Machtgefälle im Alltag
Wir hatten ein Gespräch über Schule und Drogen geführt, beim Flammkuchen im Biergarten, hinter dem Damm, auf dem ein Fuß- und Fahrradweg mit Blick auf den Neckar verläuft. Rückweg. Es wird etwas eng, wenn man dort oben zu zweit mit Hund entlangspaziert, die Fußgänger müssen fortwährend zurück- oder vorausschauen, um den Fahrrädern auszuweichen; und man muss ganz am Rande stehenbleiben, wenn man den Blick in den trägen Fluss senken möchte.
In einiger Entfernung kommt uns eine buntscheckige Dreiergruppe entgegen, Punker, einer mit unglaublich dünnen Beinen trägt einen schlaffen Rucksack, in der Mitte eine rothaarige Frau, -hat sie eine allzugroße Spange in der Lippe? Sie sehen alle drei morbide aus, vielleicht drogenkrank, ausgerechnet. Als eine Fahrradklingel schrillt, drängen sie sich zur Seite und stehen etwas enger, der Fahrradfahrer aber schlägt, als sei er in Sturzgefahr, mit der rechten Hand gegen den Rucksack, er forciert, berührt möglicherweise auch den Rücken des jungen Mannes mit dem Lenker, man hört den dumpfen Kontakt, und schon ist der Kraftprotz vorbei. Die Fassungslosen schreien hinterher und schütteln die Fäustchen, Frauenstimme: „du blödes Arsch!“ oder so ähnlich.
Wir sind schon ein Stück hinter den Beteiligten, beim Zurückschauen sehe ich den Fahrradfahrer in etwa 50 m Entfernung, er hat sein Rad quer über die schmale Straße geworfen, ist bereits zu Fuß in unserer Richtung unterwegs, drohend aufgerichtet schreit er: „Hat da jemand ein Problem!!??“
Will er die drei nur einschüchtern? Ich weiß nicht, wie sie reagieren, beim nächsten Zurückschauen hat er jedenfalls sein Vorhaben aufgegeben und sich wieder dem Fahrrad zugewandt, vielleicht muss er die Fahrbahn für andere freimachen, ich habe es nicht mitbekommen.
Kurz danach sind wir an dem schrägen Abgang, in Richtung Kurviertel Bad Cannstatt.
Ganz allmählich schwenkt meine Einschätzung der Szene um: natürlich bedeuteten nicht die Punker eine Gefahr (sie irritierten nur, so lange ich ihnen entgegensah), sondern dieser Radfahrer; er gehörte zu denen, die mit dem Wort „Kuckstu!?“ schon übergangslos zuschlagen.
Eine Szene zwischen Machtanmaßung und scheinbar rechtsfreiem Raum. Mich beunruhigte die Vorstellung, dass ich eine bestimmte, eine andere Rolle hätte übernehmen müssen.
Zum Beispiel hätte ich, als der Radfahrer sich, offenbar gewaltbereit, anschickte zurückzukommen, ebenfalls die paar Schritte zurückgehen und mich neben die Punker stellen können: die bloße Anwesenheit einer vierten Person, die sich durch Kleidung und Alter vollkommen unterschied, hätte der Gruppe ein ganz anderes Image gegeben: einen imaginären (bürgerlichen) Machtzuwachs.
Sobald ich es so sehe, muss ich wieder an das Reclam-Büchlein denken, das ich für etwaige Wartezeiten in der Jackentasche trage: Ich habe es kürzlich wieder konsultiert, als ich die Indienfilme gesehen habe: rechtsfreie Räume in einer Demokratie?
ZITAT
Die Macht wird bald mit Freiheit, bald mit dem Zwang in Verbindung gebracht. Für die einen beruht die Macht auf dem gemeinsamen Handeln. Für die anderen steht sie mit dem Kampf in Beziehung. Die einen grenzen die Macht von der Gewalt scharf ab. Für die anderen ist die Gewalt nichts anderes als eine intensivierte Form der Macht. Die Macht wird bald mit dem Recht, bald mit der Willkür assoziiert.
Dies ist für Byung-Chul Han die Ausgangslage im Vorwort, – eine theoretische Konfusion. Dann beginnt er seine hochinteressanten Ausführungen mit der ersten Definition, wenn der eine (Ego) gegen den Anderen (Alter) steht:
Unter Macht versteht man gewöhnlich die folgende Kausalrelation: Die Macht von Ego ist die Ursache, die bei Alter gegen dessen Willen ein bestimmtes Verhalten bewirkt. Sie befähigt Ego dazu, seine Entscheidungen, ohne auf Alter Rücksicht nehmen zu müssen, durchzusetzen. So beschränkt Egos Macht Alters Freiheit. Alter erleidet den Willen Egos als etwas ihm Fremdes. Diese gewöhnliche Vorstellung von der Macht wird deren Komplexität nicht gerecht. Das Geschehen der Macht erschöpft sich nicht in dem Versuch, Widerstand zu brechen oder Gehorsam zu erzwingen. Die Macht muß nicht die Form eines Zwanges annehmen. Daß sich überhaupt ein gegenläufiger Wille bildet und dem Machthaber entgegenschlägt, zeugt gerade von der der Schwäche seiner Macht. Je mächtiger die Macht ist, desto stiller wirkt sie. Wo sie eigens auf sich hinweisen muß, ist sie bereits geschwächt.
Quelle Byung-Chul Han: Was ist Macht? Reclam Stuttgart 2005 (Seite 7 und 9)
In etwas einfacherer Form finde ich diesen definitorischen Ansatz in der Formel von Mallory, Segal-Horn & Lovitt: demnach sei Macht
„die Fähigkeit von A, B dazu zu bringen etwas zu tun, was er ansonsten nicht getan hätte. – ] the ability of A to get B to do something they would otherwise not have done.“
Natürlich löst sich dieser Gedankengang sofort von meinem simplen Fall, der mit Ohnmacht und angemaßter Macht zu tun hat. Im Fall einer Eskalation steht sofort die Möglichkeit bereit, die Polizei zu Hilfe zu rufen, also eine Macht über allen Beteiligten wirkungsvoll ins Spiel einzuführen.
Interessant scheint mir, dem Unterschied zwischen Macht(ausübung) und Gewalt nachzugehen. Es gibt eine Theorie des Dreiecks der Gewalt mit den Faktoren Täter, Opfer und Zeuge, deren Definition von Gewalt naturgemäß – nämlich abhängig von der jeweiligen Perspektive – unterschiedlich ausfällt. Siehe in dem Artikel „Ethnologische Theorien zur Gewalt“ (hier): David Riches. Auch Veena Das, die „im Sinne von Franco Basaglias Konzept der peace time crimes (…) die Gewalt nicht als Unterbrechung des Normalzustandes, sondern vielmehr als Implikation des Gewöhnlichen“ ansieht.
Siehe auch im Basaglia-Artikel den Abschnitt „Geisteskrankheit ohne Geist“, womit sich eine aufschlussreiche Verbindung zu Wölfli/Aperghis ergibt.