Archiv für den Monat: Oktober 2015

Was ist Dichtung?

Bemerkungen über Fiktion und Non-Fiction

Roberto Saviano und Iris Radisch in der neuen ZEIT, mit Blick auf den eben verliehenen Nobelpreis. Zunächst R.S. auf die Frage, ob er sich als Schriftsteller oder als Journalist beschreiben würde:

Als Schriftsteller, ohne jeden Zweifel. Und als Schriftsteller, der Non-Fiction schreibt, bin ich sehr stolz darauf, dass Swetlana Alexijewitsch soeben den Nobelpreis für Literatur gewonnen hat. Sie wurde mit Non-Fiction in den Olymp der Literatur aufgenommen. Sie hat endlich die literarischen Weihen bekommen, die ihr bisher von der positivistischen angelsächsischen Kritik , die die Welt der Kultur dominiert, verwehrt wurde.

Iris Radisch in einer Kolumne, die dem Gespräch mit Saviano offensichtlich zugeordnet ist:

Das bloße Arrangement von Dokumenten und O-Tönen, die Zusammenstellung von Gesprächsprotokollen (….) oder Briefen (wie das Echolot-Projekt von Walter Kempowski) führt zweifellos zu hochbedeutsamen Zeugnissen der Sozial- und Zeitgeschichte. Genau darin liegt auch das unbestreitbare Verdienst der Gesprächbücher von Swetlana Alexejewitsch, in denen die Stimmen namenloser Zeugen und die Nacherzählung Hunderter Lebensschicksale aufbewahrt sind. Doch literarische Meisterwerke sollte man solche Materialcollagen oder Reportagen nicht nennen. Es sei denn, man legt es darauf an, die Hierarchien zwischen den Textgattungen zu verwerfen und sämtliche Kriterien für große Literatur fahren zu lassen.

Quelle DIE ZEIT 15. Oktober 2015 (Seite 51f)

„Ich habe es oft bereut“ Ein Gespräch mit Roberto Saviano über die Frage, ob sich der Kampf gegen die Mafia gelohnt habe, die Fernsehserie zu seinem Buch „Gomorrha“ und über seine besondere Arbeitsweise. (Interview: Ulrich Ladurner)

Plötzlich ist jeder ein Kunstwerk Was ist falsch an der Vergabe des diesjährigen Literaturnobelpreises. Von Iris Radisch

(Mit Absicht frage ich nach Dichtung, nicht nach Literatur. Was ist mit Thomas Mann, z.B. Doktor Faustus, Zwist mit Schönberg. Siehe Käthe Hamburger. Oder Victor Klemperers Tagebücher.)

13. Oktober

1913 Geburtstag meiner Mutter

Gertrud jung Gertrud R älter

2015 

vormittags Quartettprobe: Schumann op. 41,2 (1842 – „kammermusikalisches Jahr“) mit den +74ern Odenthal, Reichow, Naumann, Blees

Schumann zw Geige

abends Afghanistan 1974 (vor 41 Jahren) WDR 3 23.05 – 24.00 Uhr Soundworld

Screenshot Afghanistan Sendung

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Nachtrag

Eine Kleinigkeit, die mir heute morgen auffiel, will ich vormerken: es gibt bei Schumann verschiedene (kurze) Stellen, in denen erste und zweite Geige im Einklang spielen, d.h. nicht in Oktaven, sondern absolut unisono. Dass habe ich noch bei keinem anderen (früheren) Komponisten bemerkt. Natürlich: Klangverstärkung. Aber zunächst klingt es auch nach Verlegenheit.

Noch zur Wissenschaft: da werden nur formale Eigenarten angemerkt, nicht herausragende Schönheiten,wie im langsamen Satz. Darin auch das merkwürdige „Gewürm“ , das nach dem – von Schumann so genannten – „Tiefkombinatorischen“ bei Bach klingt…

Nächste Termine

Jerusalem
Neue Aula der Universität, Heidelberg, Freitag, 16.10.2015, 19.15 Uhr
Jerusalem – Stätte zweier Frieden
Konzerteinführung mit Dr. Jan Reichow
20.00 Uhr
Jerusalem – Stätte zweier Frieden
Olivier Messiaen: Couleurs de la cité celeste
José M. Sánchez-Verdú: Libro de Leonor
Thomas Tallis, Tomás Luis de Victoria | Lamentationes
Dániel Péter Biró, Sidney Corbett, Ehsan Ebrahimi | neue Auftragswerke (UA)SCHOLA HEIDELBERG | ensemble aisthesis 
Klavier | J. Marc Reichow
Leitung | Walter Nußbaum
Ebenso am 17.10. im Technoseum Mannheim und am 18.10. im Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen (hier 17.15 und 18.00 Uhr)
Siehe KlangForum Heidelberg HIER

Schumanns Streichquartett unter der Lupe

Was sagt der Wissenschaftler?

Hier seine Worte:

Kennzeichnend für die Kopfsätze von Schumanns Quartetten ist bei umrißhafter Beibehaltung der Sonatenhauptsatzform die Bildung relativ fest gefügter formaler “Sektionen”, deren erste in allen drei Werken der im Sinne einer “dreiteiligen Liedform” angelegte Hauptthemenkomplex in der Exposition darstellt.

Im Fall des Quartetts op. 41,2 handelt es sich also um die „Sektion“, die im ersten Satz – wie in Sonaten und Sinfonien – üblicherweise Exposition genannt wird: der Hauptthemenkomplex, der hier im Sinne einer dreiteiligen Liedform behandelt sein soll. Folgende Aufteilung müsste damit gemeint sein:

A 0:00 bis 0:35 0:35 bis 1:09 1:09 bis 1:30 + Überleitungstakte 1:39 / Wiederholung bis 3:07

Thematisches Material wird ausgebreitet, B es wird fortgeführt, imitierend und modulierend behandelt, erweitert. C  Neue Tonart, Motive aus A und B, Abgesang und Rück- bzw. Weiterleitung nach 3:07. Ab 3:16 Beginn der Durchführung. Was hat es damit auf sich?

Gegenüber der Exposition stellt die Durchführung nichts grundsätzlich Neues dar, ist sie doch nicht mehr – wie in der Klassik – der Ort der größten Konzentration motivischer Verarbeitungsprozesse. Vielmehr tritt hier das Mittel der sequenzierenden Bewegung durch Weitung des durchmessenen tonalen Raumes in den Vordergrund, bei prinzipieller Beibehaltung der Gliederung in geschlossene Abschnitte.

Die Durchführung beginnt (siehe oben) bei 3:07, die Reprise dessen, was die Exposition präsentiert hat, folgt ab 4:31. Der Wissenschaftler sagt dazu:

Die Reprise gestaltet Schumann […] auffallend schematisch, er traut mithin der „poetischen Kraft“ der Thematik zu, die Spannung über die Wiederholung hinweg aufrechtzuerhalten (ganz ähnlich wie in den zahlreichen Wiederholungen der erweiterten dreiteiligen Formen z.B. in den Novelletten).

In der Tat, es ändert sich wenig, abgesehen davon, dass hier der Teil C in die Haupttonart zurückgeführt wird und bei 5:50 endet, oder – auch nicht: er dehnt sich in eine Coda, um dann – vor 6:12 – um so abrupter „Schluss zu machen“.

Quelle Arnfried Edler: Robert Schumann und seine Zeit / Laaber-Verlag 1982  (Seite 166 f)

Der nächste Schritt wäre, die Binnenstrukturen zu untersuchen, und ich möchte auch hier den Anregungen Arnfried Edlers folgen, indem ich die im vorigen Beitrag schon zitierten Sätze zur Exposition wiederhole und weiterzitiere:

Die Unangemessenheit dieses Terminus der Formenlehre [Exposition] tritt gegenüber der Thematik jedoch in eklatanter Weise zutage, welche nämlich dem auf leichte Auffaßbarkeit gerichteten Korrespondenzprinzip des Liedes in vielfacher Hinsicht zuwiderläuft: Komplexionen des Rhythmus, insbesondere die für Schumann charakteristischen Synkopierungen durch Überbindungen über die Taktgrenzen hinweg sowie Schwerpunktverschiebungen, Aushöhlung des spannungsvollen Gleichgewichts von Vordersatz und Nachsatz entweder durch reine Wiederholung oder durch deren Gegenteil, die völlige Asymmetrie der korrelierenden Teile, stellen Elemente dar, die aus Schumanns zuletzt entstandenen reifen Klavierwerken stammen und nun auf den Quartettstil transformiert angewendet wurden, dessen Satztechnik sich Schumann durch intensive Haydn- und Mozart-Studien angeeignet hatte. Darüber hinaus tritt gerade in der Kammermusik die Sequenzstruktur der Schumannschen Melodik besonders unverdeckt hervor. Durch solche Verfestigung einzelner Sektionen des Satzes zu geschlossenen Formgebilden unterscheidet sich Schumanns Formdenken grundlegend von demjenigen, das Beethovens späten Quartetten zugrundeliegt. Doch geht ein entscheidendes Moment darin ein: das Prinzip der fortwährenden Um- und Weiterbildung der Motive, das sich bei Schumann ebenso innerhalb der Sektionen abspielt, wie es auch die gegeneinander abgeschlossenen formalen Episoden des Sonatensatzes untereinander assoziativ verknüpft: der tendenziell grenzenlose Beziehungsreichtum, von Beethoven als Ausgleich zur Verlagerung des Kontrastprinzips auf die unterste  strukturelle Ebene in seinen Spätstil eingeführt, wird von Schumann, im assoziativ „erzählerischen“ Sinne umgedeutet, aufgenommen und als entscheidendes Gegengewicht zu den auseinanderstrebenden Tendenzen der episodenhaften Formsektionen verwendet. Diese einzelnen Sektionen entsprechen „poetischen Situationen“, und ihre Verbindung, ähnlich der Verfahrensweise in der Klaviermusik, auf die Weise der kontrastierenden Nebeneinanderstellung, ohne jede Vermittlungs- und Überleitungspartien, die etwa bei Mendelssohns Quartetten op. 44 eine bedeutsame Rolle spielen.

Ich schreibe dies ab, weil es sinnvoll ist, wenngleich aufgrund der gedrängten Stilistik nicht auf Anhieb einleuchtend, „den Sinn freigebend“. Ich vertiefe mich in jeden Satz, weil er etwas Bedenkenswertes meint, nicht Jargon präsentiert. Aber ich hege auch den Wunsch, es für andere Leser zu erschließen, die nicht gewohnt sind, in Musik mehr als eine Reihe schöner Momente wahrzunehmen. Und verzichte auf die (naheliegende) Verwendung von Notenbeispielen, um stattdessen zu ermöglichen, sekundengenau Hörbeispiele aufzurufen, – etwa anknüpfend an die rot gekennzeichneten Stichworte. (Es wäre gut, die youtube-Musik des vorigen Beitrags in einem zweiten Fenster parat zu halten.)

Synkopierungen: im Grunde nur eine Überbindung der 1. Geige über die Taktgrenze, wodurch die Zählzeit 1 verschleiert wird: das Thema steigt in 2 Tönen auf und landet mit einem kleinen Schlenker in der höheren Oktave, und genau nach diesem Ton folgt der übergebundene Ton: man kann sich nicht sicher sein, in welcher Taktart man sich befindet, ob 3/4 oder 6/4, und wenn wir nach einem erneuten 2-Ton-Aufstieg bei 0:12 auf dem akzentuierten hohen Ton  landen, spüren wir kaum, dass wir soeben die erste reguläre 8-Takt-Periode hinter uns haben. Und hier folgt nun die erwähnte Sequenzstruktur: in drei Wellen wird die absteigende Figur der 1. Violine, die jeweils mit Akzent beginnt, einfach höher gesetzt (als „Sequenz“), beim dritten Mal pausieren die anderen Streicher für einen Takt und assistieren erst wieder, wenn es weitergeht, – übrigens wieder mit einer Überbindung, die zu einem neuen Zielton tendiert: genau dort übernimmt die 2. Geige die Initiative, bei 0:20, und sie versucht es mit bloßer Wiederholung statt Sequenzierung, bis 0:28, und daraus kann wiederum die 1. Geige etwas machen: sie akzentuiert nun taktweise, in die höhere Region aufsteigend, und wiederum halten die andern – quasi erstaunt – einen Moment still: bei 0:31. Und nun achten Sie bitte auf die 2. Geige! Leider wird sie sofort von der 1. überboten, aber immerhin: alles thematisch, – das nennt man imitatorische Arbeit. In der Verfestigung einzelner Sektionen erkennen wir zugleich das Prinzip der fortwährenden Um- und Weiterbildung der Motive.

Noch ungeklärt blieb hier, was unter Vordersatz und Nachsatz zu verstehen ist. Der irreführende Doppelgebrauch des Wortes „SATZ“ (eben auch für die 4 Sätze des ganzen Werks) sollte hingenommen werden; wer es genauer wissen will, schaue hier. Der Nachsatz ist gewissermaßen eine Antwort auf den Vordersatz, meist in gleicher Länge. (Insofern unterscheidet er sich vom täglichen Gespräch, wo das Widerwort oft viel länger als die Vorgabe dauert…) 

(Fortsetzung folgt, z.B. hier)

Schumanns Streichquartett op.41 Nr.2

Für die Probe am 13. Oktober: Kennenlernen, wiederholtes Hören, Statements sammeln

Zum Variationensatz: das Thema ist angelehnt an die Idee des Albumblatts op. 124,13:

Schumann Albumblatt 124,13 Ein Screenshot aus „Petrucci“

Zur späten Opuszahl 124 Nr.13 (die Neufassung mit Variationen jedoch in Opus 41, Nr.2 ), – die Jahreszahl verrät es: das „Albumblatt“ entstand schon 1832, das Streichquartett 1842. Das neue Thema im 2. Satz des Streichquartetts hier zum Vergleich bei 6:16.

Übrigens: wie kommt es, dass dieser Aufnahme letzte Überzeugungskraft fehlt? Das Ensemble ist engagiert. Ist es also das Klangbild? Die Schärfe? Ich will nicht undankbar sein: alles ist präsent, und meine Sache ist es, zunächst das Werk zu studieren.

(Welche Aufnahmen gibt es zum Vergleich?) https://www.youtube.com/watch?v=Kivt5tNNI1M

Die Wissenschaft (Arnfried Edler) beschäftigt sich mit den Schumann-Quartetten vor allem im Vergleich zum späten Beethoven, mit Hinweis aber auch darauf, dass Schumann sich die Satztechnik des Quartettstils „durch intensive Haydn- und Mozart-Studien angeeignet“ habe. Und weiter:

Kennzeichnend für die Kopfsätze von Schumanns Quartetten ist bei umrißhafter Beibehaltung der Sonatenhauptsatzform die Bildung relativ fest gefügter formaler „Sektionen“, deren erste in allen drei Werken der im Sinne einer „dreiteiligen Liedform“ angelegte Hauptthemenkomplex in der Exposition darstellt. Die Unangemessenheit dieses Terminus der Formenlehre tritt gegenüber der Thematik jedoch in eklatanter Weise zutage, welche nämlich dem auf leichte Auffaßbarkeit gerichteten Korrespondenzprinzip des Liedes in vielfacher Hinsicht zuwiderläuft: Komplexionen des Rhythmus, insbesondere die für Schumann charakteristischen Synkopierungen durch Überbindungen über die Taktgrenzen hinweg sowie Schwerpunktverschiebungen, Aushöhlung des spannungsvollen Gleichgewichts von Vordersatz und Nachsatz entweder durch reine Wiederholung oder durch deren Gegenteil, die völlige Asymmetrie der korrelierenden Teile, stellen Elemente dar, die aus Schumanns zuletzt entstandenen reifen Klavierwerken stammen und nun auf den Quartettstil transformiert angewendet wurden, dessen Satztechnik sich Schumann durch intensive Haydn- und Mozart-Studien angeeignet hatte.

Quelle Arnfried Edler: Robert Schumann und seine Zeit / Laaber-Verlag 1982  (Seite 166)

Damit ist genügend Stoff vorgegeben, den Bau des ersten Satzes – nein, nur der Exposition bis 1:38, dann folgt die Wiederholung – über das bloße Spielen hinaus zu ergründen. Aber auch die kritische Prüfung, ob denn eine „Aushöhlung des spannungsvollen Gleichgewichts“ als positiver Effekt, der aus „reifen Klavierwerken“ stammt, gewertet werden kann. (Oder nur ungeschickt gekennzeichnet ist.) Ich werde die Sache in einem neuen Blog-Beitrag angehen.

***

Und 2 Stunden später kommt die Brahms-CD mit dem Artemis Quartet, sie ist dem Andenken Friedemann Weigles gewidmet. Wie oft habe ich mir in diesen Wochen das youtube-Video angesehen und konnte es nicht fassen. So wenig wie die herzzerreißende Lebendigkeit dieser neuen, vorläufig letzten CD. (Eine Musik, an der wir uns im Frühjahr 2014 abgearbeitet haben.)

Artemis Brahms

(Fortsetzung folgt )

Indien, Musik und Drogen 1969

Indische Sicht 

Neben den Teenagern gab es noch ein andere große Gruppe – bekannt als „Hippies“ – die zu meinen eifrigen Bewunderern wurden. Ich fand es sogar noch schwieriger, sie zu einem Verständnis und einer Wertschätzung unserer Musik aus dem richtigen Blickwinkel zu bringen. Der Grund dafür war, glaube ich, daß viele von ihnen verschiedene Arten halluzinogener Drogen nahmen und unsere Musik als Teil ihrer Drogenerfahrungen benutzten. Obwohl mich anfangs ihre Auffassung von indischer Musik als „psychedelischer“, geistiger und erotischer Erfahrung verletzte, merkte ich später, daß das nicht allein ihre Schuld war. Ich entdeckte, daß einige selbsternannte amerikanische „gurus“ in den letzten Jahren falsche Informationen über Indien verbreitet und gesagt hatten, fast alle bekannten Asketen, Denker und Künstler nähmen Drogen. Diese „gurus“ behaupteten sogar, man könne nicht richtig musizieren, meditieren und nicht einmal  das heilige Wort OM aussprechen, ohne unter dem Einfluß solcher Drogen zu stehen.

(…)

Indien wird nun überlaufen von ungewaschenen, rebellischen jungen Leuten; es ist wirklich traurig, die jungen Amerikanier und Europäer aus guten Familien zu sehen, die versuchen, auf diese Weise in Indien irgendeine Art von Spiritualität und Seelenfrieden zu finden. Sie merken nicht, daß sie nicht der echten indischen Religion, Philosophie und Denkungsart folgen, sondern sich wegen der Verbindungen mit Drogen und, in gewissem Maße, mit Sex, zu einigen der offen pervertierten und degenerierten Denkschulen hingezogen fühlen.

Bei einem meiner letzten Besuche in den Vereinigten Staaten kamen einige junge Männer zu mir, um Sitar zu lernen. Als ich sie zuerst sah, flößte mir ihr Aussehen Mitleid ein – sie waren blaß und anämisch und hatten glänzende, glasige Augen, ihre Hände hingen zitternd vor ihren schmutzigen Körpern, und sie zeigten eine seltsame, unnatürliche Nervosität. Als ich später merkte, daß einige recht begabt waren, wurde ich noch trauriger. Ich erfuhr dann, daß diese Jungen nicht nur gewohnheitsmäßig Marihuana rauchen, sondern auch LSD, Methedrin und Heroin nahmen. Ich versuchte verständnisvoll zu sein, und erklärte ihnen, sie müßten zuerst diese Gewohnheiten ablegen, bevor ich in Betracht ziehen könne, sie zu unterrichten. Doch sie antwortete mir mit den gleichen Worten, die ich inzwischen von Hunderten von anderen gehört habe – sie fühlten sich durch Drogen so viel „bewußter“, wären so viel geistvoller, und alles schiene viel schöner.

Quelle: Ravi Shankar – Meine Musik mein Leben Einleitung von Yehudi Menuhin  Nymphenburger Verlagshandlung München 1969 (Seite 185 f)

Westliche Sicht

Ich habe Ali Akbar Khan zum ersten Mal live spielen hören, als ich im Herbst 1969 als Erstsemester am Reed College in Portland, Oregon, anfing. Ich hatte seine Musik schon viel gehört und manchmal mit der Gitarre dazu gejamt, aber ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt, ein Konzert zu erleben. Als guter Hippiejunge bereitete ich mich mit einer kräftigen Dosis Meskalin vor, meiner damaligen Droge der Wahl. Auf meinem Platz in der ersten Reihe war ich wie hypnotisiert von der Musik. Aber nach dem Konzert ging das Feuerwerk für mich erst richtig los. Die Leute liefen herum, redeten über den nächsten Tag, und ich saß ehrfürchtig da und fragte mich, warum alle aufgestanden waren. Die Musik spielte doch weiter!!! Der Raga, der Tala, alles lief weiter, und ich war der einzige, der das bemerkte. Die Gespräche um mich herum WAREN der Raga und das Trapsen der Füße WAR der Tala. Ich erlebte eine göttliche Darbietung der Musik der Sphären, des Liedes des Lebens! Wir haben natürlich alle transzendentale Drogenerlebnisse, aber wie viele davon dauern länger an als bis zum nächsten Sonnenaufgang? Diese Erfahrung ist jedenfalls immer noch bei mir. Ali Akbar Khan hatte mich auf die Ebene reinen Klanges gebracht, wo die Musik Gott berührt, wo die Musik Gott IST. Und damit hat er mein Leben in neue Bahnen gelenkt.

Quelle: Jais Blog – Ali Akbar Khans göttliche Musik – Notizen von Jai Uttal In: India Instruments  Rundbrief September / Oktober 2015 HIER (unter 5.) s.a. http://jaiuttal.com/

Ich erinnere mich, dass ich Anfang der 60er Jahre auch mit solchen Gedanken spielte, mir auf Biegen und Brechen neue Welten erschließen wollte, Aurobindo las und auch – mit Goethes „Faust“ als Schulerfahrung im Rücken – allen Ernstes magische Breviere anschaffte , die mir irgendwie beweiskräftig erschienen… irgendwie …. das ging vorbei, und als ich echter indischer Musik begegnete, konnte ich sie mit Esoterik nicht mehr verwechseln.

Wolff Indien  Magie Toxikologie  a Magie Toxikologie b

Westliche Werte

Natürlich gibt es in jeder Kultur, in jeder Gesellschaft bedeutende Menschen, kluge Philosophen, große Künstler, menschenfreundliche Lebensbedingungen. Aber was macht die besondere Bedeutung des Westens aus, die man beschreiben kann, ohne sich der Überheblichkeit verdächtig zu machen? Ist es die Idee der Freiheit? Der Zweifel an der Allgemeingültigkeit von Ideen?

Ich hätte über kurz oder lang von der Französischen Revolution gesprochen, über die Aufklärung und über eines meiner Lieblingsthemen: das Prinzip der Gewaltenteilung. Ist sie eigentlich gegen die Freiheit des Einzelnen gerichtet? In der Diskussion z.B.: die Fähigkeit, das Argument des Gegners (zu seiner Zufriedenheit) zu wiederholen, bevor man ihm andere Argumente entgegenstellt. (So schon bei Abälard um 1100 in der Universität zu Paris.) Besteht aber nicht die Freiheit des Einzelnen auch darin, den anderen in Frage zu stellen?

Mein erster Schritt wäre, detaillierter zu begründen, warum es in diesem Sinne gar keinen Einzelnen gibt. Wie isoliert er auch in Einzelfällen dastehen mag, er ist ein politisches Wesen, sein Gedankennetz ist von 1000 anderen Menschen mitgesponnen. So folge ich immer wieder gern dem klaren Gedankengang eines Anderen, mag er Udo Di Fabio heißen oder Heinrich August Winkler. Der letztere gibt z.B. den Gedankengang des ersteren wieder:

Es sei das normative Programm, das der Westen seit einem halben Jahrtausend zu verwirklichen versuche. Er wendet sich damit gegen die weitverbreitete Meinung, dass die moderne Gesellschaft erst durch die Französische Revolution entstanden sei. Auch die Aufklärung des 18. Jahrhunderts ist aus seiner Sicht nur ein „Epiphänomen“ jenes umfassenden Emanzipationsprozesses, der mit dem Renaissance-Humanismus begonnen habe.

(Fortsetzung folgt im Laufe des Tages: nämlich die Entfaltung des Gedankens, dass diese Sicht plausibel abgeleitet werden kann.)

Nun spricht alles dafür, die Aufklärung nicht als ideengeschichtlichen Urknall zu betrachten. Zu ihrer Vorgeschichte gehören aber nicht nur Humanismus und Renaissance, sondern bereits die vom Verfasser nur ganz beiläufig (in einer Anmerkung) erwähnte ansatzweise Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt im Investiturstreit des späten 11. und frühen 12. Jahrhunderts sowie die Trennung von fürstlicher und ständischer Gewalt, wofür die englische Magna Charta von 1215 das große symbolische Datum ist. Ohne diese beiden mittelalterlichen Gewaltenteilungen ist der Weg zur modernen Gewaltenteilung, der Trennung von gesetzgebender, vollziehender und rechtsprechender Gewalt, gar nicht erklärbar – Gewaltenteilungen, die es nur im Bereich der Westkirche, nicht aber im ostkirchlich geprägten Teil Europas gegeben hat.

Dass ein belesener Autor wie Di Fabio darauf mit keinem Wort eingeht, überrascht ebenso wie das Fehlen jeden Hinweises auf eine noch sehr viel ältere Ausdifferenzierung von Gewalten: die strikte Trennung der Sphären von Gott und Kaiser, von göttlichen und irdischen Gesetzen durch Jesus („Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“). Wenn es eine Keimzelle der westlichen Freiheitstradition, der Emanzipation des Menschen und der Säkularisierung der Welt gibt, ist es diese Unterscheidung – eine Unterscheidung, die der Islam so nicht kennt.

Der tiefe Einschnitt, den die ersten Menschenrechtserklärungen – von der Virginia Declaration of Rights vom 12. Juni 1776 bis zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die französische Nationalversammlung vom 26. August 1789 – bedeuten, kommt in Di Fabios historischer Herleitung der westlichen Werte entschieden zu kurz. Es wird bei ihm auch nicht hinreichend klar, dass die Menschenrechte ein transatlantisches Projekt waren und die französische Menschenrechtserklärung in hohem Maße von ihren amerikanischen Vorläufern beeinflusst worden ist.

Die Konzentration auf Europa erweist sich gerade hier als Blickverengung. Es waren die beiden atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts – die amerikanische von 1776 und die französische von 1789 -, die das normative Projekt in Gestalt der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie schufen. An diesem Programm arbeitet sich der Westen mit wechselndem Erfolg noch heute ab: Es ist der Maßstab, an dem sich westliche Demokratien messen lassen müssen und de, sie nur selten gerecht geworden sind.

Quelle DIE ZEIT 1. Oktober 2015 Seite 53 Scheitert Europa an sich selbst? Der Jurist Udo Di Fabio sieht Europa in einer tiefen Sinnkrise. Von Heinrich August Winkler. (Hervorhebung durch rote Schrift: JR).

Haiti Hegel

ZITAT

Der Essay hat aber auch eine Kontroverse ausgelöst. Den akademischen Kritikern des Eurozentrismus hat er gefallen, wenngleich mit Abstrichen. Zwar gab ich den exclusiven Fokus auf das Erbe der westlichen Moderne auf (was Beifall gab), an seine Stelle setzte ich jedoch nicht den Ruf nach einer Berücksichtigung pluraler oder alternativer Modernen, sondern das weit weniger populäre Ziel, die universelle Bedeutung der Moderne wiederzubeleben. Für einige Beobachter kam die Idee, das Projekt der Universalgeschichte aus der Asche der modernen Metaphysik wiederauferstehen lassen zu wollen, einer Komplizenschaft mit dem Imperialismus des Westens oder genauer der Vereinigten Staaten gleich, einer – wie manche glauben – weit abstrakteren und heimtückischeren Spielart der Dominanz.

Susan Buck-Morss: Hegel und Haiti / Für eine neue Universalgeschichte / Suhrkamp 2011 (S.7)

Arabische Zukunft 

Der syrische Dichter Adonis, der in Paris lebt, weist den Vorwurf zurück, er verteidige das Regime Baschar Al-Assads und setzt dagegen:

Ich schlage diesen Leuten, die mich kritisieren, vor, einen Appell für eine neue syrische Gesellschaft zu formulieren. Dieser Appell sollte folgende Prinzipien enthalten: Laizismus, die Trennung von Religion, Politik, Kultur und Gesellschaft, die vollständige Befreiung der Frau von den Geboten der Scharia, die Gründung einer Demokratie, die auf den Menschenrechten beruht und Minderheiten achtet, die Einhaltung der Bürgerrechte, ohne Rücksicht auf ethnische oder religiöse Herkunft, die Unabhängigkeit von ausländischen Mächten und eine Revolution, die nicht gewaltsam ist. Wenn meine Herren Kritiker einen derartigen Appell für eine laizistische Gesellschaft formulieren, unterschreibe ich ihn sofort. (…)

Es geht nicht um Assad, es geht um sein Regime, das auf einen politischen und kulturellen Monotheismus hinausläuft, der nichts als eine Verlängerung des religiösen Monotheismus ist. Und ich bin ein Gegner jeder institutionalisierten Religion.

Quelle DIE ZEIT 8. Oktober 2015 (Seite 50) „Das Volk muss Nein sagen!“ Der Remarque-Friedenspreisträger Adonis wird von syrischen Intellektuellen als Assad-Anhänger geschmäht. Jetzt ergreift der berühmte arabische Dichter selbst das Wort. (Gespräch: Iris Radisch)