Eine Rückblende von Jan Reichow
Blechmusik klang in meiner Kindheit vom Friedhof in Bethel herüber: der Posaunenchor spielte Bach-Choräle, die Essenz der westlichen Kirchenmusik, Musik der Trauer und des Trostes, letzte Botschaften. Später wurden mir die Trompeten und die Hörner des Weihnachtsoratoriums zum Inbegriff der Freude. Aber wenn mich jemand fragte, wie ich als klassisch ausgebildeter Geiger eigentlich zu den Blasorchestern des Balkan fand, müsste ich eine lange Geschichte erzählen, könnte aber auch mit der Gegenfrage kontern: Kennen Sie denn „Ciocârlia “ noch nicht? Und ihm eine bunte CD in die Hand drücken.
Wahrscheinlich käme dann allerdings doch noch meine Geschichte: wie jeder Geiger, der an eine virtuose Zukunft glaubt, hatte ich mich früh auf Sarasates „Zigeunerweisen“ gestürzt, hielt sie für ein glänzendes Phantasieprodukt, nicht ahnend, dass der Komponist das Notenbuch eines ungarischen Roma-Komponisten ausgeschlachtet hatte. Und einige Jahre später hatte ich fürs Examen u.a. „Tzigane“ von Ravel vorbereitet, ein Konzertstück, das in meiner Einschätzung wiederum den Sarasate auf eine neue Ebene hob, nach Ansicht des vorsitzenden Geigen-Gurus Max Rostal aber nichts als Blendwerk war, ein Verrat an der wahren Zigeunermusik, die nämlich improvisiert sei. Rostal war ein Schüler des großen Violinpädagogen Carl Flesch, der berichtete, Sarasate habe einmal bei der rumänischen Königin Gelegenheit bekommen, die beste Zigeunerkapelle des Landes zu hören, was er mit den Worten quittierte: „Mais, c’est mauvais ça!“ Allmählich wuchs die Empfindlichkeit, es gab jedoch auch ganz andere Maßstäbe als die des bürgerlichen Konzertsaals. Wer hat „Hora staccato“ komponiert? Oder improvisiert? Grigoraș Dinicu war es, der aus einer hochmusikalischen Roma-Familie stammte, am Konservatorium in Bukarest Geige studierte und zwar – bei Carl Flesch, dessen Professorenlaufbahn hier begonnen hatte. Dinicu bekam ein Stipendium für die Wiener Musikuniversität, durfte es aber nicht wahrnehmen, so hieß es, weil er ein Roma sei. Jascha Heifetz erklärte ihn später für den besten Geiger, den er kannte, und sorgte für die vielgespielte Bearbeitung des „Hora Staccato“.
Die andere weltweit berühmte Komposition „Ciocarlia“ (Die Lerche), mit deren „Vogelstimmen“-Imitation heute jeder Salongeiger zu brillieren versucht, stammt von Dinicus Großvater Angheluș, der sie allerdings für die rumänische Panflöte schrieb. Genauso habe ich das Stück 1972 erlebt: mit dem rumänischen Virtuosen Gheorghe Zamfir, am Anfang seiner Karriere Gast des WDR, unter einem steinernen Rundbogen im Römisch-Germanischen Museum Köln. War dies der Beginn meiner Liebe zur rumänischen Volksmusik? Sieben Jahre später reiste der inzwischen festangestellte Redakteur für den WDR in die entlegensten transylvanischen Dörfer bis hinauf nach Cornereva (dorthin allein wegen des legendären Dudelsackspielers Nicolae Nemes-Munteanu), hinüber nach Ost-Serbien, wo ihn die Geiger des Dorfes Jabukovac und im Nachbardorf ein Blech-Orchester elektrisierten. Als er dieses wenig später – wie auch die Geiger – nach Köln einladen wollte, hatten sie alle umgesattelt: vom Blech auf E-Gitarren. Die Faszination ließ ihn nicht los: 1984 besuchte er das Trompeten-Festival im serbischen Guča, unvergesslich, wenig später wurde das dort preisgekrönte Ensemble Bakija Bakić aus Vranje beim WDR-Folkfestival am Kölner Dom bejubelt. 10 Jahre später entfachte das Taraf de Haydouks aufs Neue die große Rumänien-Begeisterung, ach, den Purismus à la Bartók – bei aller Verehrung – habe ich nie teilen mögen, und wenn ich meine liebsten Musikstücke nennen sollte, dann wäre darunter ein bestimmtes Liebeslied von Romica Puceanu, aber auch, um wieder froh zu werden, ein paar „Reißer“ der Fanfare Ciocarlia, das eine zum Sterben schön, die anderen – wo auch immer – zur Wiederauferstehung. Vielleicht im Dorf Zece Prăjini? Oder – warum nicht – da oben auf dem Mars? Wenn nur auch die Fanfara sich dort einfindet, um mir ein paar der „Devil’s Tales“ vorzutragen.
Der Horizont hatte sich nicht erst 1997 nach allen Seiten geöffnet, aber das WDR Folkfestival, das damals seit über 20 Jahren existierte, hieß nun Weltmusikfestival, und wenn die finanzielle Frage immer wieder aufgerollt wird: es gab ja ein Gesamtbudget, inbegriffen vielleicht eine Stargage, aber die entscheidenden Entdeckungen lagen auf anderer Ebene und – in den besonderen Interessen der Redaktion. Ich erinnere nur an den bis dahin völlig unbekannten Zulu-Chor „Ladysmith Black Mambazo“, der aus Südafrika geholt werden musste. Es gibt übrigens nur eine einzige Begegnung, die ich missen möchte, die mit dem eiskalten Management eines sehr prominenten sozialistischen Sängers aus Griechenland. Was ich nie vergessen werde, ist ein Blick aus meinem Bürofenster auf den Kölner Domplatz, wo schon der Probenaufbau begonnen hatte: da schien sich eine etwas verstreute Besuchergruppe zu nähern, gleich lauter Spionen undercover, Herren mit Hut und dunklem Anzug, auf dem Weg zur Bühne, und plötzlich sah ich, dass sie Instrumente hielten, Klarinettentöne waren zu hören, und Sekunden später ein wildbewegter Ensembleklang, der mich vom Bürosessel hob: unglaublich, die Fanfara Ciocarlia war tatsächlich eingetroffen! Und übertraf alle Erwartungen! Es ist nicht selbstverständlich, dass das, was im Dorf aufregend klingt, auch im Herzen der Großstadt funktioniert. Die Begeisterung war groß.
Und nach 20 Jahren immer noch, und wenn heute jemand sagt, das ist aber keine echte Zigeunermusik mehr, die haben doch einen Komponisten: so benennt man letztlich die Weltoffenheit ihres Dorfes, das nur seinen Namen einer engen Grenzziehung verdankt: Zece Prăjini, d.h. Zehn Felder, – die ihnen einst ein rumänischer Fürst zugestand, als die Einwohner noch Leibeigene waren.
Der Komponist Koby Israelite hat sich dem „Blues from elsewhere“ verschrieben, man spricht auch gern vom „Balkan Blues“, um Außenstehenden die besondere Stimmung der „Zigeunermusik“ anzudeuten; von Komponisten wie Grigoraș Dinicu war schon die Rede. Jede gute Musik wurde ja von einem begabten Menschen erfunden, auch wenn er anonym bleibt und seine Stücke sich im Gebrauch verwandeln. Die Interpreten selbst sagen:
„Die Bauern, auf deren Festen wir gespielt haben, waren keine Zigeuner. Wir haben gespielt, was diese Leute hören wollten, ihre traditionelle Musik, Sirba und Hora, aber auch Manele, Stücke mit orientalischem Einschlag. Wir übernehmen diese Melodien, geben ihnen aber dann unsere ganz spezielle zigeunerische Note, d.h. mehr Wärme, mehr Farbe, mehr Glanz. Wir improvisieren, ändern den Rhythmus…“
So erzählte es Ion Ivancea, der 2006 verstorbene Chef des Ensembles, der Journalistin Regina Lessner, und der Tubaspieler fügte hinzu, mit ihrer Geschwindigkeit könne es ohnehin keiner aufnehmen, und Tubaspieler wie er, Monel, hätten sich am Ende eines Hochzeitsfestes, – 20 Stunden Blasmusik kämen da immer zustande -, hätten sich manchmal gefühlt, als ob sie von morgens um acht bis zum Morgen des nächsten Tages Luftmatratzen aufgeblasen hätten. Aber ich bin sicher: auch dann klang es immer noch hinreißend wie am frühen Morgen des ersten Tages. Und heute noch wie damals, auf dem Platz am Kölner Dom!
Ausblick März 2016
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Neu (26.02.2016)