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Zweite Natur = Kultur?

Der philosophierende Mensch in seiner Umwelt

Als die Welt immer fragwürdiger zu werden begann, wurde mir immerhin klar, dass es mir nicht gelingen würde, so einfach in der Natur zu leben, wie es mein kindlicher Plan gewesen war. Ganz allein wie sollte das gehen? Trotzdem behielten solche Lebensentwürfe ihre Anziehungskraft. Ich wollte die Wälder Schwedens kennenlernen, wahrscheinlich wegen Nils Holgerssohn (also dank der poetischen Imagination der Schriftstellerin Selma Lagerlöf), dann kam Hamsun („Pan“ , „Segen der Erde“ ), der Komponist Sibelius. Diese Ära endete mit dem Buch „Kunst, Kitsch und Konvention“ von Karlheinz Deschner. Auch Hesse war damit erledigt („Klingsors letzter Sommer“ – auf Langeoog). Eine Art Rausch tatsächlich, jetzt dank Fernsehgedenkfilm leicht revidierbar, – und unerträglich für immer. Damals auch mit der Lektüre von Adolf Portmann verbunden, die ich auf mich persönlich beziehe, eine biologisch anteilnehmende Perspektive: „Nesthocker und Nestflüchter“, wahrscheinlich wollte ich zuerst fliehen und dann hocken. Die Frage (nach dem Krieg, Jahre auf der Lohe): Was ist Natur, was ist meine wahre Heimat, was kann ich definitiv darüber wissen?

Wikipedia HIER  Man beachte, was hier von Aristoteles gesagt wird, der den Begriff der „zweiten Natur“ erfunden hat; ich zitiere es aus der Nikomachischen Ethik, die ich seit 1966 besaß, ohne ihre Bedeutung zu verstehen:

Natürlich würde ich dies nicht als Hauptentwicklungslinie für mich seit Mitte der 50er Jahre gelten lassen; ich habe damals auch ganz andere Sachen gelesen, und „in echt“, würde ich sagen, wenn ich jetzt renommieren wollte. Platon zum Beispiel, Leonardo, sogar Kant hatte ich in Dünndruckausgabe mit auf Langeoog, – nur leider nicht verstanden. Aber an die oben genannte Lektüre denke ich am ehesten, wenn ich mich für die Anthropologie von Daniel Martin Feige motivieren will: da gibt es etwas Verwandtes, das mich nicht erlahmen lässt. Und vor allem: ich sehe die damalige Zeit mit einer gewissen Sympathie, nicht mit Herablassung, als hätte ich es inzwischen so herrlich weit gebracht. Die Evolution (Darwin nach Julian Huxley) spielte eine wesentliche Rolle, und im Zielgebiet winkt – nach wie vor – ein neuer Blick auf die Musik.

Ich überspringe den 1. Teil, den „biologischen“, der mich mit Verwunderung erfüllt, aber nie ganz ratlos gelassen hat. Dass ich dabeibleiben würde, wusste ich erst im zweiten Teil, nach der Überschrift „Zweitnatürlicher Naturalismus“ (siehe Portmann-Erinnerung und Wikipedia-Artikel). Nun geht es zu Kant und Aristoteles, auch da gibt es Vorerfahrungen, auch dank Blumenberg. Und man ist gewappnet, die große Parabel von den Wölfen zu ertragen, ohne zu lachen. Man macht sich kundig betreffend MacDowell (Wikipedia hier), und liest gründlich, was er uns über den „imaginierten rationalen Wolf“ mitteilen will, auch wenn es noch im Dunkeln bleibt, was mit den Wikipediasätzen gemeint sein soll: dass nämlich …

bereits die Wahrnehmung selbst begrifflich strukturiert sei, bzw. mit ihr schon begriffliche Fähigkeiten in Anspruch genommen werden müssten. Das sich hieraus ergebende Problem, dass Tieren und Säuglingen dann offenbar Wahrnehmung abgesprochen werden müsse, versucht McDowell im Anschluss an Überlegungen von Aristoteles und jüngere Denker außerhalb der analytischen Tradition, wie Karl Marx und Hans-Georg Gadamer, zu lösen. Tiere nähmen keine „Welt“, sondern nur eine „Umwelt“ wahr, in der sie lebten und, ohne Abwägung von Gründen, auf sich unmittelbar stellende biologische Probleme reagierten.

Wiki Wölfe

Daniel Martin Feige spricht über Positionen,

die unsere Form des Lebendigseins mit starken inhaltlichen Bestimmungen eines »Guten« des menschlichen Lebens verbinden [….] ohne unser Lebendigsein und unsere Vernünftigkeit angemessen zusammen zu bekommen,

was ich hier etwas gewagt verkürze. Daher das folgende (garantiert ungekürzte) Zitat zu einem vieldiskutierten Gedankenexperiment von John McDowell:

Tugenden als Ausdruck unserer praktischen Vernunft können nicht derart als Aspekt unserer Lebensform verstanden werden, wie das Jagen im Rudel zur Lebensform des Wolfes gehört. Sein Gedankenexperiment besagt, dass wir uns einige Wölfe als rationale Wölfe vorstellen und dann fragen sollen, welche Autorität Lebensformtatsachen im bislang diskutierten Sinn dann noch haben. Ein vernünftiger Wolf, so seine Antwort, handelt nicht länger der Lebensform des Wolfes gemäß, sondern ist Träger einer anderen Lebensform, in der aus Gründen als Gründen gehandelt wird. Der vernünftige Wolf wäre insofern nicht allein ein Denkender, als er Ereignisse und Zustände als Ereignisse und Zustände der Welt erfassen könnte, sondern er wäre auch ein Handelnder, insofern er Ereignisse und Zustände in der Welt aufgrund der Einsicht in das, was zu tun ist, hervorbringt. McDowell weist zu Recht darauf hin, dass wir einem solchen Wesen Freiheit zuschreiben sollten. Und sein Argument lautet: Die Lebensformtatsache, dass Wölfe im Rudel jagen, hat für den vernünftigen Wolf nun keine unumstrittene Autorität mehr, da sie unabhängig davon, dass Wölfe als Wölfe sich so verhalten, für das Handeln des vernünftigen Wolfes normative Kraft für sein Handeln entwickeln müsste. Das aber ist nicht ausgemacht. Nicht allein könnte er ein lasterhafter Wolf werden, der nicht länger jagt und dennoch die Beute, die die anderen Wölfe herbeigeschafft haben, frisst. Dabei ist auch McDowell der Meinung, dass mit einem solchen Wolf etwas nicht stimmen würde. Aber der entscheidende Punkt ist: Dieser Wolf könnte nun Überlegungen anstellen, ob die Gründe für die gemeinsame Jagd tatsächlich gute Gründe sind. Der Unterschied zwischen einem Wolf und dem imaginierten rationalen Wolf besteht diesbezüglich im Folgenden: »Die Form, in der das, was Wölfe benötigen, auf sewin Verhalten einwirkt, beinhaltet keinen Schluss auf das, was er benötigt. Aber sobald wir uns einen vernunftbegabten Wolf vorstellen, der sich fragt, was er tun soll, macht dieser Gedanke tatsächlich einen Unterschied.«

McDowells Überlegung legt nahe, dass wir Vernunft nicht einfach als natürliche Ausstattung des Menschen verstehen können, da sie seine natürlichen Anlagen derart, wie Tiere sie haben, nicht einfach bestehen lässt. Er schlägt dabei anders als die bislang diskutierten Ansätze vor, die Vernunft des Menschen nicht als dessen erste Natur zu begreifen, sondern vielmehr als seine zweite Natur. Das tut er deshalb, weil sein Gesprächspartner nicht allein Aristoteles ist, sondern auch Kant; er entwickelt das Erbe von Aristoteles nicht zuletzt durch das Prisma der kantischen Philosophie fort.

Quelle Daniel Martin Feige: Die Natur des Menschen / Eine dialektische Anthropologie / Suhrkamp Berlin 2022 / Zitat Seite 117 ff

Ich erinnere mich immer wieder an Kant-Begegnungen, z.B. hier oder hier oder hier. Wandere über die Wikipedia-Brücke hierher und finde dort auch dieses handliche Schema der Erkenntnis:

Weit gefehlt, wenn ich nun glaube, bei Feige auf eine besonders fassliche Darstellung zu stoßen. Er sagt es mit seinen Worten, und die klingen nun mal anders:

(Fortsetzung folgt)

Ave Maria „auf dem Hügel“

Die frühen Schlager und ich (Stoffsammlung)

Mein Bruder, – Vater, Mutter, Großeltern, Tante

Tante Ruth (*1913) um 1990 (hatte wie mein Vater Klassik-Klavier studiert, spielte noch mit 92).

Sie sang mir heimlich das Lied „Großmütterchen“, schwer erkennbar aber doch so oft vor, dass ich es auf der Geige zum 80. Geburtstag der Oma (17.8.1951) in Misburg präsentieren konnte (diese summte es leider schon vorher im Garten mit). Auch eine kleine Eigenkomposition von mir war angekündigt, eine anderhalbzeilige Melodie, eine „unvollendete“, die ich beim Vorspiel irgendwie weiterphantasierte und durch Wiederholung aufpeppte, –  Onkel Hans ließ sich zu einem Lob hinreißen, das von meiner Mutter begierig aufgesogen wurde: „Das steckt eben so drin!“ Ach, mein damals nicht abbrechen wollendes Opus sucht mich bisweilen heute noch heim. Ein Lieblingswerk meiner Oma dagegen war und blieb damals „Die diebische Elster“ bzw. deren Ouvertüre, die mein Vater am Klavier vortrug. Keine ernste Musik! Mit diesem Titel! Wir grinsten, wenn es hieß, durch die Belgarder Oma sei die Musikalität in die Reichow-Familie gekommen. Mit der „diebischen Elster“!?

Musikalisches Erbe?

Die Idole meines (tonangebenden) Bruders im Verlauf der Bielefelder 50er Jahre:

Michael Jary René Carol Peter Alexander Wolfgang Sauer Gershwin, Puccini, Schumann, Wagner, Rachmaninow. Die Schlager lehnte ich ab, ohne direkt zu opponieren, die Begeisterung für die Romantik steckte mich an und ergänzte meine Klassik, die von Bach ausging.

Die folgende Schallplatte war eine der wenigen, die bei den Oeynhausener Großeltern um 1950 abgespielt werden konnten (auf einem aufziehbaren Plattenspieler, den unsere Mutter einst bei einem Preisausschreiben gewonnen hatte): wir kannten das Lied auswendig, und ich habe es oft und gern Mitschülern vorgesungen, die tatsächlich gebannt zuhörten: „der Wilddieb, er gibt keine Antwort, er kennt ja die sichere Hand, ein Schuss und gleich drauf ein Aufschrei, und der Förster lag sterbend im Sand.“

Eine spannende Geschichte im leiernden Tonfall – das schien uns attraktiv. Es gab solche Schlager, „Pferdehalfter an der Wand“ u.ä., man fand sie eher etwas lässig (das Western-Wort statt des heutigen „cool“). Später, mit schon wachsender Klassikerfahrung, schätzten wir bestimmte harmonische Höhepunkte. Ab wann wurde unser Hit unter Brüdern – das Lohengrin-Vorspiel? Und wann kam der folgende Schlager, der eigentlich nur mir gehörte, so dachte ich, mit der Klimax einer starken, ehrlichen phrygischen Kadenz, B-dur, A-dur, nebeneinandersetzt, schamlose Quintparallelen. Auch eine Combo in der Givtbude auf Langeoog spielte ihn jeden Abend zum Abschluss (um 23 Uhr). Wir warteten sehnsüchtig auf den Refrain, die Musiker reagierten leicht genervt. War es 1958? Ich wanderte zu einem Café am Langeooger Dorfrand, wo es einen „Plattenautomaten“ gab, und ließ das Lied alle Viertelstunde ablaufen, während ich Dostojewski „Der Idiot“ las. Einsamkeiserfahrung.

Ich hatte keine Ahnung, wo das Lied herkam, ob spanischen oder portugiesischen Ursprungs. Aus dem Süden jedenfalls, der Zauber des Mittelmeers war greifbar.

Givtbude „no morro“ auf der Düne, Langeoog, 200 m vom Landschulheim Gymnasium Bielefeld (1958?) JR Fensterplatz

Und wo kam das Lied wirklich her?

60er Jahre. Die japanische Freundin verriet mir, leicht widerwillig, was sie vom Text verstand: der Sänger schaue in den Himmel, damit man seine Tränen nicht über die Wangen laufen sehe. Das fand ich anrührend oder sogar für uns passend. Ich kannte das Lied nur aus dem Radio und hatte keine Ahnung, wie seltsam geziert sich der Interpret gebärdete. Natürlich studierten wir beide damals sehr „ernsthaft“ Geige. Sarasate stand schon an der Grenze… Marschner, dessen Schönberg-Platte mir imponierte, weckte (neckte) mich mit der „Havanaise“. Es gibt also eine spezifische Unterhaltungsqualität? Unnachahmbar einfach?

Wikipedia „Sukiyaki“ 1961 bzw.1963 hier / Ist dies ein Zugang zu den verkannten Alten Zeiten?

Was also ist überhaupt Unterhaltungsmusik? ZITAT:

Bei der Unterhaltungsmusik, deren Schwerpunkt (…) in der Beziehung zwischen Musik und Rezipient liegt, ist die Frage der Art der Rezeption von entscheidender Bedeutung. Durch die Art der Rezeption kann Kunstmusik zur Unterhaltungsmusik umfunktioniert werden. Diese Tatsache weist bereits auf die andersartige Voraussetzung hin, unter der Unterhaltungsmusik betrachtet werden muß. Unterhaltungsmusik ist im weitesten Sinn keine absolut zu umreißende Musikgattung, da sie durch ihre Abhängigkeit von der Rezeption die Grenzen einer bestimmten Gattung weit überschreitet.

Der Komponist, der … (siehe wie folgt)

[Anm. JR: in dem Buch u.a. „Großmütterchen“]

Quelle Irmgard Keldany-Mohr: „Unterhaltungsmusik“ als soziokulturelles Phänomen des 19. Jahrhundert / Untersuchung über den Einfluß der musikalischen Öffentlichkeit auf die Herausbildung eines neuen Musiktyps / Gustav Bosse Verlag Regensburg 1977

Eine anders differenzierte Stufe der Betrachtung findet man bei Simone Mahrenholz: Ihre

These lautet, dass ein gemeinsamer Nenner für alle eingesetzten bzw.
existierenden Musikformen in der Funktion einer (anvisierten) Transformation der
Wahrnehmung liegt. Diese impliziert eine Bewusstseinsveränderung. Alle im Text
bisher angesprochenen Musikformen haben diesen Effekt (oder dieses Ziel) – mit
unterschiedlicher Intensität und Stoßrichtung. Wie ist Wahrnehmungsveränderung
durch Musik konkret möglich? Worin ist sie situiert?
Als Material zu einer Antwort zwei Beispiele. Erster Fall: Jeder kennt Momente,
in denen man den Blick auf vorbeiziehende Landschaften, beim Autofahren (oder
Bahnfahren) absolut nicht ohne begleitendes Hören von Musik zu erleben bereit
ist. Es ist so, als ob die Realität vor dem Auto- oder Bahnfenster erst perzeptiv und
emotiv aufgeschlossen wird, erst ihre Stellung im Ganzen erhält durch die Kom-
bination mit Musik. (Einen ähnlichen Effekt macht sich Filmmusik zunutze.) Eine
plötzliche Abwesenheit der Musik demgegenüber (etwa die Aufforderung, das Au-
toradio abzustellen oder ein Stromausfall im Smartphone) kommt nahe heran an
Entzug, Krise, Schwund von Sinn und Verlust von Welt überhaupt. Was geschieht
hier? Welche zusätzliche Information zum Gesehenen liefert Musik?
Zweiter Fall: Wir alle kennen ebenfalls den (seltenen) Effekt einer Ekstase, ei-
nes extremen Glücksgefühls, oft eines Transzendierens von Raum und Zeit sowie
der Unterscheidung von Welt- und Selbst, ausgelöst durch eine ›passende‹ Musik
im ›richtigen‹ Kontext. Beide genannten Phänomene gehen oft einher mit dem
Gefühl, einer tieferen, ›realeren‹ Realität teilhaftig zu werden – ohne selbstver-
ständlich Gründe dafür angeben zu können. Es ist eine Art Anschauung, Intuition, Evidenz. Die naheliegende Frage lautet: Woher kommt dieser Eindruck des [Rezipienten,] in Begleitung von Musik anders und anderes wahrzunehmen: mehr an Realität als
sonst, eine Art Tiefendimension und Einbindung in eine Gesamtheit, verbunden
mit einer Erkenntnis, die sich verbal nicht mitteilen lässt? (Wohlgemerkt, dies ist
nicht Musik-Mystizismus, sondern die Beschreibung einer letztlich verbreiteten,
wenngleich individuell herausgehobenen Weise des Musikerfahrens.) Obwohl die
meisten Musikerfahrungen in ihrer Intensität viel weniger ausgeprägt sind und oft
ganz anders ausfallen, stellt sich die Frage: Woher rührt es? Wie ist das Beschrie-
bene möglich?
Eine Antwort hierauf liegt in der musikalischen Materialität.

Quelle Simone Mahrenholz: Musik und Begriff How to do things with music / in: Gibt es Musik? Herausgegeben von Daniel Martin Feige und Christian Grüny /Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Heft 66/2 2021 / Felix Meiner Verlag, Hamburg 2022

In meinem Zusammenhang soll der Hinweis auf die „Materialität“  und die „Wahrnehmungsveränderung“ eine erhellende Rolle spielen.

Im Gegensatz dazu ist für die „Kunstmusik“ festzuhalten, was Daniel Martin Feige mit Blick auf Adorno formuliert, und ich zitiere in aller Vorsicht: man kann daraus keine argumentative Waffe schmieden. Man muss doch den ganzen Essay lesen und vielleicht aufs neue oder immer wieder auch – den Musikphilosophen Theodor W. Adorno:

Inhalt in einem herkömmlichen Sinne haben Kunstwerke schlichtweg nicht. Das heißt nun keineswegs, dass im Fall von Romanen etwa egal wäre, was sie erzählen und im Fall von darstellenden Gemälden das, was sie zeigen. Aber es reicht für Adorno nicht zu sagen, dass repräsentationale Kunstwerke sich nicht in dem erschöpfen, was sie darstellen. Wer verstanden hat, was ein Gemälde darstellt, hat es als Gemälde noch nicht erschöpfend verstanden. Denn für Adorno ist der eigentliche Inhalt eines Kunstwerks die Spannung, die zwischen einer Form und der gesellschaftlichen Realität besteht. Just deshalb gerät das Kraftfeld des Werks durch gesellschaftliche Umbrüche in Bewegung; es kann sogar verblassen, sodass das Werk zu einem bloß noch historischen Gegenstand herabzusinken droht. Mit anderen Worten: Trotz seiner autonomen Konstitution dreht sich das Werk nicht um sich selbt; Adorno denkt Heteronomie und Autonomie des Werks zusammen. Der heteronome Zug, der nicht zuletzt darin besteht, dass ein Werk überhaupt nur ein Werk sein kann im Kontext einer gesellschaftlichen Praxis, die es ein Werk sein lässt, zeigt an, dass das Werk nicht außerhalb der Gesellschaft steht.

Und jetzt habe ich den Satz noch nicht zitiert, der ein vorschnelles, selbstzufriedenes  Kopfnicken verhindert, – da steht über das Werk und die Gesellschaft noch der Satz:

Es ist von ihrer Falschheit affiziert.

Quelle Daniel Martin Feige: Kunstmusik als Modell dialektischen Denkens / Anmerkungen zu einem Satz von Adorno / In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie / herausgegeben von Andreas Hetzel, Eva Schürmann und Harald Schwaetzer / Essay herausgegeben von Michael Hampe / Verlag frommann-holzboog AZP 47.2 (2002) [Zitat Seite 252]

Ich gebe mich damit einstweilen zufrieden und hüte mich, davon extensiv Gebrauch zu machen, ehe ich es nicht besser verstanden habe als heute. Anlässlich der Erwähnung „repräsentationale(r) Kunstwerke“ bin ich kurz zu Danto ausgewichen und fand die hier verlinkte optische Darstellung seiner Ästhetik sehr unterhaltsam. Und mit diesem Wort kehre ich später wohlgelaunt zurück zu den frühen Erlebnissen mit Schlagern oder Liedern, die der Unterhaltungsmusik zuzurechen sind. Wie gern würde ich die Liste fortführen, bis auch Namen wie Mercedes Sosa und Fernando Farinha darin Platz finden dürften…

Ein neues Buch!

Am Anfang war das Tier (erzählt mit den mir damals eigenen Worten) :

Text:JR1949 Foto:JR2021

Mit 12 Jahren etwa versuchte ich, mir aus ungeeigneten Büchern eine eigene Form von Musikgeschichte zusammenzustellen, musikalische Wissensgebiete, die womöglich auf mich warteten. Römische, griechische, indische, chinesische Informationen. Ob ich diese mit irgendwelchen klanglichen Vorstellungen verband, – keine Ahnung. Schallplatten dazu gab es natürlich noch nicht. Ob es meine eigenen Worte waren? Ich habe Zweifel.

1953Am Ende eines kleinen Tagebuches ließ ich Platz für politische Ereignisse und für eigene musikalische Einfälle, die zu bedeutenden Kompositionen anwachsen sollten.

„Mit eigenen Worten“ …

… oder mit den mimetisch nachempfundenen Anderer, mit einem Bild oder dem Verlauf einer intensiv erfahrenen Musik, welcher auch immer. Wenn ich nur einen Begriff davon habe. Oder zu bekommen begehre. Wie kam ich heute darauf?

Diese letzten Worte haben mich Überwindung gekostet. Jedes Wort. Insbesondere das letzte, bei dem ich an Hegel und den Bedeutungsumfang seines Begriffs der Begierde gedacht habe.

Bei den „eigenen Worten“ stand mir ein wohlmeinender Lehrer vor Augen, vielleicht auch schon „Fräulein Brenner“ von der Bielefelder Melanchthon-Volksschule, 4. Klasse, ja, die ganze Schulzeit, als ich es allerdings immer schwerer fand, eigene Worte in die Welt zu setzen, statt solche von Nietzsche – oder später: Adorno – nachzubeten. Immer standen Bücher im Vordergrund, die ich natürlich nicht selbst geschrieben hatte. Mein Medium, dachte ich, ist das Radio, das gesprochene Wort, umgeben von der ganzen Vielfalt der Musik. Wobei mir in den letzten Jahren auch der naiv emphatische Hinweis auf die „Vielfalt“ suspekt wurde. Je mehr man sich in einzelne Werke oder tönende Aufführungen versenkt, um so umfassender erscheint jede(s) einzelne, um so schwerer auch das Weitergehen zum nächsten, ganz anderen.

Auch diesmal ist es ein Buch, das mir mal wieder unumgänglich erschien, zumal es gegen Ende genau das in Worte fasst, was ich gern mal mit eigenen Worten gesagt hätte:

Das Medium der Philosophie ist der Begriff, und einen philosophischen Gedanken zu verstehen, heißt, ihn in eigenen Worten wiedergeben zu können, was zugleich bedeutet, ihn in seinen Konsequenzen, weitergehenden Interferenzen und so fort durchdenken zu können. (Seite 289)

Ein Kunstwerk zu verstehen, heißt nicht, es zu übersetzen und zu paraphrasieren, sondern seinen Konturen interpretativ nachzufahren; Adorno hat hierfür den Begriff des mimetischen Verstehens geprägt. Wer Kunst erfährt, ist ganz bei sich und doch bei etwas anderem als sich, indem er oder sie die Konstitutionen des hier geformten Materials und der hier materialisierten Form nach- und mitvollzieht. (Seite 290)

Quelle:

  Daniel Martin Feige Werke / ? Weiterlesen?

Inhalte Ausblicke

Ich lese nachts um drei und lese morgens ab acht, und um zehn Uhr müht sich der Briefträger, die gewichtige Post in den schmalen Schlitz des Briefkastens zu entlassen, – da ist das neue Buch, auf das ich wartete. 360 Seiten. Nicht schwer. Und ab sofort muss alles andere warten.

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Es handelt sich um die Dissertation der Autorin, gedruckt 1997. Verlag J.B.Metzler. Einziger (verkaufsbehindernder) Nachteil: der Untertitel, – der Name Nelson Goodman wirkt (auf mich) heute nur einschränkend, es sollte einfach heißen: eine Studie zur Symboltheorie. Mein erster (und sich beim Lesen verstärkender ) Eindruck: dieses Buch, wie zuvor der rezente Aufsatz (siehe hier), betrifft ja mich persönlich! So scheint es beim ersten Aufschlagen und zwar bei dem einzigen großen Notenbeispiel, zwei in der Mitte des Buches ausgebreitete Seiten, ein Ausschnitt aus Schuberts Klaviersonate c-moll, D 958, Takt 117 bis 159, und es geht dort um Zeitlichkeitsstrukturen. In Wahrheit betrifft das Buch natürlich nicht nur mich persönlich in aller Zufälligkeit, ebensowenig wie die Musik und die Erkenntnis, um die sich alles dreht.

Ich darf übertreiben, weil ich begeistert bin… Und für Leute, denen der Lese-Zugang fehlt, verlinke ich an dieser Stelle die Klaviersonate von Schubert. Um dergleichen Symbolsprache also geht es, eben nur mit philosophischen Worten, mit einer großangelegten Studie zur Symboltheorie.

Ab (Anfang natürlich!) 1:09 bis 4:12 / Mahrenholz Seite 142-143

Wie schade, dass ich so spät auf dieses Buch komme und z.B. nicht schon viel eher den Bezug auf ein Buch reflektiert hätte, das ich seit 1991 nicht mehr vergaß, aber wegen leichten Verdachts auf Mystizismus nicht immer wieder beherzigte: George Steiner „Von realer Gegenwart“.  Wie gern wäre ich Simone Mahrenholz gefolgt, die 1997 gerade im Zusammenhang mit Schubert bei Steiner anknüpft.

Mahrenholz‘ Verweis auf Steiner

gerade dort mein neues Déjà-vu-Erlebnis

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Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, betone ich meist in der Frühzeit, wie sich das Hauptinteresse von der Biologie zur Musik, von den Tieren zu den Komponisten verlagerte, leicht ablesbar an den kindlichen Geschichten, in denen gar keine Menschen vorkommen, nur Käfer, Grille, Regenwurm, Reh, Hirsch, Wildschwein („Eber oder Bache“) usw. Im Grund lief aber dieser ganze Themenkreis auf andern Ebenen lebenslang parallel: Am Ende standen dann die Bücher z.B. von Richard Dawkins, aber nicht „das egoistische Gen“, sondern die unglaubliche Auffächerung der Arten in den „Geschichten vom Ursprung des Lebens„. Die Komponisten dagegen liefen noch eine Weile parallel mit Weltreisenden wie Marco Polo, James Cook, Alexander Humboldt, – und Albert Schweitzer und Nietzsche. Bis in die Gegenwart zu Harald Lesch oder Dirk Steffen. Daher berührt mich der erste Teil des Buches von Daniel Martin Feige, als werde dort versehentlich – auch im Widerspruch – „meine Sache“ betrieben (die Relativierung der neodarwinistischen Weltbilder, bzw. der Soziobiologie u.ä.) im Namen der Philosophie und einer neuen Anthropologie. Daher die exemplarische Herausstellung der folgenden beiden Zitate aus dem Buch über „Die Natur des Menschen“:

Mit naturwissenschaftlichen Mitteln lässt sich nicht alles in der Welt in den Griff bekommen, weil die menschliche Welt wesentlich eine Welt des Sinns ist: eine Welt, in der sich Menschen etwas als etwas zeigt und in der sie im Lichte ihrer Orientierungen darum streiten können, was sie sind und was es heißt, die Welt angemessen zu sehen. Menschen sind Lebewesen, die der Welt gegenüber in anderer Weise geöffnet sind als Tiere, die sich nicht in einer Welt, sondern einer Umwelt bewegen. Heißt, sich in einer Umwelt zu bewegen, differentiell und zuverlässig auf Aspekte derselben zu reagieren, so bedeutet, sich in einer Welt zu bewegen, sich selbstbewusst auf deren Aspekte im Denken und Handeln zu beziehen. Diese Reflexivität als konstitutiver Aspekt des Denkens und Handelns geht den Tieren ab. Ein selbstbewusstes Verhältnis zur Welt ist dahingehend ein rationales Weltverhältnis, dass es potentiell kritisierbar ist und auf die Frage nach dem »Warum« einer Überzeugung oder Handlung mit Begründungen antworten kann. (Seite 43f)

Die Kunst ist deshalb relevant für die Grundfrage der Anthropologie, weil in ihr meines Erachtens besonders und in besonderer Weise deutlich wird, was wir sind: In ihr scheint eine andere Natur unserer Selbst derart auf, dass in ihr ein Anderes gegenüber einer herkömmlich verstandenen Natur des Menschen aufscheint. (Seite 14)

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Noch ein privates Relikt aus der Zeit des Übergangs zwischen zwei Kindheitsphasen: da musste doch noch etwas sein außerhalb der Welt der Schülerkonzerte für Violine von Seitz und Rieding…

(folgt)

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Nur noch etwas zum Vormerken: MICHEL LEIRIS: Phantom Afrika / Rezension F.A.Z lesen ! HIER