Zur Revision vorgesehen (daher Teilwiedergabe eines 1o Jahre alten Vortrags; nicht wiedergegeben sind die Methoden 12 und 13 sowie ca. 8 zusätzliche Textseiten).
Direkter Anlass: Treffen (5. Dezember) mit dem Klangforscher Prof. Dr. Hans Ulrich Werner (Hochschule Offenburg). Indirekter Anlass – ein Echo von damals: „Exotik ja, Diskurs nein?“ Friederike Haupt in der NMZ 4/06, siehe HIER.
Methoden des Hörens
dargestellt von Jan Reichow
(Vlotho 1981, revidiert & erweitert Stuttgart 2004)
Vor rund 25 Jahren kam ich aufgrund verschiedener musikalischer Erfahrungen auf eine Idee, die mir zukunftsträchtig erschien: statt immer neue Kulturen und Subkulturen zu betrachten und zu vergleichen, sollte man doch zunächst verschiedene grundlegende Methoden des Hörens erforschen.
Vorausgegangen war die Vermutung, dass es keine Synthese verschiedener Grundeinstellungen geben kann: so wie schon August Halm ”Von zwei Kulturen der Musik” sprach, die nicht miteinander zu vereinbaren seien, zwei Methoden musikalischer Weltsicht, kurz gesagt: Bach und Beethoven, die – wie Furtwängler einmal anmerkte – sich ähnlich zueinander verhalten wie Eiche zu Löwe. Die man gleichermaßen lieben aber nicht miteinander kreuzen kann.
Erich Auerbach hat gegensätzliche Konstellationen des Blicks auf die Wirklichkeit durch die ganze abendländische Literatur verfolgt: sehr eindrucksvoll gleich zu Beginn seines Buches “Mimesis”, wenn er die homerische Erzählweise mit der alttestamentarischen vergleicht.
Erich Auerbach: Mimesis / Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur / Bern 1946 / 4. Auflage 1967 / Kapitel I: Die Narbe des Odysseus / darin: Gott, Abraham, Isaak /
Wer erlebt, wie eine Melodie sich aus einem Bordunton herauslöst, hört anders als jemand, der eine Melodie zu wechselnden Akkorden hört.
Wer aber den Bordun gar nicht in seiner maß-gebenden Rolle kennen gelernt hat, sondern nur als Moment der Unbeweglichkeit begreift, hat keine Chance der adäquaten Wahrnehmung indischer Musik.
Ein Komponist erzählte mir damals, er habe seiner Frau erklärt, warum ihr die indische Musik so traurig vorkomme: ”Sie ist es, weil sie von ihrem einen Akkord nicht runterkommt.”
Ein Jazz-Pianist, dem ich eine Monteverdi-Aufnahme vorspielte, die mich begeisterte, meinte: ”Ich weiß nicht, was dir daran gefällt. Ich höre nur Kadenzen.”
So verstärkte sich allmählich die Vermutung, dass eine gründliche musikalische Ausbildung immer auch wie eine Art Gehirnwäsche wirkt, die gegen andere Methoden immunisiert.
Manche Musikstile oder Kompositionen sind bereits so angelegt sind, dass sie zunächst ihre Methode benennen bzw. unsere Aufmerksamkeit in die gewünschte Richtung lenken.
Ich gebe Ihnen dafür drei Beispiele: ein indisches, ein frühes italienisches und eins aus der Neuen Musik, die ja nicht gerade verschwenderisch ist mit solchen Hilfen.
Musik l Der Sänger Pandit Jasraj beginnt Raga Ahir Bhairav ca. 3:00 CD Worship by Music / Chandha Dhara SNCD 70491 / Indian Night Stuttgart ’88
Da bleibt kein Zweifel über die Bedeutung des Grundtons, der eigentlich ein Urklang ist, der, wie ein indischer Kommentator sagt, in sich Myriaden Dramen aus Tönen und Rhythmen birgt (Vidya Rao: ”myriad dramas – the leelas of raga and tala“. In: Music Appreciation Vol 1 A three part understanding of Hindustani music 1992 Script: Vidya Rao / Music Today CD-A92017)
Paradigmatisch setze ich einen anderen Anfang dagegen, der ebenfalls die Ausgangsebene eines Dramas bezeichnet.
Musik 2 Monteverdi Tr. 4 Anfang ”Hor che’l ciel” bis 1:06 Monteverdi: Madrigali guerrieri et amorosi (1638) / Taverner Consort and Players / Andrew Parrott / Emu Classics „Reflexe“ /CDC 7 54333 2
Das ist der Beginn eines außerordentlich leidenschaftlichen Madrigals von Claudio Monteverdi nach einem Sonett von Petrarca.
Die Basis aber: ”das Meer ruht still in seinem Bett”, der Null-Meridian, das ist der Grundakkord und die auf ihn bezogene Kadenz.
Ähnlich verhält sich der Anfang des folgenden Stücks zum ganzen Werk. Allerdings ist der ruhige Beginn von einer intensiven Spannung erfüllt, man kann sich nicht entziehen, ein Riesenklang in unguter, latent bedrohlicher Bewegung.
Musik 3 György Kurtág Tr. 4 ”Stele” Anfang bis 2:44 Kurtág: „Stele“ für großes Orchester 1994 / SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg / Michael Gielen. Aus: Musik in Deutschland 1950 – 2000 / BMG Deutscher Musikrat / 74321 73519 2
György Kurtág: ”Stele” Op. 33, also: eine griechische Grabsäule mit Inschrift oder Totenbildnis.
Was ich mit diesen drei Beispielen zeigen wollte: dass es unter den verschiedenen Hörmethoden durchaus Vergleichbares gibt; trotzdem ist die Art der Anwendung so unterschiedlich, dass man nicht automatisch ein und dasselbe Handwerkszeug verwenden kann. Man muss mit der Methode vertraut sein. Selbst im Fall der Monteverdi-Kadenz, die ja im Prinzip auch für Bach gilt, – es gibt kein Werk, in dem er nicht zu Beginn den kleinen Kreis schlägt: Tonika / alternierende Akkorde / Tonika – bis hin zu den großen strukturellen Kadenzen und Urlinien, die Heinrich Schenker unermüdlich aus den klassischen Meisterwerken des 19. Jahrhunderts herausgelesen hat: hier muss sich die Methode beständig verändern auf Grund der sich wandelnden symbolischen Befrachtung der musikalischen Vorgänge.
Mir schien es dennoch richtig, diese Unterschiede zu ignorieren und das Abendland gewissermaßen auf die Kadenz zu reduzieren, um Grundeinstellungen zu finden, Methoden des Hörens, und ich vermutete, dass es nicht unüberschaubar viele gibt, 5 bis 8 etwa, aber bei neuerlichem Überlegen neige ich zu einer größeren Zahl, und sicherlich werden Sie meine Liste auch nicht unbedingt für erschöpfend halten.
1) Man versichert sich eines durchgehenden Borduntons, um die Melodien präzise einordnen und verorten zu können, und empfindet ihn als so selbstverständlich und hilfreich, wie eine Tänzerin die Ebenmäßigkeit des Bodens. (Bordunmusik, Indien)
2) Man löst die Melodien vom Bordun, konzentriert sich auf Melodiemodelle, lineare Muster von Tonfolgen, die in sich hierarchisch geordnet sind (modale Musik), Wiederholungen, Reihungen o.ä.
Die Musik zählt ihre Vorgaben auf, überhaupt: sie erzählt… (etwa nach dem Muster des epischen Vortrags)
3) Oder man konzentriert sich – vielleicht mit magischem Hintergrund – auf Klänge, man entdeckt Echo- und Höhlenresonanzen, man hält Töne aus, man ruft durch Masken, man schlägt Glocken.
4) Man lenkt den Focus des Hörens auf und in den Einzelton, entdeckt das (”geisterhafte” ?) Angebot der Obertonreihe (Tibetische Mönche, Khöömi-Gesang in Zentralasien, Maultrommel, Musikbogen in Afrika)
Musik 4 Tuva Tr. 7 ab 1’ Maultrommel + Khöömi ca. 1’30 Oleg Kuular: Chomus and Chöömej / Tuvinian Singer & Musicians / World Network 55.838
5) Man lenkt den Focus des Hörens auf die entdeckten Klangsäulen (sardische Chöre)
Musik 5 Sardinien Voches Tr. 1 ca. 1’30 Cara cantu ser bella / tenore de orosei / voches de sardinna (1) / Basic Edition / Winter & Winter / W&W 910 021-2
Oder man lässt mehrere Säulen alternieren: z.B. 2 oder 3 Musikbögen im Wechsel; man überträgt die gehörten alternierenden Tonfolgen auf ein anderes Instrument: so ist die verblüffende Verwandtschaft der Mbiramuster mit harmonischen ”Kadenzen” zu verstehen. (Zimbabwe)
Musik 6 Chipendani + Mbira CD I Tr. 9 + 10 CD zum Buch: Klaus-Peter Brenner: Chipendani und Mbira / Musikinstrumente, nicht-begriffliche Mathematik und die Evolution der harmonischen Progressionen in der Musik der Shona in Zimbabwe
CD I Bsp. 9: Abstrakte Demonstration der prinzipiellen Realisierbarkeit der 12-gliedrigen Standard-Progression auf zwei im Quartabstand zueinander gestimmten, alternierend und teilweise überlappend gespielten zvipendani (Plur. von Chipendani = Musikbogen). Direkt anschließend CD I Bsp. 10: Nyamaropa. Mbira (….)-Stück. Getrennt-kanalige Aufnahme mit Kontaktmikrophonen. Experimentelle Aufnahme (Brenner).
6) Man entwickelt ein System des akkordischen Zusammenhangs: eine harmonische Kadenz, die man nunmehr als (”Choral”- ) Struktur in jeglicher Musik wahrnehmen kann. (Europa)
7) Man spürt die Reibung eng zusammenliegender, gleichzeitig gesungener Töne und entwickelt ein mikrotonales Sensorium (bulgarische Diaphonie), dazu gehört Bordunarbeit und das physische Erlebnis der sich ”schneidenden” Stimmen.
Musik 7 Bulgarien Tr. 4 und 9 ca. 1’30 „Kukuvitsa po dva dvora kuka“ (Ein Kuckuck singt auf zwei Feldern) Frauenensemble aus Pernik, Zentral-West-Bulgarien 1976 / „Nevenki pletenki“Frauen-Ensemble aus Resilovo, Zentral-West-Bulgarien / Bulgarie / Traditions vocales / OCORA Radio France C 600009
8) Man schätzt das Zusammenfügen, Ineinandergreifen verschiedener bewegter Muster (s.a. 5: Zimbabwe, Bali) und – aus dem Variieren der Muster resultierend – das Erscheinen von inhärenten Melodien und Ruf-Motiven (u.a. Kamerun, Tansania).
Perkussionsgewebe, Balafon-Zyklen und Bläser-Ensembles
9) Man bezieht sich – kommunizierend – auf die Stimmen der Natur (Sibirien, Tuva); man komponiert ”am Wasser sitzend” (Kaluli in Papua-Niugini), man verwendet das Tonmaterial der Vögel, die laut Mythologie unsere Ahnen sind; man lässt Melodien so übereinanderlappen wie die Schichten des Urwaldes, ”lift-up-over-sounding” (Steven Feld). Texte als ”Landkarten”, symbolische Verankerung.
10) Das zu Hörende wird in schriftliche Form gegossen, damit es in den wichtigsten Details unverändert ins akustische Leben zurückgerufen werden kann. Die Schrift gewinnt einen eigenen Status. Auch die Wechselwirkung zwischen Schrift und klingender Interpretation wird problematisiert.
Objektivierung des Unfassbaren. Effektivere schriftliche Organisation der schwer greifbaren Mehrstimmigkeit. Ausbildung eines symbolischen Vokabulars.
Musikalische Kunstwerke werden plastischen und architektonischen vergleichbar. Der Gedanke akustischer Bautätigkeit ist naheliegend, man erschafft Hör-Architektur. (Dufay „Nuper rosarum flores“, 1436, Dom von Florenz)
Andererseits wird der prozessuale Charakter hervorgekehrt.
Eigenart der Schrift: den linearen Verlauf hervorzukehren (wie ein geschriebenes Epos oder Drama); auch: Komplexeres zu schreiben, als man simultan denken kann. Latente Forderung der Notenschrift: Innerlich zu hören, was da geschrieben steht.
Loslösung der Musik vom realen Klang wird denkbar.
”Opus perfectum et absolutum”.
Die Vergleichbarkeit der Werke, ihre Analysierbarkeit, beschleunigt die Veränderung (jedes neue Werk überbietet ein vorheriges).
11) Kritische Hör-Methode der Moderne (Negationen):
Es entsteht Überdruss, man versucht das Gegenteil (nach den ”sinfonischen Riesenschlangen” zurück zum Concerto grosso! Vom Bühnenweihfestspiel zur Kammeroper! ) C-dur-Dreiklang = Banalität der gängigen Münze (in Alban Bergs „Wozzeck“).
Es gibt Strategien, wie die gewohnte Methodik des Ohres zu unterwandern ist: man verweigert Konsonanzen und erklärt sie für banal. Dass der Weltlauf sie nicht mehr erlaubt, kann man nicht gelten lassen: Der 30jährige Krieg hat aus Schütz durchaus keinen Gesualdo gemacht.
Für den immer noch fortdauernden Genuss der Konsonanzen in älterer Musik oder auch des verminderten Septakkordes musste man Theorien vom historischen Stand des Materials erfinden, dem sich der historische Sinn anpasst.
(Fortsetzung folgt an anderer Stelle)