Zur Orientierung
Es erscheint weltfremd, wenn man zugunsten eines einigen Europas auf die gemeinsame Kultur in ihrer Vielfalt pocht, und wenn ich erzähle, was ich tue, wenn ich mich unserer Geschichte erinnern will, klingt das gewiss sinnlos elitär. Ich tue es trotzdem: ich greife nämlich nach einem opulenten Bildband, der da heißt RENAISSANCE. Ich besitze ihn seit Mitte der 80er Jahre. (Genauer: Die italienische Renaissance / in Bildern erzählt von Erich Lessing. Weiteres s.u.)
Wie gern höre ich zu, wenn mir nun, wie dieser Tage, ein Italiener von Europa erzählt:
(…) Ich glaube, die nackte und hässliche Wahrheit lautet: Das Projekt für den europäischen Kontinent ist zu einer Zeit entstanden, in der allgemeiner Wohlstand und überwiegend sozialer Frieden herrschten. Jetzt haben sich die Dinge verändert, zum einen durch die Krise eines Entwicklungsmodells, das die Wirtschaft den Finanzmärkten unterworfen hat und das die Mittelschicht schrumpfen lässt, zum anderen durch den Terror islamistischer Gruppen, die in den Peripherien Europas beinahe mehr Anhänger finden als in der arabischen Welt. Und nun offenbart sich erneut die Gemeinheit des menschlichen Herzens. Wir Schönwettereuropäer igeln uns in unseren mittelmäßigen nationalen Egoismen ein, unfähig, nicht nur mit anderen Kulturen, sondern auch und vor allem mit uns selbst, unseren Wurzeln, unserer Identität, ein Gespräch zu führen.
Die gute Nachricht: Nicht die Masse schreibt Geschichte. An der italienischen resistenza nahm anfangs nur eine Handvoll Menschen teil, nicht anders war es mit den Nazigegnern in Deutschland. Es sind Eliten, die Geschichte schreiben. Allerdings müssen diese Eliten, so sie ihren Namen verdienen, mehr als nur den passenden Slogan finden, um sich Rückhalt in der Bevölkerung zu sichern – sie sollten vorher auch Shakespeare und Goethe gelesen haben, vielleicht noch Ovid und ein bisschen Aristoteles und Freud, sie sollten Michelangelo, Masaccio, Gauguin, Francis Bacon und Goya kennen. Sie sollten das Bauhaus schätzen und den Barock, Gaudì und Alvar Aalto, Fellini und Jean Renoir, Ingmar Bergmann, Leopardi, Thomas Mann, Virginia Woolf, Doris Lessing, Milan Kundera und Wislawa Szymborska. Mit anderen Worten: Sie sollten sich selber kennen.
Dies scheint mir der entscheidende Punkt zu sein. Europa tut sich schwer damit, eine echte politische und wirtschaftliche Gemeinschaft zu werden, weil seiner führenden Klasse nicht bewusst ist, dass Europa das Produkt einer jahrhundertealten Zivilisation ist, in der die Kultur immer wichtiger war als es die Kriterien von Maastricht, die Börsen in Mailand und Frankfurt oder auch die EZB je sein können. Ich sage das ohne jede Polemik: Es sind nicht die abstrakten und farbigen Prägungen auf hässlichen Euro-Scheinen, die unsere gemeinsamen Wurzeln ausmachen, sondern jene Künstler, die, ohne es zu wissen, unsere Identität erst erschaffen haben. (…)
Quelle Süddeutsche Zeitung 9. Februar 2016 Seite 2 Lest Shakespeare und Goethe Das Unbehagen der Italiener an Europa und was daraus zu lernen ist / Von Mario Fortunato (Aus dem Italienischen von Jan Koneffke)
Und wenn man nun ernstlich von den Kosten reden würde? Jahrelang habe ich nicht hinterm Berge gehalten, wieviel ich von Philosophen wie Rüdiger Safranski gelernt habe, und nun lese ich mit großer Befriedigung eine Polemik gegen seine neuesten Auslassungen, und zwar in der neuen ZEIT. Herfried Münkler:
Es ist nicht auszuschließen, dass die EU unter dem Druck der Flüchtlingskrise zerbrechen wird, aber es ist ein Essential der deutschen Politik, dass dies erst eintrifft, nachdem man in Berlin alles versucht hat, das zu verhindern. Die Regierungen, die den deutschen Beitrag zur Rettung des Europaprojekts jetzt diskreditieren, verfolgen dabei nationale Interessen: Sie wollen hernach unschuldig dastehen. Einige deutsch Intellektuelle spielen ihnen dabei unbedacht in die Hände.
Deutschland hat wirtschaftlich von der Schaffung eines gemeinsamen Marktes in Europa ungemein profitiert, und es war und ist der Hauptnutznießer der Einigung des Kontinents. Erste Schätzungen besagen, dass die unmittelbaren Kosten nationaler Grenzregime für jedes größere EU-Land 10 Milliarden Euro pro Jahr betragen dürften. Das ist ein geringer Betrag mit den zu erwartenden Wohlstandseinbußen, die mittelfristig aus dem dann unvermeidlichen Wiederaufleben eines wirtschaftlichen Protektionismus erwachsen würden. Die Gesamtkosten, die jetzt für die Unterbringung, Versorgung und Ertüchtigung der ins Land gekommenen Migranten anfallen, dürften ein Bruchteil dessen sein, was der Zusammenbruch des europäischen Marktes kostet – zumal dann, wenn in den europäischen Polemiken Deutschland als „der Schuldige“ dafür dargestellt wird. Daran wird kein Essay von Sloterdijk etwas ändern.
Vor allem muss man sich vor Augen halten, welche Folgen ein Rückstau der Flüchtlinge auf der Balkanroute haben würde beziehungsweise im Herbst 2015 gehabt hätte. (…)
Quelle DIE ZEIT 11. Februar 2016 Seite 7 Wie ahnungslos kluge Leute doch sein können Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk kritisieren die Regierung und verlangen eine rigide Grenzsicherung – das zeigt, wie unbedarft die beiden sind. Von Herfried Münkler
Ich habe mit Bedacht nur den Abschnitt über die Kosten zitiert, gewissermaßen als Gegengewicht zur Hervorhebung der Kultur im vorhergehenden Zitat. Ich empfehle dringend die Lektüre des ganzen Artikels, der vermutlich in den nächsten Tagen online zu lesen sein wird. Der SZ-Artikel ist jetzt bereits vollständig im Internet zu finden. Zur weiteren Diskussion siehe auch im Deutschlandfunk hier. (JR)
Erich Lessing siehe hier / ISBN 3-570-02388-5 München 1983 / Das Internet sagt, dass dieser Band später vom Orbis-Verlag übernommen wurde, der aber inzwischen aufgelöst ist.
Die Überschrift dieses Artikels bezieht sich auf Buch-Titel von Jürgen Habermas (1) und Hans Magnus Enzensberger (2). Dort anspielend auf Thomas Manns Aufsatz „Achtung Europa“ (1935).
(1) Jürgen Habermas entwickelt in einer Rede, die er aus Anlass einer Diskussion mit Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hielt, politische Alternativen für den Kontinent. Er plädiert für eine Politik der abgestuften Integration und für eine „bipolare Gemeinsamkeit“ des „alten Europa“ mit den USA.
(2) Die Einheit des Kontinents, so wie sie in der Logik der Konzerne, der Parteien, der Bürokratien verstanden wird, nämlich als Projekt der Homogenisierung, erweist sich als Chimäre. Europa ist als „Block“ undenkbar. Es ist kein Zufall, daß sich der Autor seinem Thema von der Peripherie her nähert. Die drei „Großen“, Frankreich, die Bundesrepublik und das Vereinigte Königreich, bleiben in seinem Buch ausgespart.
Das Titelbild des Bildbandes (ganz oben) stammt von Piero di Cosimo und zeigt Simonetta Vespucci, die man möglicherweise auch im Mittelpunkt des Gemäldes „Der Frühling“ von Sandro Botticelli wiederfindet. Wer weiß, ob es – global betrachtet – zu gewagt ist? Es könnte für europäische Werte stehen, die zuweilen – wie man kürzlich in Italien erlebt hat – für fremde Besucher verhüllt werden. Ach, Europa!