KAMASUTRA als Kopf-Problem

INDIEN-Filme auf arte – noch bis 14. Juli !!!

Man sollte diese Filme nicht versäumen, wenn man sich für die heutige Situation in der indischen Gesellschaft interessiert. Es reicht nicht, irgendwie davon gehört zu haben, dass einzelne Vergewaltigungen spektakulär diskutiert wurden und dass die Lage der Frauen in dieser höchst differenzierten Kultur, der angeblich größten Demokratie der Welt, offenbar desolat ist. Nach einem früheren Beitrag habe ich mir die Notwendigkeit einer indischen Aufklärung, eine Aufklärung in und über Indien – anlässlich des BBC-Films India’s Daughter – zum Thema gemacht, nämlich hier. Es ist unverändert akut geblieben und geht nicht nur Indien an, zumal wenn man der festen Überzeugung ist, dass gerade die indische Kultur (nicht nur die klassische indische Musik oder die neue Literatur der Inder im Ausland) eine große Bedeutung für den Rest der Welt hat. Sie ist paradigmatisch.

Der Film „Sex: Tabu im Lande des Kamasutra“ war gestern abend auf ARTE zu sehen und kann jetzt noch bis nächsten Dienstag übers Internet abgerufen werden. Hier folgt ein Pressetext, in dem das Wort „Tollereien“ befremdet, die französische Version sagt es eindeutig: Récemment, un des plus célèbres éditorialistes indien débutait son article ainsi : „Comment nous avons tué le Kamasoutra“. Effectivement, le pays qui, le premier, a répertorié nos positions sexuelles, se trouve aujourd’hui en panne d’imagination. Der Originaltitel des Filmes lautet: „Sexe, mensonges et frustrations“. Ein Film von David Muntaner und Damien Pasinetti.

ZITAT (Pressetext arte)

Vor kurzem eröffnete einer der berühmtesten indischen Journalisten einen Artikel mit dem Satz: „Wie wir das Kamasutra zu Grabe trugen.“ Es stimmt: Ausgerechnet dem Land, das seine Tollereien als erstes zu Papier brachte, mangelt es heute beträchtlich an Fantasie. Vieles, was mit Sex zu tun hat, ist inzwischen sogar tabu. Während Indien wächst, sich entwickelt und modernisiert, bleibt es auf diesem Gebiet erschreckend altmodisch. Und die konservative Welt, in der die jungen Inder aufwachsen, kontrastiert lebhaft mit den Bildern, die ihnen über Internet, Kino und Werbeindustrie vermittelt werden. Besonders schlimm steht es um das Frauenbild: Westliche Frauen gelten seit langem als freizügig und frivol, doch auch die indische Frau ist in neueren Bollywoodstreifen und indischen Medien meist kaum mehr als ein reines Sexobjekt.

Die Diskrepanz zwischen einer fast mittelalterlich anmutenden Realität und den Frauenfantasien der Medien sorgt bei indischen Männern für große Frustration. In der Dokumentation beleuchten Ärzte, Journalisten und Soziologen sowie Vertreter der indischen Sexbranche die schwierige Beziehung der indischen Männer zu den Frauen.

Hinweis im Vorfeld: Dieser Film ist nicht für Jugendliche unter 18 geeignet.

http://www.arte.tv/guide/de/051049-000/sex-tabu-im-land-des-kamasutra#arte-header HIER 

Was gab es bisher? Einer der neuen Aufklärer Indiens schien Sudhir Kakar mit Frau Katharina zu sein; dies ist die erste Hälfte der Inhaltsangabe des gemeinsamen Buches, das vor fast 10 Jahren erschien:

Kakar Inhalt

Sudhir & Katharina Kakar: DIE INDER Porträt einer Gesellschaft / Verlag C.H.Beck München 2006

Zu Ergänzung lese man das Interview mit Katharina Kakar im Deutschlandfunk hier.

Schon vor 30 oder 40  Jahren gab es einzelne Hinweise auf den problematischen und widersprüchlichen Hintergrund, z.B. in  dem schönen Indien-Buch von Gisela Bonn, – aber es ist auch typisch, dass der eigentlich alarmierende Satz doch spirituell so eingehüllt ist, dass man ihn kaum zur Kenntnis nahm:

Gisela Bonn Khajuraho

Eine Seite vorher ist von der tantrischen Lehre die Rede: demnach wohne das höchste Wissen, die erhabenste Weisheit – Pradschna – im weiblichen Organ, das männliche Prinzip aber sitze im Kopf, im Verstand. Erst beides vereint ergebe das Ganze, die Harmonie. Merkwürdig, wie es nun weitergeht:

Die Yab-Yum-Vorstellung beruht auf dem Glauben, die Frau sei das aktive Prinzip, die Lebenskraft, die sie dem schlafenden männlichen Prinzip, durch ihre Umarmung einflößt. Das Yab-Yum, das Bild der Umarmung, kann man auch verstehen, wenn man den Mann als Prinzip des Weges sieht, auf dem das weibliche als ein transzendentes Ziel einherzieht.

(Fortsetzung siehe oben im abgebildeten Text, und da steht seltsam erratisch ein Satz, als sei die Humanisierung des Geschlechterverhälnisses im Prinzip schon verwirklicht: )

Das Yab-Yum (…) humanisiert eine Religion, die für ihre Verachtung der Frau, für die vollkommene Negierung der Welt bekannt war.

Quelle  Gisela Bonn / Giselher Wirsing: INDIEN und der Subkontinent / Reiseführer / Horst Erdmann Verlag Tübingen Basel 1973 ISBN 3 7711 0160 3 (Seite 63)

Man erinnere sich an diesen Satz, wenn man in dem oben annoncierten Film die indischen „Touristen“ sieht, die ihre gewagten Tempel-Skulpturen fotografieren, als kämen sie aus einer anderen Welt. Ihre eigene (moralische) Welt aber ist die des britischen Puritanismus geblieben, die ihnen als koloniales Erbe hinterlassen wurde. Die Konfrontation mit der westlichen Welt ist zweifach: zeitgenössisch und anachronistisch.

Weitere Filme zum Thema Indien auf ARTE:

Indien – Gewalt im Lande Gandhis

Ein Land voller Pracht. Ein Land voller Ungerechtigkeit. Weltweit das unmenschlichste aller Systeme: Kasten, wie im Mittelalter. Ein Land der Moderne: Atommacht, Global Player, Hightec Jongleur, Raumfahrtprogramm zum Mars. „Den Mars zu erreichen ist eine Sache, 500 Millionen Menschen ohne Toiletten eine andere. Außer man schießt diese 500 Millionen hoch zum Mars.“ (Villoo Patell, Managerin)

ab 9:00 über „Dorfgerichte“ (die jenseits der offiziellen Rechtsordnung wirken)

bei 15:25 der Satz: „Die Kaste  ist das Zentrum der indischen Demokratie, zusammengehalten von viel Gewalt.“ (Arundhati Roy)

 HIER http://www.arte.tv/guide/de/050500-000/indien-gewalt-im-lande-gandhis / Ein Film von Lourdes Picareta (2015) / Länge 53 Minuten

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INDIEN – Land mit Zukunft (zugleich ein fabelhafter Streifzug durch die Geschichte seit 1947)

HIER http://www.arte.tv/guide/de/045935-000/indien-land-mit-zukunft / Ein Film von Laurent Jaoui (2012) / Länge 95 Minuten

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Ich rufe mir einige Sätze in Erinnerung, die ich mir Anfang der 90er Jahre aus einem fesselnden Indien-Roman des FAZ-Korrespondenten Thomas Ross notiert habe; da heißt es über den Protagonisten:

In Indien sah er eine Metapher unserer Welt, das war es, was ihn vor allem hinzog. „Indien ist noch Magma, noch nicht erkaltet und erstarrt wie Europa“, sagte er, „Indien ist ein brodelnder, blasenwerfender Kessel, und niemand weiß, ob er eines Tages überkochen wird. Steht die Menschheit heute nicht vor der Notwendigkeit, auf einem geschrumpften Erdball miteinander auszukommen? Und nirgendwo auf Erden haben verschiedene Religionen, Sprachgemeinschaften, Rassen und Kulturen in einem Land solcher Größenordnung und durch so lange Zeitläufe hindurch miteinander zu leben versucht wie in Indien. Indien ist ein einzigartiges Experiment der Menschheit“, sagte er, „und wenn dieses Experiment des Miteinanderlebens scheitert, dann scheitert die Menschheit.“

Quelle Thomas Ross: Der Tod des heiligen Baumes. Bericht aus dem innersten Indien. Carl Hanser Verlag München Wien 1991 / ISBN 3-446-16186-4

Ich bin mir nicht sicher, was ich heute – fast 25 Jahre danach – und einen Tag nach dem Resümee dieser Indien-Filme über das einzigartige Experiment der Menschheit denken soll. Hätte ich im Augenblick die Ruhe, würde ich eine der großen Raga-Interpretationen von Kala Ramnath hören, vielleicht den Frühlings-Raga, den sie in Bielefeld mit Abhijit Banerjee gespielt hat…

Und alles wäre gut.