hans U. Werner („HUW“) noch als mein Kollege im Studio für Klangdesign des WDR arbeitete. Er wiederum interessierte sich für den musikethnologischen Ansatz in unserer Abteilung (Volksmusik bzw. Musikkulturen) und insbesondere für die von mir seit 1982 mehrfach dargestellten „Methoden des Hörens„, die auch in seinen Buchtitel (2oo6) eingewandert sind:

Soundscape Werner Soundscape Werner rück

Soundscape Werner Text  (zum Lesen bitte anklicken)

Zu Hans U. Werner heute s.a. hier.

Als akustische Einführung in die Welt der Soundscapes eignet sich gut der Bericht, den der Schweizer Wissenschaftler Thomas Burkhalter ins Netz gestellt hat. Auffindbar HIER.

Zwischen Krach und Stille 

Wie klingen die Regenwälder von Papua Neu Guinea? Wie die Millionen-Stadt Kairo? Welche Sounds wählt die deutsche Komponistin Hildegard Westerkamp, wenn sie Indien vertont? Und zu welchem Krach wacht der renommierte Musikethnologe Steven Feld in Ghana jeden Morgen auf? DRS 2 hört sich für einmal Soundscape-Kompositionen aus vielen Teilen dieser Welt an. Thomas Burkhalter redet mit den Komponisten und Wissenschaftlern Steven Feld, Charles Hirschkind, Hildegard Westerkamp und Seth Ayyaz und diskutiert kritische Fragen: Wann sind Soundscape-Kompositionen einfach nur Sound-Safaris? Wann muss man ihnen vorwerfen, einen «akustischen Orientalismus» zu betreiben? Diese Sendung wurde ausgestrahlt auf Schweizer Radio DRS2 Musik der Welt am 17.9.2010.

Mich interessierte besonders ein Beispiel, das Indien betraf:

Ab 23:20 / 8. Into the Labyrinth / Hildegard Westerkamp „Into India: A Composer’s Journey“(Earsay Productions)

(Fortsetzung folgt)

Classics light statt Musikkulturen?

Zur Erinnerung (wie es bis Ende 2015 war)

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Dies sind nur Screenshots. An Ort und Stelle kann man immer noch die Broschüren mit dem Verzeichnis aller Sendungen aufrufen. Also etwa (Stand 4. Februar 2016) HIER 

Es gibt nach wie vor Sendungen zum Nachhören, wie hier die von Barbara Wrenger, gesendet am 31.05.2015: „Himalaya und Köln – Klänge hohen Glücks“.

Man weiß offenbar, was man daran hatte.

Auf diesem kleinen Sendeplatz, dem freundlich geduldeten Reservat der Musikkulturen (sonntags ab 16.05 Uhr), gibt es nun ab 2016 etwas ganz anderes: Klassische Musik in einer neuen Form der Präsentation. Lauter Einzelstücke als Klangteppich ohne Moderation, kunstvoll aneinandergefügt und mit Übergängen versehen von DJs, die uns aufgrund des Club-Charakters dieser Darbietung eine Erschließung neuer, mutmaßlich junger Publikumsschichten versprechen.

Klassik KlubScreenshot 2016-02-04 15.55.13 direkt anzuklicken hier

Die Sendungen sind für den einmaligen Gebrauch, nachhören kann man sie nicht, klar, sie verstehen sich von selbst, jedoch kann man die ebenfalls recht wortkargen Musik-Ablaufpläne anklicken. Und Informationen über die DJs findet man in ausreichendem Maße hier.

Ich enthalte mich jeder Bewertung dieser Sendeform im Rahmen klassischer Musikvermittlung, erinnere nur daran, dass diese Präsentation, – die Idee, jeglichen historischen und narrativen Ballast abzuwerfen -, nicht neu ist. Die Frage bleibt, ob die Musik nun auch leichter wird und ihren (lästigen) Anspruch verliert. Ob nicht im Gegenteil die Gefahr wächst, dass sie in Bruchstücke der Beliebigkeit zerfällt. Während Klassik im emphatischem Sinn von Vertiefung lebt, nicht vom Vorrüberrauschen.

Die Soundscapes der 70er und 80er Jahre wären in Erinnerung zu rufen, Klarenz Barlows gigantische Klangwelt Calcutta, die anspruchsvollen „Reisen des Ohres“ (s.u.), selbst die Matinee Couleurs, in denen World-Music-Fragmente aneinandergehängt und überblendet wurden, ohne dass es weh tat, aber auch ohne dass es lange nachwirkte. Ich weiß nicht, ob ich wirklich die ganzen Diskussionen, Widersprüche, Improvisationen und Experimente wieder revue passieren lassen soll.

Nein, ich sehe doch: – heute überlegt man auch sehr genau, wie man mit der Musik umgeht, wenn schon mal entschieden ist, dass sie im Prinzip aus den etwas unhandlichen klassischen Bausteinen bestehen soll. Aus dem Umgang mit ihnen lässt sich in jedem Fall etwas lernen. Wenn nicht über ihren Geist, so über unseren Zeitgeist.

Aus einzelnen Werken formt der „WDR 3 Klassik Klub“ ein neues und ganzes Hörerlebnis mit eigener Dramaturgie. So kommt ein Stück Club-Kultur ins Radio.

Viele Vorgaben macht WDR 3-Redakteur Michael Breugst den DJs nicht. Außer, dass die Mischung abwechslungsreich und spannend sein soll: nicht zu viel aus dem gleichen Jahrhundert, nicht nur leicht, sondern auch mit dem Mut zum Bruch innerhalb eines Mixes. Der Sonntag soll ein Tag auf WDR 3 sein, der sich auch für klassikaffine Einsteiger eignet. Und da muss die Mischung stimmen.

„Ich hatte einen Versuch gemacht, das ganz konventionell anzugehen, (…) nämlich Stücke zu suchen, die von der Tonart und der Stimmung gut zueinander passen und diese auch durchaus mit einer kleinen Pause hintereinander zu spielen. das erschien mir aber dann etwas ermüdend.“

„Ich habe wirklich Übergänge gemacht, teilweise auch Überlappungen, Überblendungen, wo sich das anbietet. Und ich habe dazu produziert, mit Effekten gearbeitet, ganz unterschiedlich von Stück zu Stück.“

…   [er kann nämlich] Sampler einsetzen und – wenn nötig – mit seinen analogen Synthesizern Übergänge basteln.

Eine aufwändige Denk- und Bastelarbeit, die sich gelohnt hat. Die Sendung wirkt wie aus einem Guss und nimmt den Hörer mit auf eine musikalische Reise. Dabei stammt die Musik aus allen Epochen. Brahms, Ravel, Strawinsky, Prokofjew, Chopin und Mozart tauchen in der Playlist auf, ein traditioneller marokkanischer Tanz mit Streichquartett und Minimal Music von Komponist Philip Glass.

Dennoch: Blume würde nie ein komplettes Stück einen Ganzton höher pitchen, damit die Tonart passt. Für vier Takte am Anfang erlaubt er sich diesen Trick aber schon. Er schneidet auch niemals Takte am Anfang oder Ende eines Stückes weg. Aber er produziert aus Elementen der Musik ein bisschen was dazu, um Übergänge zu bauen, verwendet dabei sogar gelegentlich Vogelzwitschern. Aber gering dosiert, fast unauffällig.

„Es ist ein schmaler Grat, (…), die Stücke sollen sich in der Sendung zu einem neuen funktionierenden Ganzen zusammenfügen, man muss aber auch sehr respektvoll mit dem Material umgehen.“

Auch sein Kollege Jürgen Grözinger will „sehr sensibel herangehen, da ich vor einem Radiopublikum bin. Ich würde nicht wagen, die Stücke hinsichtlich Geschwindigkeit oder mit Effekten zu verändern.“

Auf jeden Fall sei die Sendung „eine sehr schöne Spielwiese“, so Blume.

Quelle print Das Magazin des WDR Februar 2016  Seite 37 ff  „Einmal KLASSIK am Stück, bitte“ (Christian Gottschalk)

P.S. Ich habe den marokkanischen Tanz rot hervorgehoben, weil er hier vielleicht als kühnes Element gilt. Ein Mini-Mahnmal dessen, was an dieser Stelle und in diesem Programm einmal möglich war.

***

Zurück in die Zukunft! Hiermit soll keine Priorität beansprucht werden. Sicher ist nur: Das Radio ist selten ganz neu erfunden worden, erst recht nicht in jüngster Zeit. Insofern hilft ein Blick in die Geschichte:

Reise des Ohrs 1 Ansage 1987 Ansage WDR 3 am 9. Mai 1987

„In der folgenden Sendung und an den nächsten beiden Sonnabenden zur selben Zeit geht es um Musikwelten und musikalische Welterfahrung, Sendungen, in denen kein Wort der Erklärung gesprochen wird. Gewiß, jedes akustische Zitat hat etwas zu bedeuten, d.h. der Autor hat sich etwas gedacht bei der Auswahl und Aneinanderreihung dieser Hörstücke aus dem Wald, dem Wasser, Dörfern des Balkan, aus Orient und Okzident: er versuchte nämlich Natur und Kunst voneinander zu unterscheiden und bemerkte, daß das Ohr daran nicht interessiert ist. Da´ß es gern und ständig mit diesen verschiedenen Schichten der Wirklichkeit umgeht; in der Natur wie in der Kunst. Wollen Sie Ihrem Ohr diese einstündige Reise zwischen Abend und Morgen erlauben? Idee und Zusammenstellung: Jan Reichow“.

Geplant waren folgende drei Sendungen, die allerdings so erfolgreich waren, dass eine ganze Sendereihe daraus wurde.

Reise des Ohrs Werbung

Der Plan der ersten Sendung, wie ihn der „DJ“ damals, lange vor der Einführung der Digitalisierung ausgearbeitet hatte:

Reise des Ohrs Ablauf a  Reise des Ohrs Ablauf b

Für einen späteren Zeitpunkt habe ich mir vorgenommen, alle Sendungen dieser Reihe aufzulisten und zu dokumentieren. Vielleicht werde ich damit endlich berühmt. Und habe nur zuviel geredet. Ich habe sogar noch eine schöne wortlose Sendung in Erinnerung, in der Iranische Tar- und Santur-Fantasien sich mit Bachschen Cembalo-Toccaten nahtlos zusammenfügten. In der Tat, es ging um wechselseitige Beleuchtungen, und zumindest ich war hin- und hergerissen von den erhellenden Wirkungen der bloßen Musik.

P.S.

Was ich jetzt noch nicht erzählt habe? Weshalb ich eines Tages völlig damit aufgehört habe. Es war die Furcht vor der Beliebigkeit. Die Sorge, Meisterwerke oder Meisterleistungen zu „verheizen“, ohne dem falschen Einverständnis wenigstens verbale Stolpersteine in den Weg gelegt zu haben…

Gute Musik braucht guten Kontext.

(Deshalb konnte ich mich auch nie mit der Sendung „WDR 3.pm“ anfreunden. Stichworte: Beliebigkeit + zu wenig Respekt gegenüber hochrangigen Bestandteilen + unangemessen ironischer Blick von weit oben )

***

Ein gutes Beispiel verbaler und physischer Klassik-Vereinnahmung kommt gerade aus dem – was auch immer das ist – „clubzwei“ in München:

Die Goldberg-Variationen wurden geschrieben, um in eine tiefere Entspannung zu gelangen. Sie tragen eine wirkmächtige, hypnotische Kraft in sich. Jacques Palminger wird diese Energie freisetzen. In einer konzertanten Séance macht er die heilenden Frequenzen, die magisch reale Schönheit und die alles durchdringende Wahrhaftigkeit der Goldberg-Variationen zu einer bewusstseinserweiternden Erfahrung. In einem luftigen, sich immer weiter verdichtenden Netz aus Einflüsterungen, Wachträumen und assoziativen Gedichten aktiviert er das suggestive Potential dieser Jahrhundert-Komposition. Nach dem Vorbild der jamaikanischen Dub-Musik werden die Variationen in Echtzeit verlangsamt und mit psychoakustischen Effekten belegt, um so ihre Wirkung voll zu entfalten. Unterstützt wird Palminger durch den Jazz-Musiker, Bach-Intimus und Multi-Instrumentalisten Lieven Brunckhorst.

„Erwarten Sie nichts weniger als eine mental-positivistische Gruppenhypnose mit surrealistischem Mehrwert und maximalem Glücksversprechen. Diese musikalische Lesung hat den Anspruch, der zauberhafteste Abend des Jahres zu werden. Die Fallhöhe ist enorm, die Chancen stehen gut. Lernen Sie, Ihre innere Katze zu streicheln und Ihre Leber zur Sonne zu drehen! Kommen Sie mit auf den Goldberg!“ (Jacques Palminger)

Kann es überhaupt bessere Worte geben, um das Elend der Musik heute zu beschreiben?

BACH BWV 1001 Adagio – zum letzten

Das Schicksal einer Abschrift (Quelle C)

Bach BWV 1001 Palschau

Quelle Mus.ms. Bach P 267 Staatsbibliothek Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Germany (http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/) Vgl. auch den Artikel hier.

Wer auch immer diese Abschrift der „Sonata I ma“ angefertigt hat, er verstand etwas davon, aber derjenige, der sie mit Überschrift versehen hat, zeigt auch einen gewissen Abstand, sonst hätte er (wer auch immer) nicht im Zusatz zur Titelzeile hervorgehoben, dass sie von dem „berümbden Bach“ stammt. Vielleicht gibt die Notiz am Ende des Notenblattes einige Hinweise?

Der vierzeilige Text wurde bereits im ersten Kritischen Bericht (Hausswald 1950) im Detail entziffert:

Dieses von Joh. Sebast. Bach eigenhändig geschriebene / treffliche Werck, fand ich unter altem, für den Butterladen / bestimmtem Papier, in dem Nachlasse des Clavierspielers Palschau / zu St. Petersburg 1814. Georg Pölchau.

Von Bach „eigenhändig geschrieben“ sicher nicht. Aber wer ist der Clavierspieler Palschau, und wer ist Georg Pölchau, der Schreiber dieser Zeilen? Wie kam das Konvolut der Noten, zu denen auch dieses Blatt gehört, nach Petersburg, wo letzterer es auffand?

Georg Pölchau kannte sich aus: geboren 1773 in Kremon bei RIGA, wo er 1785-1792 die Domsingschule besucht hat, gestorben 1836 in Berlin, war einer der größten Notensammler seiner Zeit. Ihm war z.B. der Kauf der Bibliotheken und Nachlässe von N. Forkel und C. Ph. E. Bach geglückt, er besaß zahlreiche Autographe J. S. Bachs. Nach der Heirat (1811) mit einer Frau aus wohlhabenden Hamburger Verhältnissen zog er 1813 mit seiner Familie nach Berlin und konnte sich nunmehr ganz seiner Sammeltätigkeit widmen. Er unternahm dafür zahlreiche Reisen nach Mitteldeutschland, Süddeutschland und Osteuropa. (Siehe MGG 2005 Bd.13)

Der Komponist und Clavecinist Wilhelm Johann Gottfried Palschau ist am 1741 in Kopenhagen geboren und 1815 in St. Petersburg gestorben. Er studierte in RIGA bei Johann Gottfried Müthel, ab 1777 erwarb er sich in St. Petersburg den Ruf eines angesehenen Clavecinisten und Pädagogen. (Nach Alexander Schwab: Migration deutscher Komponisten und Musiker, 2005)

Johann Gottfried Müthel (1728-1788)  steht für die direkte Verbindung zu Johann Sebastian Bach. Siehe Wikipedia. Darin:

Zur Perfektionierung seiner musikalischen Fähigkeiten wurde Müthel [1750] ein Urlaub für die Dauer eines Jahres gewährt. Diesen begann er zunächst als einer der letzten Schüler Johann Sebastian Bachs, in dessen Haushalt er auch wohnte. Auch wenn Bach bereits drei Monate nach seinem Eintreffen verstarb, konnte sich Müthel als Kopist des schon erblindeten Meisters intensiv mit dessen Schaffen auseinandersetzen.

Man kann aus den persönlichen und geographischen Zusammenhängen nicht unbedingt schließen, dass Palschaus Bach-Noten aus dem Besitz von Müthel stammen und somit vielleicht aus der unmittelbaren Umgebung J. S. Bachs. Die Vorlage dieser Gebrauchsexemplare – so sagt der Kritische Bericht (1950), der neuere ist mir leider noch nicht zugänglich – kann aber auch nicht Bachs Autograph von 1720 gewesen sein, sondern möglicherweise eine frühere Fassung.

Irritierend ist zudem die Tatsache, dass Pölchau die Noten aus dem Nachlass Palschaus im Jahre 1814  entdeckt hat, dieser aber erst 1815 gestorben ist. Hat er also noch gelebt, als Pölchau die Blätter im Altpapier entdeckte???

Einige ungelöste Rätsel…

Nur nicht in einem Punkt: auch in dieser, Bach gewiss sehr nahestehenden Abschrift steht im Takt 3 dies Adagios (Zeile 2) ein klares b als Vorzeichen vor dem untersten Ton des dreistimmigen Akkords. An dieser Stelle ein E zu spielen, das die Schärfe der Dissonanz verdirbt, sollte man  nicht mit einer  subjektiven „künstlerischen Entscheidung“ begründen oder gar mit dem Urtext: Bach hat es in seiner Reinschrift von 1720 einzuzeichnen vergessen, weil es so selbstverständlich geworden war.

62 Minuten zur realen Situation

TV: nicht nur konsumieren, sondern nach-denken, analysieren

ttt sendung Screenshot 2016-02-02 07.29.39 Zum AnHÖREN nächstes Wort klicken:

Hier  ttt Titel-Thesen-Temperamente / ab Minute 1:00 bis 6:16 Blom, Leggewie (5 Minuten)

Unser Wohlstand ist immer die Armut von anderen.

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zdf Lanz Screenshot 2016-02-02 07.41.12 Zum AnHÖREN nächstes Wort klicken:

Hier In der Sendung Markus Lanz: Albrecht von Lucke ab 4:26 bis 16:45 (12 Minuten)

Parteien-Strategie / das heißt: die AfP ist ein Gefäß für alle eher autoritär orientierten Menschen aller Parteien. Und für alle jene, die Sorge haben, dass dieser Staat kippen würde.

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zdf prechtScreenshot 2016-02-02 07.46.14 Zum AnHÖREN nächstes Wort klicken:

Hier  Richard David Precht & Alexander Kluge / die ganze Sendung „Komplexe Welten – Ratlose Menschen“ (45 Minuten)

Trotz allem: Orientierung! Narration! Zusammenhang!

Einleitung Precht:
„Wir leben heute in der komplexesten Welt, die es je gab. Das globalisierte und digitalisierte Zeitalter liefert uns eine unüberschaubare Menge an Daten und Informationen über alles. Doch je mehr wir wissen, um so weniger scheinen wir zu wissen, was wir glauben und was wir tun sollen. Wie sollen wir leben? Was sind die richtigen persönlichen und politischen Entscheidungen? Es scheint, als ob wir es nicht mehr schaffen, die Fülle der Informationen zu durchdenken und zu gewichten.
Darüber rede ich mit dem Filmemacher, Fernsehproduzenten und Schriftsteller Alexander Kluge.“

Kongs große Stunde (Kluge 2015): 1. Satz – „Wieder einmal hatte die Menschheit sich übernommen.“

Das erinnert mich sehr an die aktuelle Situation: haben wir uns mit allem übernommen? Leben wir in einer Welt, in der wir zu viele Informationen haben? In der wir keine Zusammenhänge mehr stiften können und verloren zu gehen drohen?
A.K.: Ich glaube, dass das nie anders war.
PR Also, Sie denken jetzt daran, dass in früheren Zeiten die Menschen ihre Lebenswelt als ähnlich überfordernd erlebt haben wie wir heute?
A.K.: Sie haben’s selbst mal geschrieben: im 12. Jahrhundert, also sehr weit zurück, in der Zeit Barbarossas, ist es so, dass das Jahrhundert so schnell vorangeht, so viel Wechsel hat, die Gesellschaft sich dauernd ändert, dass man zweimal im Leben lernen muss, man muss also als 50-, 60-Jähriger nochmal auf die hohe Schule. Das ist der Zeitpunkt, wo die Universität begründet wurde. Ja, ein glanzvolles Jahrhundert, aus Not.

PR Man müsste also umgekehrt fragen: hat es mal Jahrhunderte gegeben, in denen die Menschen mit der Geschwindigkeit, mit der die Welt sich weiterentwickelt, im Einklang waren, nicht überfordert?

A.K.: Eigentlich kenne ich solche Jahrhunderte nicht. Als es mal augusteisch werden sollte, so um 1600, da kam der 30jährige Krieg. Als die Klassik sich mal so richtig einrichtet, kommt die Romantik, kommen Napoleons Kriege, ja, als die vorüber sind, kommt wieder Unruhe, neue…

PR Ist vielleicht so: je statischer, totalitärer, auf Ewigkeit programmiert ein Gesellschaftswurf ist, um so schneller wird er sich wieder ändern.

A.K.: Das können Sie sagen. Oder Sie können umgekehrt sagen: wenn Milch und Honig einfach fließen, und die gebratenen Tauben in den Mund … reisen, dann bewegt sich die Gesellschaft nicht. Hermann Parzinger hat das sehr eindrucksvoll beschrieben: im Süden von Ägypten – wo später die Pharaonen sein werden – gab es diesen Luxus, wo die Natur so reich war, dass die Menschen dort die Bronzezeit versäumten, die Eisenzeit versäumten, und sich überhaupt nicht entwickelten, und später unterjocht wurden durch das, was aus Libyen, aus der Wüste, aus der Not heraus kam.
PR … d.h. der ganze Fortschritt – nicht nur beim Menschen, sondern in der Natur – ist abhängig von sich schnell wandelnden Umweltbedingungen. Wenn die Umweltbedingungen immer gleich bleiben, wie in der Tiefsee, da gibt es Organismen, die dort vielleicht 200 Millionen Jahre überleben, weil nichts passiert… Und da, wo der Umweltdruck besonders hoch ist, ändern sich die Menschen. Das klingt so, als ob ein überfordernder Zustand vor allem positiv zu interpretieren sei, nämlich als Chance der Weiter- oder gar Höherentwicklung.

A.K.: … und da ist ein Fehler noch drin in dem Gedanken, nämlich: sie müssen früher mal Glück gehabt haben, und sozusagen ’n Stück Ruhe gehabt haben, z.B. an der Mutterbrust, ja, oder in einer Gesellschaft, die einen Moment lang Nischen hatte, und dann anschließend kommt die Herausforderung, und jetzt können sie sie beantworten.

PR Weil, das Veränderungspotential entspringt nicht aus der Veränderung, sondern muss vorher da sein und wird dann aktualisiert.
Haben Sie nicht gleichwohl trotzdem den Eindruck, dass wir in einer Zeit leben, die auf enorme Art und Weise mit sich überfordert ist, dass wir eine Politik haben, die es schwer hat, in großen Zusammenhängen zu denken, die vor den Herausforderungen, vor denen wir stehen, beispielsweise vor der Flüchtlingskrise, eigentlich viel zu klein, viel zu überfordert, viel zu eng, viel zu sehr in kleine Sachverhalte verstrickt ist, um dieses Thema auch nur ansatzweise bewältigen zu können? (weiter ab 4:20) Nur noch Stichworte:

7:50 Aufstieg des Kapitalismus. „World com“. Aufflackern von Tribalismen. Energie, die darin liegt. Kulturelle Gleichschaltung durch die Medien – wie Lava über allem. 10:00 Die eine Welt global, die des Kreon, aber die andere, Antigones, bleibt persönlich. Liebesbeziehungen, die den Erdball umspannen, globale Beziehungen, mit denen man Geld verdient. „Autobahnen“ – „Dornröschen“. Welt der kommerziellen Wirklichkeiten – was grenzen sie aus? Pläne – Geschichten, die keinem Plan folgen. Flüchtlinge. 13:00 Lebensläufe immer partikular, plötzlich aber verschränkt mit dem Ganzen. Dieses Lebendige ist das, was man erzählen kann. Internet = neue Öffentlichkeit. Piazza! Reibung. Internet als Maschine der Bestätigung von Vorurteilen. 15:00 Spiegel online, alles in einem Satz sagen müssen, Amazon-Empfehlungen, Wohlfühl-Gesellschaften, Liebesgeschichten, Mensch kein rationales Wesen, Konjunktiv, Optativ im Griechischen, Grammatik der Gefühle, Fiktionsbedürftigkeit des Menschen, dagegen Matrix des Marktes, zugleich wachsendes Bedürfnis nach Geschichten, „das ist absolut wahr, was Sie sagen“, nackte Information kann den Menschen nicht befriedigen, Partisanen in uns, das Anarchische im Menschen ist so stark 20:00 Verschwörungstheorien. Was Menschen empfinden bleibt authentisch. Geburt – nicht digitalisierbar. Menschen erfinden Geschichten nach dem Muster der Medien. Man muss aber „buddeln“, um das Authentische zu finden. 22:40 „Mein Sohn macht in der Schule die Bürgschaft von Schiller“. Hollywood als Schulaufgabe. Das technische Denken als Quelle der Phantasie. „Die Pyramiden bluten“. Was ist Freund? Was ist Versprechen? Schiller als Erzähler, als Illusionist. 25:00  Was ist Tyrann? Der eine menschliche Regung zeigt. Man kann genauso die Bösartigkeit der Welt aus der Geschichte ablesen, denn nichts aus der Ballade „Die Bürgschaft“ ist wahrscheinlich, und dennoch sagt Schiller: das Unwahrscheinliche wird Ereignis, – andernfalls: wäre diese Geschichte uninteressant. Ein so phantasiebegabtes Tier wie der Mensch müsste an der Realität verzweifeln, wenn er sie ernst nähme. Arno Schmidt: Nur die Phantasielosen flüchten in die Realität und zerschellen dann – wie billig – daran. Wenn sich nun die Fiktionsbedürftigkeit und die Information nicht mehr trennen lassen… Umkippen der Stimmung nach den Ereignissen am Kölner Hbf., im größten Teil der Medienereignisse geht es um Auflösung detektivischer Zusammenhänge, aber wir versuchen nicht mehr, die großen Zusammenhänge zu begreifen, man verwechselt die dramaturgischen Ereignisse mit der realität… A.K. : „Aber war das je anders?“ Gutenberg Druckerkunst Pamphlete mit Aufrufen zum Krieg, also viel Schrott. Luther? Viel Unfrieden gestiftet. 30Jähriger Krieg = die Summe alles Gedruckten – in einer Welt, die völlig überfordert ist mit alldem, und da hat man sich doch auch orientiert: da gibt es plötzlich in 5 Jahren einen Blitzfrieden, plötzlich konnte jeder seine Meinung kundtun, plötzlich wird Öffentlichkeit geschaffen. Die Öffentl. zwingt die Monarchen sich zu vertragen! Die gleiche Öffentl., die vorher den Krieg begünstigt hatte. Vergleich mit Arzt, Körper und Infektion. Ähnliche Überforderung durch Internet? Adorno: Weder von der Macht der Verhältnisse dumm machen lassen noch von der eigenen Ohnmacht. Stichwort „Angst“: 30:00 A.K.: Ich würde versuchen gegenzusteuern, poetisch sehr leicht, ich hol mir den Ovid, den Ossip Mandelstam etc. ich hol mir andere Poeten zu Hilfe. Und kann da wie mit einer Droge durch Illusionstätigkeit, durch Narration, durch Erzählen die Angst eindämmen. 30:30 PR Was wären heute die wichtigsten Narrative, um heute die Angst vor dem Islamisierung oder Überfremdung? A.K. : ZUSAMMENHANG! D.h. Wenn ich den IS sehe, kommt mir schon das Grauen, und ich kann dagegen poetisch nichts ausrichten. Habe mal versucht mit Helge Schneider FILM …ging nicht. Jetzt nehme ich Karl May… „Im Lande des Mahdi“… dadurch dass eine Geschichte erzählt wird, bin ich entspannt. … neben der Realität. Dass diese Realität noch andere Zeichen hat. PR: Über historische Zusammenhänge reden, um Menschen die Angst zu nehmen? Karl May „Durchs wilde Kurdistan“. Reiseroute der Flüchtlinge. Hat aber mit Wirklichkeit gar nichts zu tun, er ist kein Forscher. Deutscher Provinzler, der sich mit der Welt beschäftigt. PR: Inwieweit könnte ein Narrativ in der heutigen Angstkultur helfen? (Viele Menschen haben heute Endzeitphantasien.) 35:00
A.K.: Kants kleines Buch „Sich im Denken orientieren“. Wie ein Horizontwanderer… Vertrauen entwickeln – egal ob durch Wahrheitssuche oder durch Erzählung und Fiktion. Vertrauen! „Die Medien leben von einem Minderwertigkeitskomplex“ der Gesellschaft. Sie dürften sich nicht zentralistisch organisieren, sie müssten Tunnelbau betreiben. PR: dass wir eine impressionistische, pointilistische Art haben, die Informationen aneinanderzureihen, ohne sie in einen Zusammenhang zu bringen.
A.K.: Machen wirs doch mal praktisch: „Nathan der Weise“ von Lessing. Moslem, Christ, Jude. Wenn ich das mit Ihnen zusammen zu dichten hätte… neu schreiben. Die Geschichte selber kann uns immun machen gegen die größten Irrtümer. 1. Weltkrieg, 79 Friedensgelegenheiten. Wo läge der glückliche Ausgang heute, den wir im Moment nicht sehen? Frühere Flüchtlingsbewegungen, Ungarn 1956. USA. 40:00 Emigrant, der die Heimat mit sich fortträgt, um sie in der Ferne wieder zu restituieren. „Wenn wir – Syrien hier erneuern – damit etwas zu tun hätten!“ Unsere Emigranten 1848, die breite Teile der USA mitbegründen, aus Galizien, nationalhymne Deutschlands außerhalb entstanden, in Erinnerung an, Urmythos vom alten Ehepaar Philemon und Baucis, eines Tages kommen Gäste, Götter, was sie nicht wissen, sie opfern etwa, teilen mit ihnen, werden belohnt, dürfen sich wünschen, am gleichen Tag zu sterben und wachsen später als Baum zusammen. Der Preis, dass man glücklich wird, – ist die Gastfreundschaft. Kant: diese Gastfreundschaft ist Naturgesetz. Wenn unser Planet rund ist, Kugel, müssen wir einander begegnen, daraus folgt, dass wir uns freundlich aufnehmen müssen, wenn es uns nicht verletzt. „ein Mensch, der die Grenzen dicht macht, gewinnt vielleicht Ruhe, aber kein Glück.“ Ein letztes Maß an Spontaneität. Keine Mauern zusätzlich zu denen, die es in der Welt schon gibt. Es gibt keinen Ort, an dem soviel Geschichten entstehen, wie dort, wo man mit Gästen zusammensitzt. 44:18 ENDE